Nur Diplomatie kann den Nahen Osten befrieden
Nicht nur am Hindukusch, auch im Nahen Osten werde europäische Sicherheit verhandelt, warnt der Politikberater Jörg Himmelreich. Für diese brauche es mehr, als militärisch zu intervenieren: nämlich diplomatisch einen Friedensprozess in Gang zu setzen.
Es gibt kaum ein prägnanteres Bild der deutschen Weltsicht als Spitzwegs Gemälde "Der arme Poet" von 1839. Der Dichter liegt auch tagsüber mit dem Schlafmantel im Bett eines Dachzimmers mit einem nur kleinen Fenster. Ganz vertieft darin zu schreiben, gibt er sich völlig entfernt von der Außenwelt.
Diese Sicht des Biedermeiers ist auch heute noch verblüffend aktuell. Was interessiert Außenpolitik, was kümmern ferne Regionen, was die Kriege im Irak oder in Syrien? Man sollte meinen, die Deutschen wüssten diese Frage eigentlich zu beantworten.
Das gut laufende Auslandgeschäft bindet ihren wirtschaftlichen Erfolg an das Wohl ferner Märkte. Kursverluste im weltweiten Wertpapierhandel wirken sich hierzulande auf dem Konto aus. Und das Internet führt nicht nur vor, wie schnelle Information Politik macht, sondern auch welchen Einfluss Suchmaschinen und Geheimdienste jederzeit auf die globale Netzgemeinde haben können.
Die Krisen in Nahost nähren den IS
Seit es Terroranschläge gibt, weiß man, wie lebensgefährlich die Weltferne des Biedermeiers geworden ist. Die Pariser Attentate steuerte der IS von Syrien aus. Umgekehrt ist die islamistische Kampfgruppe erst durch die Krisenherde des Nahen und Mittleren Ostens groß und erfolgreich geworden.
Mithin wird deutsche, wird europäische Sicherheit unter anderem in der arabisch-iranischen Region verhandelt – und das längst nicht mehr so vage wie noch am Hindukusch.
Militärinterventionen des Westens alleine werden allerdings nicht helfen. Sie mögen kurzfristig und temporär erforderlich sein, um den "IS" zu bekämpfen oder die lokale Bevölkerung im Kriegsgeschehen zu schützen. Eine Dauerlösung bringen sie nicht. Und den Geist eines anti-westlichen und gewalttätigen Kalifats vertreiben sie auch nicht.
Unterschiedlichste geopolitische, wirtschaftliche und religiöse Interessen von Staaten und Gruppen innerhalb und außerhalb der Region haben aus dem Nahen Osten ein Pulverfass gemacht. Das droht nunmehr zu explodieren. Aus Eigennutz schüren Saudi-Arabien, Iran, Türkei und Russland einen Konflikt, den sie um der Stabilität willen eigentlich fürchten müssten. Doch der Drang, die eigene Einflusssphäre auszudehnen, ist größer.
USA und Europa schauen eigentlich nur zu. Sie sind bereit, ihre Luftwaffe zu schicken, nicht aber Bodentruppen einzusetzen. In Afghanistan und im Irak haben sie gelernt, dass selbst Großmächte zu schwach sind, auf fremdem Territorium eine alte Ordnung zu stützen oder gar eine neue einzuführen.
Europa hat die erfolgreiche Helsinki-Akte zu bieten
Derzeit drohen Staaten zu zerfallen, deren Grenzen ihnen 1916 von den Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien aufgezwungen wurden. Der Anspruch des IS, stattdessen ein grenzüberschreitendes Kalifat zu schaffen, ist ja nicht nur großspurig, sondern vor allem symptomatisch für den Kampf gegen diese alte Ordnung des Westens.
Die regionalen Akteure werden diesmal am Ende selbst eine Friedenslösung finden müssen. Und das sollte das Ziel des Westens sein. Er kann dafür als erprobten Rahmen die europäische Akte von Helsinki aus dem Jahr 1975 anbieten. Sie schaffte im Norden der Erde zu Zeiten des Kalten Krieges eine Zusammenarbeit, die erst utopisch anmutete, sich dann aber über Jahrzehnte entwickelte.
Es geht um ein diplomatisches Langzeitprojekt. Denn sobald werden die Feindseligkeiten im Nahen Osten nicht befriedet werden – weder an der Front noch am Verhandlungstisch. Gerade asymmetrische Kriege lehren, dass sie immer wieder aufleben, weil sie nicht durch militärische Siege oder Niederlagen entschieden werden.
Europa, seine Bürger und seine Regierungen müssen sich die Wahrheit eingestehen – über das, was es ihnen – und nicht nur den Akteuren in Syrien und dem Irak – abverlangt, einen solchen Friedensprozess konstruktiv und auf lange Dauer zu begleiten. Mit der Weltsicht des Biedermeier dürfte dies jedenfalls nicht gelingen.
Jörg Himmelreich schreibt als Autor für die "Neue Zürcher Zeitung" und forscht zu kulturgeschichtlichen und außenpolitischen Themen Russlands und Asiens. Er war Mitglied des Planungsstabs des Auswärtigen Amts in Berlin sowie Gastdozent und politischer Berater in Washington, Moskau, und London.