"Irgendwann gehörte ich zur Familie"
In ihrem Dokumentarfilm "Auf der Suche nach dem Gedächtnis" zeichnet die Regisseurin Petra Seeger die Lebensgeschichte des jüdischen Hirnforschers Eric Kandel nach. Sie begleitet den Nobelpreisträger bei seiner schmerzhaften Reise an die Orte der Vergangenheit.
Dieter Kassel: Eric Kandel in dem Film "Auf der Suche nach dem Gedächtnis" von Petra Seeger. Petra Seeger stellt den Film zurzeit in ganz Deutschland vor, ab heute wird er regulär in den Kinos laufen, jetzt aber ist sie bei uns im Studio. Schönen guten Tag, Frau Seeger!
Petra Seeger: Guten Tag, Herr Kassel!
Kassel: Ihr Film fängt in der Tat interessanterweise damit an, der Beitrag gerade ging damit zu Ende. Sinngemäß hat Kandel da gesagt: Jeder Mensch, der diesen Film sieht, hat anschließend ein Gehirn, das anders aussieht. Sie haben ungefähr drei Jahre als Arbeit für diesen Film mit Kandel verbracht. Haben Sie jetzt ein Gehirn, das anders aussieht als vorher?
Seeger: Nee, wirklich, also ich hab echt ein anderes Gehirn als vorher. Ich hab wirklich das Gefühl, für mich war Lernen in der Phase wichtig. Ich denke ja immer, dass wenn ich einen Film mache, dass die Lebensphase, in der ich bin, sich in dem Film widerspiegelt. Und ich glaube, dass das für mich ganz persönlich eine Phase der ungeheuren Ausweitung war, diese Zeit. Das hängt mit Kandel zusammen, und ich hab wirklich das Gefühl, ich hab ganz viel gelernt in der Zeit – natürlich über Neurowissenschaft, über jüdische Kultur hab ich viel gelernt, ich hab Wien kennengelernt und die Geschichte Wiens kennengelernt. Ich hab international produzieren gelernt. Ich hab New York ganz anders kennengelernt als vorher. Ich hab Wissenschaftler kennengelernt, diese Kreise. Das ist alles passiert in diesen drei Jahren. Das heißt, was Eric da erklärt, ja, dass unser Gedächtnis durch neue Erfahrungen wirklich wächst, das ist bei mir während dieser Zeit auch wirklich passiert.
Kassel: Hat man da ’ne bildliche Vorstellung davon? Seit ich den Film gesehen hab, es sind allerdings jetzt erst gut 24 Stunden, ich weiß nicht, ob mein Hirn schon gewachsen ist, es passiert ja nur beim Langzeitgedächtnis, das ist ja ein Kern seiner Erkenntnisse. Aber gehen Sie manchmal ins Bett inzwischen mit der bildlichen Vorstellung, weil unterm Mikroskop kann man es tatsächlich sehen, wenn man weiß, wo man hingucken soll, dass das Hirn räumlich anders aussieht, wenn man viel gelernt hat?
Seeger: Ja, das habe ich nicht so. Ich hab natürlich aus dem Film das eine Bild, wo man sieht, wie diese Synapse wächst, wie eine Synapse, die existiert, eine zweite bildet. Dieses Bild im Film ist für mich das zentrale Bild. Als ich das zum ersten Mal im Labor sah, da standen mir wirklich die Haare zu Berge. Ich hab davon gelesen, ich wusste das natürlich alles, aber wenn man’s sieht, wie es passiert, da kriegt man doch ’ne ziemliche Ehrfurcht.
Kassel: Der Film zeigt natürlich zwei grundsätzlich verschiedene Aspekte des Lebens: Er zeigt den Wissenschaftler – es kommt zusammen natürlich –, den Wissenschaftler, aber auch die Familiengeschichte eines Mannes, der als kleiner Junge, als jüdischer kleiner Junge den Einmarsch der Nazis in Wien erlebt hat, der im Alter von neun Jahren mit seinem Bruder – da zunächst ohne die Eltern – flüchten musste und, und, und. Wie offen und schnell hat er darüber mit Ihnen gesprochen?
Seeger: Sehr schnell. Ich meine, man darf nicht vergessen, er hatte davor schon seine Autobiografie geschrieben. Die hat den gleichen Titel, "Auf der Suche nach dem Gedächtnis". Das heißt, er war durch diesen Vorgang einmal durchgegangen und ist damit sehr offen umgegangen. Also das war direkt auch Thema zwischen uns.
Kassel: Wie war das mit seiner Familie? Man muss dazu sagen, die Reisen nach Frankreich und nach Wien, das war, glaube ich, zum 50. Hochzeitstag der beiden, der Kandels?
Seeger: Ja, die haben natürlich nur auf mich gewartet, seine Familie.
Kassel: Also da waren, glaube ich, die Kinder und teilweise Enkelkinder dabei.
Seeger: Ja, genau. Das war natürlich nicht so. Also das war schwierig erst mal, natürlich für die Familie, da kommt der Vater mit so ’ner Deutschen, die jetzt uns auf der Reise da begleiten will. Später im Film sieht man eine Szene eines jüdischen Festes, das Pessach-Fest, das wäre so, als wenn ich Weihnachten hier ein Filmteam mit zur Mutter bringe und da im Wohnzimmer sitze und werde gefilmt. Also die waren erst mal alle überhaupt nicht begeistert. Aber das war, zwischen Eric und mir gab es für diesen Film eine ganz starke Komplizität. Wir wussten beide, warum wir das machen wollen. Das war klar, dass so was ein Hindernis ist, und wir haben uns da immer sehr kurz geschlossen darüber verständigen können, um irgendwie Schwierigkeiten und Wogen, die zu hoch gingen, zu glätten und auch Lösungen zu finden, die das der Familie ermöglicht haben. Das ist aber dann letztlich so geworden, dass die Tochter eigentlich das wunderbar fand, dass ich dabei war. Die hat jetzt auch in San Francisco zum Beispiel, für die Einführung des Film hat sie eine Rede gehalten, wo sie das noch mal beschrieben hat, wie fremd ihr das am Anfang war und dass ich dann irgendwann zur Familie gehörte.
Kassel: Zunächst in Frankreich, wo – in einem Kloster war’s, glaube ich, seine Frau war ja auch dabei… die spricht ja auch gut französisch, man sieht das im Film, die sich versteckt haben, da wurde da ein Tunnel gesucht, aber auch in Wien, wo er dann Leute angetroffen hat in dem Haus, in dem die Familie gelebt hat. Sein Vater hatte einen Laden da, den haben sie auch wiederentdeckt. Das waren immer Momente, wo, das lag nur an ihm, an Eric Kandel, finde ich, vielleicht auch ein bisschen an seiner Familie, aber nicht, weil sich jetzt andere bemüht haben. Man hat natürlich gespürt, was für eine, erste neun Jahre, was für eine Jugend das gewesen ist, unter welch schrecklichen Umständen er weg musste aus Österreich. Er sagt auch immer, das Verhältnis zum Land ist natürlich bis heute schwierig, kann nicht ungetrübt sein. Es sind aber für mich trotzdem auf eine gewisse Art und Weise keine traurigen Momente. Auch nicht dieser Teil des Films. Er ist ein Mensch, und es wirkt nicht gespielt. Wie standen Sie teilweise dabei, wenn der Mann diese Orte besucht hat, von denen er und seine Familie aufs Bösartigste vertrieben wurden? Und ich fand, er hat da immer die Contenance behalten.
Seeger: Sie erinnern sich vielleicht an eine Szene, wo er den Heldenplatz besucht mit mir, was er lange vermieden hat. Und als wir dann hinkamen zum Heldenplatz und diese Erinnerungen in ihm aufstiegen – Einmarsch Hitlers in Wien und Empfang, begeisterter Empfang durch die Wiener Bürger auf dem Heldenplatz –, da gibt’s so einen Moment, wo er auch kurz weint. Ich hab das nicht alles … Wir haben’s gedreht halt, weil es passierte, aber es ist nicht alles so im Film. Aber das sind Momente, wo das auch anders war, wo wirklich auch schmerzhafte Momente für ihn waren, auch als wir die Stelle gefunden haben, wo seine Synagoge früher stand, bevor sie abgebrannt worden ist von den Nazis. Das waren Momente, die auch schmerzhaft waren.
Kassel: Er sagt in einem Vortrag, der auch in Ausschnitten im Film zu sehen ist, in einem Vortrag, glaube ich, in New York, sagt er – das ist ja auch naheliegend, aber er sagt es auch ganz deutlich, dass natürlich seine Motivation, das zu studieren, was er studiert hat, sich zuerst für Psychologie und dann eben für Neurowissenschaften zu interessieren, war natürlich, dass er verstehen wollte – er sagt das annährend wörtlich so in dem Film –, warum Menschen, die Beethoven hören, die Mozart hören, eben zu solchen Bestien werden können, also die Deutschen, die Österreicher als Nazis dann. Glauben Sie, er hat’s verstanden?
Seeger: Ich weiß es nicht. Das ist der Weg. Ob man so was verstehen kann? Der Weg, den er gegangen ist, ist wirklich, die menschliche Motivation zu erforschen. Ob man da an ein Ende kommen kann und etwas ganz verstehen kann, das glaubt sicher er auch nicht. Aber das ist sein Weg gewesen, das zu versuchen zu verstehen.
Kassel: Und einen Teil des Weges, den er am Schluss jetzt noch gegangen ist. Ich darf verraten, man soll ja von Filmen, ich finde, auch von Dokumentarfilmen nicht zu viel übers Ende sagen, aber am Ende spielt der Begriff Heilung eine Rolle, insofern … Das dauert über 90 Minuten, ehe man dahin kommt, die sollte man aber abwarten. Jetzt hat sie wie in der Schule, vorhin hat sie immer den Kopf geschüttelt, jetzt hat sie als Fernsehfrau den Finger gehoben. Der Begriff Heilung ist Ihnen auch sehr wichtig, das ist Gespräch zwischen Ihnen, das da am Ende im Film auch kommt. Das ist etwas, was Teil der Filmarbeit war, hm?
Seeger: Ja. Also Eric hat gesagt, für ihn wäre das, die Herstellung dieses Films und vorher schon das Schreiben seines Buches, aber auch die Herstellung des Films wie eine Psychoanalyse gewesen, und ich muss sagen, ich hab – das ist auch ’ne gemeinsame Kultur, in der er sich bewegt und aus der ich auch komme, weil ich selber eine Psychoanalyse gemacht habe. Ich denke, das macht ne sehr wichtige Verbindung, hat unsere sonst so getrennten Welten, ja? Da war so ’ne Gemeinsamkeit bei uns beiden. Und auch so ’ne gemeinsame Art zu verstehen, wie man Welt und eigene Erfahrungen darin sieht, wie man damit umgeht. Und es gab ganz unausgesprochen zwischen uns eigentlich – es ist ganz seltsam, wir haben darüber uns nie verständigt, aber wenn wir uns heute darüber verständigen, wissen wir beide, wir haben das wie eine Zeit, eine Beziehung für diese Zeit sind wir eingegangen, die von ihm auch so gesetzt war. Er wollte mich da als jemanden, er hat wahrscheinlich auch gespürt, dass ich 'ne starke Empathie habe und dass ich mich genügend zurückhalte, dass er diesen Prozess da gehen kann, zurück in seine Vergangenheit und ich ihn da begleite. Und das hat ihn, glaube ich, manchmal gestützt, da in Wien, sagt er.
Kassel: Das kann man alles sehen, und ich kann versprechen, obwohl es um unglaublich ernste Dinge natürlich geht und gehen muss in so einem Film: Es sind 95 sehr unterhaltsame Minuten, nicht jede Minute kann und darf, aber insgesamt sind es sehr unterhaltsame Minuten, und ich habe – und Ihnen wird das auch gelingen, wenn Sie den Film sehen – mehrmals laut gelacht. Sollte man nicht erwarten, darf man in diesem Fall von dem Film erwarten. "Auf der Suche nach dem Gedächtnis" heißt er, er kommt heute in wirklich viele deutsche Kinos. Es freut mich, dass Sie die Zeit gehabt haben, zu uns zu kommen, und ich danke Ihnen fürs Dasein und für den Film, Frau Seeger!
Seeger: Danke schön, Herr Kassel!
Petra Seeger: Guten Tag, Herr Kassel!
Kassel: Ihr Film fängt in der Tat interessanterweise damit an, der Beitrag gerade ging damit zu Ende. Sinngemäß hat Kandel da gesagt: Jeder Mensch, der diesen Film sieht, hat anschließend ein Gehirn, das anders aussieht. Sie haben ungefähr drei Jahre als Arbeit für diesen Film mit Kandel verbracht. Haben Sie jetzt ein Gehirn, das anders aussieht als vorher?
Seeger: Nee, wirklich, also ich hab echt ein anderes Gehirn als vorher. Ich hab wirklich das Gefühl, für mich war Lernen in der Phase wichtig. Ich denke ja immer, dass wenn ich einen Film mache, dass die Lebensphase, in der ich bin, sich in dem Film widerspiegelt. Und ich glaube, dass das für mich ganz persönlich eine Phase der ungeheuren Ausweitung war, diese Zeit. Das hängt mit Kandel zusammen, und ich hab wirklich das Gefühl, ich hab ganz viel gelernt in der Zeit – natürlich über Neurowissenschaft, über jüdische Kultur hab ich viel gelernt, ich hab Wien kennengelernt und die Geschichte Wiens kennengelernt. Ich hab international produzieren gelernt. Ich hab New York ganz anders kennengelernt als vorher. Ich hab Wissenschaftler kennengelernt, diese Kreise. Das ist alles passiert in diesen drei Jahren. Das heißt, was Eric da erklärt, ja, dass unser Gedächtnis durch neue Erfahrungen wirklich wächst, das ist bei mir während dieser Zeit auch wirklich passiert.
Kassel: Hat man da ’ne bildliche Vorstellung davon? Seit ich den Film gesehen hab, es sind allerdings jetzt erst gut 24 Stunden, ich weiß nicht, ob mein Hirn schon gewachsen ist, es passiert ja nur beim Langzeitgedächtnis, das ist ja ein Kern seiner Erkenntnisse. Aber gehen Sie manchmal ins Bett inzwischen mit der bildlichen Vorstellung, weil unterm Mikroskop kann man es tatsächlich sehen, wenn man weiß, wo man hingucken soll, dass das Hirn räumlich anders aussieht, wenn man viel gelernt hat?
Seeger: Ja, das habe ich nicht so. Ich hab natürlich aus dem Film das eine Bild, wo man sieht, wie diese Synapse wächst, wie eine Synapse, die existiert, eine zweite bildet. Dieses Bild im Film ist für mich das zentrale Bild. Als ich das zum ersten Mal im Labor sah, da standen mir wirklich die Haare zu Berge. Ich hab davon gelesen, ich wusste das natürlich alles, aber wenn man’s sieht, wie es passiert, da kriegt man doch ’ne ziemliche Ehrfurcht.
Kassel: Der Film zeigt natürlich zwei grundsätzlich verschiedene Aspekte des Lebens: Er zeigt den Wissenschaftler – es kommt zusammen natürlich –, den Wissenschaftler, aber auch die Familiengeschichte eines Mannes, der als kleiner Junge, als jüdischer kleiner Junge den Einmarsch der Nazis in Wien erlebt hat, der im Alter von neun Jahren mit seinem Bruder – da zunächst ohne die Eltern – flüchten musste und, und, und. Wie offen und schnell hat er darüber mit Ihnen gesprochen?
Seeger: Sehr schnell. Ich meine, man darf nicht vergessen, er hatte davor schon seine Autobiografie geschrieben. Die hat den gleichen Titel, "Auf der Suche nach dem Gedächtnis". Das heißt, er war durch diesen Vorgang einmal durchgegangen und ist damit sehr offen umgegangen. Also das war direkt auch Thema zwischen uns.
Kassel: Wie war das mit seiner Familie? Man muss dazu sagen, die Reisen nach Frankreich und nach Wien, das war, glaube ich, zum 50. Hochzeitstag der beiden, der Kandels?
Seeger: Ja, die haben natürlich nur auf mich gewartet, seine Familie.
Kassel: Also da waren, glaube ich, die Kinder und teilweise Enkelkinder dabei.
Seeger: Ja, genau. Das war natürlich nicht so. Also das war schwierig erst mal, natürlich für die Familie, da kommt der Vater mit so ’ner Deutschen, die jetzt uns auf der Reise da begleiten will. Später im Film sieht man eine Szene eines jüdischen Festes, das Pessach-Fest, das wäre so, als wenn ich Weihnachten hier ein Filmteam mit zur Mutter bringe und da im Wohnzimmer sitze und werde gefilmt. Also die waren erst mal alle überhaupt nicht begeistert. Aber das war, zwischen Eric und mir gab es für diesen Film eine ganz starke Komplizität. Wir wussten beide, warum wir das machen wollen. Das war klar, dass so was ein Hindernis ist, und wir haben uns da immer sehr kurz geschlossen darüber verständigen können, um irgendwie Schwierigkeiten und Wogen, die zu hoch gingen, zu glätten und auch Lösungen zu finden, die das der Familie ermöglicht haben. Das ist aber dann letztlich so geworden, dass die Tochter eigentlich das wunderbar fand, dass ich dabei war. Die hat jetzt auch in San Francisco zum Beispiel, für die Einführung des Film hat sie eine Rede gehalten, wo sie das noch mal beschrieben hat, wie fremd ihr das am Anfang war und dass ich dann irgendwann zur Familie gehörte.
Kassel: Zunächst in Frankreich, wo – in einem Kloster war’s, glaube ich, seine Frau war ja auch dabei… die spricht ja auch gut französisch, man sieht das im Film, die sich versteckt haben, da wurde da ein Tunnel gesucht, aber auch in Wien, wo er dann Leute angetroffen hat in dem Haus, in dem die Familie gelebt hat. Sein Vater hatte einen Laden da, den haben sie auch wiederentdeckt. Das waren immer Momente, wo, das lag nur an ihm, an Eric Kandel, finde ich, vielleicht auch ein bisschen an seiner Familie, aber nicht, weil sich jetzt andere bemüht haben. Man hat natürlich gespürt, was für eine, erste neun Jahre, was für eine Jugend das gewesen ist, unter welch schrecklichen Umständen er weg musste aus Österreich. Er sagt auch immer, das Verhältnis zum Land ist natürlich bis heute schwierig, kann nicht ungetrübt sein. Es sind aber für mich trotzdem auf eine gewisse Art und Weise keine traurigen Momente. Auch nicht dieser Teil des Films. Er ist ein Mensch, und es wirkt nicht gespielt. Wie standen Sie teilweise dabei, wenn der Mann diese Orte besucht hat, von denen er und seine Familie aufs Bösartigste vertrieben wurden? Und ich fand, er hat da immer die Contenance behalten.
Seeger: Sie erinnern sich vielleicht an eine Szene, wo er den Heldenplatz besucht mit mir, was er lange vermieden hat. Und als wir dann hinkamen zum Heldenplatz und diese Erinnerungen in ihm aufstiegen – Einmarsch Hitlers in Wien und Empfang, begeisterter Empfang durch die Wiener Bürger auf dem Heldenplatz –, da gibt’s so einen Moment, wo er auch kurz weint. Ich hab das nicht alles … Wir haben’s gedreht halt, weil es passierte, aber es ist nicht alles so im Film. Aber das sind Momente, wo das auch anders war, wo wirklich auch schmerzhafte Momente für ihn waren, auch als wir die Stelle gefunden haben, wo seine Synagoge früher stand, bevor sie abgebrannt worden ist von den Nazis. Das waren Momente, die auch schmerzhaft waren.
Kassel: Er sagt in einem Vortrag, der auch in Ausschnitten im Film zu sehen ist, in einem Vortrag, glaube ich, in New York, sagt er – das ist ja auch naheliegend, aber er sagt es auch ganz deutlich, dass natürlich seine Motivation, das zu studieren, was er studiert hat, sich zuerst für Psychologie und dann eben für Neurowissenschaften zu interessieren, war natürlich, dass er verstehen wollte – er sagt das annährend wörtlich so in dem Film –, warum Menschen, die Beethoven hören, die Mozart hören, eben zu solchen Bestien werden können, also die Deutschen, die Österreicher als Nazis dann. Glauben Sie, er hat’s verstanden?
Seeger: Ich weiß es nicht. Das ist der Weg. Ob man so was verstehen kann? Der Weg, den er gegangen ist, ist wirklich, die menschliche Motivation zu erforschen. Ob man da an ein Ende kommen kann und etwas ganz verstehen kann, das glaubt sicher er auch nicht. Aber das ist sein Weg gewesen, das zu versuchen zu verstehen.
Kassel: Und einen Teil des Weges, den er am Schluss jetzt noch gegangen ist. Ich darf verraten, man soll ja von Filmen, ich finde, auch von Dokumentarfilmen nicht zu viel übers Ende sagen, aber am Ende spielt der Begriff Heilung eine Rolle, insofern … Das dauert über 90 Minuten, ehe man dahin kommt, die sollte man aber abwarten. Jetzt hat sie wie in der Schule, vorhin hat sie immer den Kopf geschüttelt, jetzt hat sie als Fernsehfrau den Finger gehoben. Der Begriff Heilung ist Ihnen auch sehr wichtig, das ist Gespräch zwischen Ihnen, das da am Ende im Film auch kommt. Das ist etwas, was Teil der Filmarbeit war, hm?
Seeger: Ja. Also Eric hat gesagt, für ihn wäre das, die Herstellung dieses Films und vorher schon das Schreiben seines Buches, aber auch die Herstellung des Films wie eine Psychoanalyse gewesen, und ich muss sagen, ich hab – das ist auch ’ne gemeinsame Kultur, in der er sich bewegt und aus der ich auch komme, weil ich selber eine Psychoanalyse gemacht habe. Ich denke, das macht ne sehr wichtige Verbindung, hat unsere sonst so getrennten Welten, ja? Da war so ’ne Gemeinsamkeit bei uns beiden. Und auch so ’ne gemeinsame Art zu verstehen, wie man Welt und eigene Erfahrungen darin sieht, wie man damit umgeht. Und es gab ganz unausgesprochen zwischen uns eigentlich – es ist ganz seltsam, wir haben darüber uns nie verständigt, aber wenn wir uns heute darüber verständigen, wissen wir beide, wir haben das wie eine Zeit, eine Beziehung für diese Zeit sind wir eingegangen, die von ihm auch so gesetzt war. Er wollte mich da als jemanden, er hat wahrscheinlich auch gespürt, dass ich 'ne starke Empathie habe und dass ich mich genügend zurückhalte, dass er diesen Prozess da gehen kann, zurück in seine Vergangenheit und ich ihn da begleite. Und das hat ihn, glaube ich, manchmal gestützt, da in Wien, sagt er.
Kassel: Das kann man alles sehen, und ich kann versprechen, obwohl es um unglaublich ernste Dinge natürlich geht und gehen muss in so einem Film: Es sind 95 sehr unterhaltsame Minuten, nicht jede Minute kann und darf, aber insgesamt sind es sehr unterhaltsame Minuten, und ich habe – und Ihnen wird das auch gelingen, wenn Sie den Film sehen – mehrmals laut gelacht. Sollte man nicht erwarten, darf man in diesem Fall von dem Film erwarten. "Auf der Suche nach dem Gedächtnis" heißt er, er kommt heute in wirklich viele deutsche Kinos. Es freut mich, dass Sie die Zeit gehabt haben, zu uns zu kommen, und ich danke Ihnen fürs Dasein und für den Film, Frau Seeger!
Seeger: Danke schön, Herr Kassel!