Irena Brezná: "Wie ich auf die Welt kam. In der Sprache zu Hause "
Literarische Reportagen
Rotpunktverlag, Zürich 2018
190 Seiten, gebunden, 24 Euro
Von Bratislava in die weite Welt und zurück
In ihrem Band "Wie ich auf die Welt kam" bündelt die Autorin Irena Brezná literarische Reportagen, die sich wie Chroniken eines menschenrechts-orientierten Europas lesen.
Als am 21. August 1968 sowjetische Panzer in die damalige Tschechoslowakei rollten, um den "Prager Frühling" niederzuschlagen, war unter den Invasoren auch ein 18-jähriger Usbeke namens Muchammad Salich, der mit seiner Einheit nach Bratislava beordert worden war.
"Er war überwältigt, in einer europäischen Stadt mit einer richtigen mittelalterlichen Burg zu sein – dahinter lag eine Wiese mit hohem Gras in einer warmen Sommernacht. Den ersten Schmerz und die erste Scham, denen dann weitere folgten, empfand er, als die Soldaten das Gras zertrampelten und sich spuckend darauf einrichteten. Noch wusste er nicht, dass er ein Besatzer und kein Befreier war, doch nach der Entweihung der Ruhe auf der Wiese fing er an, es zu erahnen."
Hochdeutsch wird als Überlegensheitsgebärde dechiffriert
Während jener dramatischen Tage entschied der Schweizer Bundesrat, dreizehntausend Tschechoslowaken Asysl zu gewähren – darunter auch der 1950 geborenen Irena Brezná und ihren Eltern. Die damals 18jährige lernte dann in Basel deutsch, begriff jedoch eines sehr schnell: "Es gibt Länder, wo man sich durch Schlagfertigkeit und Sprachfarbe die Gunst des Gastlandes sichert, in der Deutschschweiz aber sind die Fremden eher willkommen, wenn ihre Sprache farblos und gebrochen ist. Ein allzu glattes Hochdeutsch wird als Überlegensheitsgebärde dechiffriert."
Heute ist Irena Brezná eine der bekanntesten Schriftstellerinnen ihrer zweiten Heimat; für einen ihrer Romane wurde sie mit dem renommierten Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
Die Widerständigen am Rande haben es ihr angetan
Der hier vorliegende Band "Wie ich auf die Welt kam" versammelt nun literarische Reportagen, autobiographisch grundiert und geschrieben in einem wunderbaren, poetisch-genauen Deutsch, das weder "allzu glatt" noch "farblos" ist. Außer der Stilistin ist hier vor allem eine genaue Beobachterin und empathische Zeitzeugin zu entdecken: Viele Jahrzehnte nach jenem Sommer 68 traf sie nämlich den einstigen Rekruten Muchammad Salich wieder, der inzwischen in Frankfurt/Main im Exil lebt und einer der führenden usbekischen Oppositionellen ist.
Es sind die Widerständigen am Rande, die es Irena Brezná angetan haben, so etwa Natalja Gorbanewskaja und Victor Fainberg, die am 25. August 1968 zusammen mit sechs Freunden auf dem Roten Platz in Moskau gegen den sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei protestiert hatten – mutterseelenallein und gleich darauf inhaftiert und vom allmächtigen KGB bis an den Rand des Suizids getrieben. Auch sie hat Irena Brezná später getroffen und schreibt über sie: "Wenn heute Natalja und Wiktor durch die Straßen von Bratislava gehen, wünsche ich mir, dass die Passanten sie als Teil unserer Geschichte erkennen, in die sie sich mit ihrer Tat selbst eingeschrieben haben. Ich wünsche mir, dass wir unsere Sinne für das Erkennen von echten Freunden und Freundinnen schärfen."
Unverzichtbare Chronistin europäischer Geschichten
Nie gehen die reportagehaften Erzählstücke dieses Bandes - ob nun aus Tschetschenien, Guinea oder Weißrussland - in die Falle einer oberflächlich "engagierten Literatur", die es bei wohlmeinenden Phrasen belässt. Denn das, was Irena Brezna wahrnimmt, ist ganz konkret – so etwa im Frühling 2018 bei den Massendemonstrationen in Bratislava, nachdem dort der regierungskritische Journalist Jan Kuciak und dessen Verlobte einem Mordanschlag zum Opfer gefallen waren. Nicht zufällig wurde dabei ein ganz bestimmtes Lied angestimmt.
"Es ist jenes Lied, das Marta Kubisova 1968 gegen die Okkupation der Tschechoslowakei sang. Danach durfte sie nicht mehr auftreten, während ihr Bühnenpartner Karel Gott mit dem Regime paktierte. Heute nun hetzt der gealterte Gott aus Prag mit Verschwörungstheorien gegen Flüchtlinge, gegen Muslime."
Irena Brezná ist die stille, doch unverzichtbare literarische Chronistin eines menschenrechts-orientierten Europa, das der Schäbigkeit und der historischen Amnesie zu widerstehen versucht.