Kopftuch-Proteste im Iran
Die Lebensverhältnisse für die 84 Millionen Iranerinnen und Iraner verschlechtern sich, sagt Iran-Analyst Adnan Tabatabai. © picture alliance / AA / Fatemeh Bahrami
Lauter Ruf nach Wandel
26:17 Minuten
Nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini könnte das strikte Kopftuchgebot verändert werden, meint Irananalyst Adnan Tabatabai. Neben der wirtschaftlichen Not geht es den Demonstranten auch um Freiheit, so die Ärztin und Journalistin Gilda Sahebi.
"In meiner Familie im Iran war es sehr gängig, dass das Kopftuch getragen wird", erzählt Adnan Tabatabai, Iran-Analyst vom Orient-Forschungsinstitut CARPO, über seine ersten Besuche im Iran als Kind Anfang der 1980er-Jahre. Viele aus der älteren Generation hätten sich auch vor der Islamischen Revolution 1979 dafür eingesetzt, dass man das Kopftuch tragen darf, weil das eine Zeit lang verboten war.
Aber seine Famlie sei auch verhältnismäßig konservativ, in anderen Familien wurde das Kopftuchgebot immer abgelehnt.
Diese unterschiedlichen Sichtweisen zeigen sich im Alltag bis heute: Zwar gibt es die gesetzliche Verschleierungsvorschrift, nur Hände und Gesicht dürfen frei bleiben bei Frauen, Männer dürfen keine T-Shirts und kurzen Hosen tragen, aber tatsächlich würden sich "80 bis 85 Prozent der Menschen im Iran an diesen Dresscode nicht halten", schildert Tabatabai.
Es geht nicht nur um das Kopftuch
So fiel vermutlich auch Mahsa Amini, die aus dem kurdischen Teil des Irans zu Besuch in Teheran war, der sogenannten Sittenpolizei ins Auge. Die 22-Jährige wurde am 13. September festgenommen, weil sie ihr Kopftuch nicht korrekt getragen haben soll. Wenig später lag sie auf einer Krankenhausstation und verstarb am 16. September. Ihre Familie spricht von einem Gewaltverbrechen der Polizisten. Die offizielle Todesursache ist ein Herzinfarkt. Tausende Iranerinnen und Iraner gehen seitdem jede Nacht auf die Straße.
"Der Fall Mahsa Amini ist ganz klar gesellschaftspolitisch aufgeladen mit der Frage von Frauenrechten und der Diskriminierung von Frauen. Andererseits sehen sich viele in der Bevölkerung als politische Subjekte, die sich in dem System nicht ernst genommen fühlen, Repressalien ausgesetzt sind und deren Stimme nicht wahrgenommen wird."
Der Wind in den Haaren
Das durchmische sich mit großer wirtschaftlicher Unzufriedenheit und zum Teil echter Not. Die Lebensverhältnisse für die 84 Millionen Iranerinnen und Iraner verschlechtern sich, sagt Adnan Tabatabai, der vor wenigen Wochen noch im Land war: "Der 'ehemalige' muss man sagen, der 'ehemalige' Mittelstand Irans schrumpft mehr und mehr. Das ist eigentlich das Hauptthema."
Die Ärztin und taz-Kolumnistin Gilda Sahebi weißt auch auf einen besonderen iranischen Feminismus hin. Dadurch, dass viele Familien auch Verwandte im Ausland hätten, würden die Menschen auch das Leben im Westen kennen, etwa aus Serien und Filmen. "Sie wissen, dass man frei leben kann, und sie wissen auch, wer ihnen im Weg steht", so Sahebi. Daher spiele auch die "Sehnsucht nach Freiheit" eine große Rolle.
Auch bei den Protesten zeige sich dies, indem etwa Kopftücher abgelegt oder gar verbrannt werden. In den Videos aus dem Iran sehe man eine Euphorie, ohne Kopftuch herumzulaufen und den Wind in den Haaren zu spüren, so Sahebi. "Das ist etwas ganz besonders."
"Es könnte eine Gesetzesänderung geben"
Die letzten großen Proteste im Iran gab es 2019 nach der starken Erhöhung der Benzinpreise und 2009 nach der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Mahmud Ahmadinedschad, die Hunderttausende auf den Straßen anzweifelten, aber auch die Grüne Bewegung verpuffte nach einigen Wochen und wurde zudem brutal niedergeschlagen.
"Was dieses Mal der Unterschied ist", so Tabatabai, "ist, dass sich auf der politischen Ebene ehemalige und derzeitige Amtsträger solidarisch gezeigt haben mit dem Fall von Mahsa Amini und der katastrophalen Umsetzung des Verschleierungsgebotes. In diesem speziellen Punkt kann es Zuspruch auch auf politischer Ebene geben, der dann zu einer Gesetzesänderung graduell führen kann."
Die Proteste werden nun vor allem von jungen Menschen getragen. Von älteren Verwandten habe sich gehört, "die Jungen sollen das mal machen", berichtet Sahebi. Seit der Gründung der Islamischen Republik habe es viele Enttäuschungen gegeben. Daher seien die Alten müde, vermutet die Journalistin. "Jetzt merken sie, da kommt eine Generation, die diese Kraft und Entschlossenheit noch hat, die sie vielleicht nicht mehr haben."
Ein wichtiger Aspekt für die Dynamik des Protest sei zudem, dass die getötete Mahsa Amini Kurdin war. Kurdistan spiele deswegen eine wichtige Rolle. Zum eine werde die Minderheit unterdrückt, zum anderen nahmen die Demonstrationen nach der Beisetzung von Amini in den von Kurden bewohnten Gebieten ihren Anfang.
Kommentare aus den USA sind kontraproduktiv
Dass sich jetzt US-Außenminister Antony Blinken eingeschaltet hat und fordert, die systematische Verfolgung von Frauen zu beenden, sieht der Iran-Analyst Tabatabai kritisch: "Es gibt leider die refklexartige Reaktion, dass sobald sich ausländische Regierungen - allen voran die USA - solidarisch zeigen, schadet das jeglicher Protestbewegung in der Frage von Zugeständnissen der iranischen Elite." Das mache die Situation nicht leichter für die Demonstranten im Iran.
Und andersherum erschwert die Protesbewegung die Diskussion um das Atomabkommen und die damit verbundenen Lockerungen der westlichen Wirtschaftssanktionen. Die erhofft sich der Iran, um der wirtschaftlichen Not entgegengenzuwirken. Hier dürfte es aber erst mittelfristig nach den Protesten wieder Diskussionen geben, meint Iran-Experte Tabatabai.
Anmerkung der Redaktion: In unserer Berichterstattung über die aktuelle Situation im Iran bilden wir in den drei Programmen und Online-Angeboten von Deutschlandradio ein breites Meinungsspektrum ab. Zahlreiche Gesprächsgäste sowie Expertinnen und Experten kommen zu Wort. Adnan Tabatabai wird von Kritikern eine Nähe zum iranischen Regime vorgeworfen. Dies wurde im Interview nicht thematisiert.