Irak

Verführt und zu allem bereit

Junge Muslime aus Europa, die im Irak oder in Syrien in den Krieg ziehen, kommen nicht nur aus Deutschland und Großbritannien. Belgien, die Niederlande und Dänemark sind noch stärker von dem Problem betroffen, so Terrorismusforscher Peter Neumann.
Dieter Kassel: Ungefähr 300 Muslime aus Deutschland sollen schon in den Krieg gezogen sein nach Syrien und in den Irak. Sicherheitsbehörden in London gehen davon aus, dass sogar schon 50 britische Muslime an der Seite von ISIS und anderen Terrororganisationen kämpfen. Reagiert hat darauf jetzt die muslimische Community in Großbritannien, ein Teil davon zumindest: 100 britische Imame haben dazu aufgerufen, zu Hause zu bleiben und nicht in den Krieg zu ziehen.
Am Telefon begrüße ich jetzt den Terrorismusforscher Peter Neumann. Er leitet das International Centre for the Study of Radicalisation am Londoner King's College. Schönen guten Morgen, Herr Neumann!
Peter Neumann: Guten Morgen!
Kassel: Hat ein solcher Brief, der Brief der Imame, nur symbolischen Charakter, oder glauben Sie, dass ein solcher Brief wirklich junge Menschen davon abbringen kann, in den vermeintlich Heiligen Krieg zu ziehen?
Neumann: Der Brief an sich hat natürlich keine direkten Auswirkungen, wenn die jungen Menschen, die daran interessiert sind, nach Syrien zu gehen, werden diesen älteren aus der Community nicht unbedingt zuhören, aber es ist schon wichtig, dass auch die muslimische Gemeinschaft sich dieses Themas annimmt und dass Eltern und Ältere sich damit beschäftigen und sich dafür interessieren, was ihre Kinder zum Beispiel tun, was sie im Internet tun und so weiter und so fort. Deswegen ist es wichtig, dass dieser Brief gekommen ist.
Auslandskampferfahrung gar nicht so glamourös
Kassel: Im Internet, Sie haben es erwähnt, da ist ja unter anderem jetzt seit wenigen Tagen ein Video im Umlauf, das zumindest angeblich den Anführer der ISIS, Abu Bakr Bagdadi zeigt. Wenn man den nun sieht - ich persönlich habe natürlich einen anderen Eindruck, aber ist der nicht für viele junge Muslime viel charismatischer, viel beeindruckender als diese 100 Imame zusammen?
Neumann: Ja, ganz sicher. Und das ist auch der Sinn und Zweck dieses Videos. Ich glaube übrigens, es ist authentisch. Ich denke, dass das sehr aufregend ist. Das ist ein Projekt, das ist etwas, was Abenteuer verspricht, und es ist etwas, eine Sache, der man sich anschließen kann. Und deswegen ist es so wichtig, dass man auch die Botschaften rausbringt von Auslandskämpfern, die selber - die häufig zum Beispiel sagen, dass das gar nicht so toll ist.
Also wir beobachten zum Beispiel auf den sozialen Medien, auf den Facebook- und Twitter-Seiten von Auslandskämpfern - wenn ich sage, wir, dann meine ich mein Institut, wir beobachten die Botschaften von diesen Kämpfern. Und die sagen zum Beispiel häufig, dass die Syrer selber die Auslandskämpfer gar nicht so toll finden. Sie sagen zum Beispiel, dass sie häufig gegen andere sunnitische Gruppen kämpfen, also gegen andere Rebellen. Also das müsste man noch deutlicher machen, dass diese Auslandskampferfahrung gar nicht so glamourös ist, wie es eigentlich denen erscheint.
Kassel: Aber was macht denn, bevor sie dahin gehen, diesen Kampf für viele junge Menschen in Großbritannien, aber auch in Deutschland, in Frankreich anders, wohl so faszinierend, so wie Sie es gerade eben gesagt haben, klingt das nicht nach religiösen Gründen. Das klingt für mich nur nach einer Lust, endlich mal richtig Krieg spielen zu dürfen.
Mixtur aus emotionalen und politischen Motiven
Neumann: Es ist eine Kombination von zwei Dingen. Zum einen ist es tatsächlich dieses Abenteuer, dieser Kampf, diese aufregende Sache, die eher emotionale Motivation, die dazu führt. Man sieht die Fotos in den sozialen Medien, wie die Jungs zusammensitzen und kämpfen und mit Waffen zu tun haben. Also, das ist eher so eine emotionale Sache. Zum anderen ist es natürlich schon auch so, ja, religiös, politisch identitätsmotiviert. Man muss sich vor Augen halten, dass natürlich die Leute, die Radikalisierer, die auf dem Internet Videos posten, die sagen den jungen Muslimen, ja, hier findet ein Genozid statt, ein Genozid von Sunniten in Syrien, der verübt wird von den Schiiten, also von Baschar al-Assad, unterstützt von Iran und von der Hisbollah. Ob das nun richtig ist oder nicht, aber das ist die Botschaft, und die lautet: Wenn ihr zustimmt, dass das ein Genozid ist, dann müsst ihr kommen und helfen. Eure Hilfe wird jetzt gebraucht, es bringt nichts, jetzt abzuwarten. Es ist eine Mixtur aus emotionalen und politischen Motiven.
Kassel: Es hat ein Interview gegeben, gerade erst bei der BBC, im Rundfunk, da hat ein Mann, der von sich selber sagt, er kämpfe mit der Al-Nusra-Front zusammen oder habe das zumindest getan. Der hat der ziemlich verdutzten Moderatorin von BBC-"Five-Live" erzählt, er selber - ein Brite - er selber käme erst nach Großbritannien zurück, wenn die schwarze Flagge des Islam vom Buckingham Palace wehe. Ist das ein armer Irrer oder ist das etwas, wovor man wirklich Angst haben muss, dass Menschen mit dieser Einstellung zurückkehren?
Neumann: Einige Leute werden diese Ideologie so absorbiert haben, dass sie natürlich auch dem Westen feindlich gegenüber stehen, aber das wird eine Minderheit sein. Wir wissen aus der Forschung von Tausenden Auslandskämpfern - einer von neun wurde danach terroristisch tätig, und das ist natürlich eine Zahl, wo man sagt, okay, das ist eine kleine Minderheit, aber es ist trotzdem noch eine substanzielle Zahl, und wir müssen uns schon Sorgen machen, weil natürlich die Rückkehrer, die dann dem Westen feindlich gegenüberstehen, natürlich auch die Fähigkeiten haben, sich die Fähigkeiten angeeignet haben in Syrien, die sie zu besonders "guten" Terroristen werden lässt.
Das heißt, sie haben Kampfeserfahrungen, sie haben die Netzwerke, sie haben die Ausbildung, die sie zu besonders effektiven Terroristen macht.
Kassel: Aber was ist denn da - wir reden ja jetzt schon darüber, und das müssen wir ja auch, wie geht man mit diesen um - aber was ist da vorher schief gelaufen. Das sind ja offenbar Menschen, die anfällig sind für eine Propaganda, die ihnen sagt, dieses Großbritannien, dieses Deutschland, ist nicht dein Land. Du musst dieses Land zu einem anderen machen, im schlimmsten Fall zu einem Kalifat.
"Problem, das wir seit zehn oder fünfzehn Jahren diskutieren"
Neumann: Gut, das ist die gleiche Diskussion, die wir seit zehn oder fünfzehn Jahren haben über Extremisten. Klar ist es so, dass das Leute sind, die sich mit der Heimat, den Ländern, aus denen sie kommen, nicht so identifizieren, dass es sie davon abhält, diese Länder letztlich auch zu verlassen oder anzugreifen, und das ist das Problem, dass Leute besonders mit Migrationshintergrund nicht richtig integriert sind in die Gesellschaft, dass sie nicht verstehen, warum ihre Nachbarn tatsächlich Leute sind, mit denen sie etwas gemeinsam haben, warum sie sich mit dem Staat identifizieren sollen, mit der Gesellschaft. Und das ist genau dasselbe Problem, das wir seit zehn oder fünfzehn Jahren diskutieren.
Kassel: Aber kann denn das, was jetzt passiert, diese Menschen, die nach Syrien, in den Irak gehen - verändert das die Diskussion zum Beispiel in Großbritannien oder ist es eher so, dass man sagt, gut, rein rechnerisch, so wie Sie uns das vorgerechnet haben, kommen 50 als radikalisierte Terroristen zurück, das ist ein Problem der Sicherheitsbehörden. So könnte man es ja auch sehen.
Neumann: Ja. Aber es ist natürlich schon, was die Zahlen angeht, weitaus größer als diese ganzen Auslandsreisen, die vorher stattgefunden haben. Und es geht nicht nur um Großbritannien und Deutschland übrigens. Kleinere europäische Länder sind noch viel stärker betroffen. Wir glauben zum Beispiel, dass aus Belgien mindestens 500 gegangen sind. Und die Zahlen für Dänemark und die Niederlande sind ganz ähnlich. Also es gibt Länder, die sind noch stärker betroffen als die großen europäischen Länder. Und deswegen also ist es eine große Diskussion in jedem europäischen Land wegen der Zahlen an sich. Die Zahlen sind so hoch, dass sie wahrscheinlich mehr ist als bei allen vorherigen Auslandskonflikten zusammengenommen.
Kassel: Der Leiter des Londoner International Centre for the Study of Radicalisation, Peter Neumann, im Gespräch im Deutschlandradio Kultur.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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