"Irgendwann muss man eben langsam aufhören"
Die Suche nach einem Nachfolger, der "den Geist des GRIPS Theaters weiter trägt", sei nicht einfach gewesen, sagt Volker Ludwig, Gründer und künstlerischer Leiter des GRIPS Theaters, der 2011 seinen Chefposten an Stefan Fischer-Fels abgibt. "Zeitkritisches Kinder- und Jugendtheater ist selten in Deutschland."
Liane von Billerbeck: Es gibt in der deutschen Theaterlandschaft wahrscheinlich nur einen, der länger Theater gemacht hat als er, das ist Wolfgang Wagner gewesen, auf dem Grünen Hügel war der 57 Jahre. Mein Gast, der hat, wenn er dann aufhört, was er jetzt angekündigt hat, dann 42 Jahre lang Theater gemacht, Theater für Kinder und Jugendliche – im legendären GRIPS Theater in Berlin. Wenn man das eine Legende nennt, dann übertreibt man sicher nicht. Volker Ludwig war Intendant und will nun aufhören, nach dieser Saison, und das berühmteste Stück, das dort gespielt wurde am GRIPS Theater, das war "Linie 1", über 1000 Mal, und das kennt wahrscheinlich hierzulande nahezu jeder. Jetzt ist Volker Ludwig bei uns zu Gast, herzlich willkommen!
Volker Ludwig: Hallo! Tag!
von Billerbeck: Sie sind jetzt 73. Was war es, das Ihnen signalisiert hat: Jetzt kannste mal aufhören?
Ludwig: Äußerlich eigentlich nichts, ich habe mir mal gesagt, irgendwann muss man eben langsam aufhören. Ich merke es ja bei den anderen Angestellten in unserem Theater, die eben auch nicht loslassen wollen und können, und sage, nein, ich will nicht so sein. Außerdem habe ich einen Nachfolger gesucht, der den Geist des GRIPS Theaters weiterträgt, und das ist nicht so einfach. Also, zeitkritisches Kinder- und Jugendtheater ist selten in Deutschland, und um das zu erhalten, gibt es nur ganz wenige, und derjenige, den ich mir dann ausgesucht habe, der kann nur nächstes Jahr gehen, sonst kriege ich ihn gar nicht. Dem hat man woanders eine Lebensstellung angeboten.
von Billerbeck: Das war ja eigentlich ein großes Geheimnis, leider nur bis heute, Sie wollten das am Montag in Ihrer Pressekonferenz verkünden, jetzt hat es der "Tagesspiegel" schon ausgeplaudert. Was ist das für ein Nachfolger? Warum vertrauen Sie dem Ihr Kind, Ihre Bühne an?
Ludwig: Das ist Stefan Fischer-Fels, der war bei uns bereits zehn Jahre lang als junger Mensch Chefdramaturg und Theaterpädagoge, das heißt, wir kennen ihn sehr gut, er kennt auch unser Haus sehr gut. Er ist ein toller Dramaturg, gerade für neue Autoren, er hat praktisch Lutz Hübner fürs Jugendtheater erfunden und andere Autoren, und er ist dann nach Düsseldorf gegangen und hat dort Furore gemacht als Leiter des dortigen jungen Schauspielhauses. Der ist es, und der hat auch GRIPS-Stücke dort gemacht, also, er hat ein spannendes Programm und hat gute Leute, und dem vertraue ich einfach.
von Billerbeck: Das war der Blick in die Zukunft. Wir wollen jetzt den Blick noch mal zurückwerfen. Sie sind ja eigentlich Kabarettist gewesen, gelten aber als der Pionier eines modernen Kinder- und Jugendtheaters in der Bundesrepublik, haben also mit antiautoritärem Theater westdeutsche Schüler- und Lehrergenerationen, muss man ja sagen, geprägt, "zwischen pädagogischem Zeigefinger und anarchistischem Stinkefinger", das war immer die Formulierung. Wie kamen Sie eigentlich zum Kindertheater?
Ludwig: Das war eigentlich eine politische Entscheidung. Wir haben also politisches Kabarett gemacht, das Reichskabarett, das war ja so die satirische Stimme der Studentenbewegung in Berlin mehr oder weniger, und wie die auseinanderbrach, hatten wir als Kabarett eigentlich keine Funktion mehr in dem Sinne und haben dann, wie man das damals nannte, Zielgruppenkabarett gemacht. Das heißt, wir wollten alle Schichten der Bevölkerung erreichen und nicht nur die Studenten und Intellektuellen und dachten, das kann man am besten mit Kindertheater, da kriegt man auch die Unterschichten ins Theater und das ist sehr gelungen, weil die Studenten damals sich oft auf Erziehung stürzten und dann mit ihren proletarischen Kindern aus Wedding, Kreuzberg, Neukölln zu uns kamen. Wir haben also auch ein entsprechendes Publikum und waren sehr stolz drauf. Wir wollten über diese Kinder auch die Erwachsenen kriegen und haben es ja auch bis heute geschafft, dass die Schichten, die unser Theater besuchten, doch sehr viel breiter sind als die bürgerlichen, die sonst nur ins Theater gehen.
von Billerbeck: Das ist bei Ihnen immer noch so?
Ludwig: Ja.
von Billerbeck: Eines der erfolgreichsten Stücke, das war ja ein Stück für Erwachsene – Sie haben es erwähnt: Sie haben über die Kinder die Eltern auch bekommen oder die anderen Erwachsenen –, das war "Linie 1", ein Musical, in dem eine Landpomeranze aus der westlichen Provinz nach Berlin kommt. Funktioniert das Stück eigentlich immer noch, obwohl sich alles geändert hat seitdem? Die Mauer ist weg, es gibt die Wilmersdorfer Witwen nicht mehr und wir haben den Euro statt der Mark.
Ludwig: Es funktioniert. Wir hatten es lange fortgeschrieben, also von D-Mark auf Euro und so weiter umgewandelt, aber es wurde immer anachronistischer. Heute ist die Endstation ja nicht mehr Schlesisches Tor und der Zoo sieht auch anders aus. Also, wir haben dann irgendwann uns entschieden, die alte Urfassung von 1986 fortbestehen zu lassen, als historisches Stück während der Mauerzeit. Und es verliert nichts an Wirkung, weil diese Figuren, die sind vielleicht nicht mehr so repräsentativ wie früher, aber jede einzelne Figur ist genau so wirklich und da und man kann sich mit denen identifizieren wie damals auch. Das heißt, die Wirkung ist ungebrochen, und vor allem hat sich ja gezeigt, dass das typische Großstadtmenschen sind, die man in aller Welt in den großen Städten wiederfindet, weswegen "Linie 1" – damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet – heute also auch in alle Welt adaptiert wird in anderen Städten.
von Billerbeck: Das ist also auch ein kommerzieller Erfolg. Wie verträgt sich das, wenn man eigentlich sich als linker Theatermacher nach den Studentenunruhen verstanden hat und jetzt verdient man richtig mit so einem Stück und hat damit Erfolg, in Asien, in Hongkong, in arabischen Ländern?
Ludwig: Also, mit dem finanziellen Erfolg ist das im Ausland so eine Sache. Die haben meistens kein Geld, und wir haben auch dem erfolgreichsten, dem koreanischen Nachfolger in Seoul, die haben über 4000 Mal das Stück gespielt, aber schon nach dem 1000. Mal haben wir denen die Tantiemen geschenkt. Da haben die geweint vor Freude, weil es ein kleines Theater ist, was kaum existieren kann, auch wenn es so einen Riesenerfolg hat. Und vielen anderen Ländern stiftet dann das Goethe-Institut 200, 300 Mark für die Rechte und dann dürfen die weiterspielen. Also es ist da nicht so weit her mit den Mäusen.
von Billerbeck: Also, es ist nicht so wie bei Andrew Lloyd Webber und seinen Musicals.
Ludwig: Nein.
von Billerbeck: Die Leistung des GRIPS' war es ja immer, dass Sie auch Mutmach-Geschichten für Kinder gespielt haben. Nun hat sich inzwischen ja sehr vieles verändert in der Theaterlandschaft, auch bei den Kinder- und Jugendtheatern. Gibt es noch etwas, was so typisch ist fürs GRIPS, was noch heute so ist?
Ludwig: Ja, also, die Grundtendenz ist immer die gleiche geblieben, es ist einfach so ein Hoffnung machendes, ein Überlebenstheater. Die Stücke versuchen am Schluss, Kindern immer noch eine Perspektive aufzuzeigen. Man kann da nicht kathartische Stücke machen, die grässlich enden, weil die Kinder können das nicht verallgemeinern, die sehen sich selber auf der Bühne und für die ist das dann nur ein schlechter Vormittag gewesen.
von Billerbeck: Also, ein Happy-End ist ein Muss bei GRIPS?
Ludwig: Happy-End kann man nicht sagen. Wir nennen das konkrete Utopien, das sind also Schlüsse, die real möglich sind, die den Kindern eine Perspektive geben, worauf sie hinleben und -denken und -fantasieren können. Und das funktioniert nach wie vor. Es geht halt unter der Überschrift, dass die Welt veränderbar ist, und dass man nicht aufgeben darf.
von Billerbeck: Volker Ludwig ist mein Gesprächspartner. Nach über 42 Jahren am Kindertheater nimmt er als Intendant des Berliner GRIPS Theaters seinen Hut. Wenn Sie so lange Theater gemacht haben, dann haben Sie ja erlebt, wie sich auch die Welt der Kinder total verändert hat, vor allen Dingen durch neue Medien. Es gibt ganz neue Herausforderungen, neue Probleme für Kinder. Hat sich da auch das Kindertheater verändert, gibt es neue Formen, die versuchen, Kinder anders anzusprechen?
Ludwig: Na ja, also, die neuen Medien sind natürlich auch Bestandteil und Inhalt der neuen Theaterstücke. Aber das Theater selbst funktioniert nach wie vor ungebrochen, gerade bei Kindern, die sonst nur vor der Mattscheibe sitzen, gerade weil es lebendige Menschen auf der Bühne sind. Und manchmal hört man auch vom Publikum, dass sie sagen: Die sind ja echt! Und das fasziniert sie ganz besonders. Es geht nach wie vor, man kann nach wie vor mit dem Finger schnipsen und es herrscht absolute Ruhe in dem großen Raum und dann sind die Kinder begeistert und fasziniert. Das haben wir ... Wir haben auch oft dran gezweifelt, aber die Reaktionen der Kinder haben sich im Grunde nicht geändert. Es ist nicht so, dass sie jetzt weniger konzentriert sind oder nach 30 Sekunden abschalten, weil sie irgendwo Clips gewohnt sind. Man kriegt sie genauso wie bisher.
von Billerbeck: Das heißt, Sie lieben Kinder auch mehr als Zuschauer als Erwachsene?
Ludwig: Sie ...
von Billerbeck: Sie mögen Kinder mehr, wenn die vor Ihnen sitzen, als Erwachsene?
Ludwig: Ja. Deswegen haben ja auch damals die Kabarettisten es vorgezogen, für Kinder zu spielen als für den höflichen Intellektuellen. Die sind gar nicht höflich. Bei Kindern merkt man sofort, wenn sie uninteressiert sind, dann werden sie nämlich laut und reden oder gehen raus oder gehen auf die Bühne, und das ist ein ständiger Kampf. Man muss also ständig gewinnen und man muss die Kinder gewinnen und der Erfolg ist dann auch entsprechend, die Begeisterungsfähigkeit der Kinder ist natürlich auch ein Vielfaches derer von Erwachsenen.
von Billerbeck: Es ist also viel härter für den Stückeschreiber und auch für den Schauspieler, für Kinder zu spielen?
Ludwig: Das ist richtig. Man darf auch nicht eitel sein, man muss das sehr genau beobachten, aber es wirkt sich auch entsprechend aus.
von Billerbeck: Es wurde über Sie gesagt, dass Sie, anders als andere Theatermacher Ihrer Generation, nicht zynisch und nicht bitter geworden seien über die Jahre. Wie haben Sie das geschafft?
Ludwig: Ach, das ist so eine Grundmentalität. Ich wollte mal Pfarrer werden, und in irgendeiner Weise bin ich das geworden. Ich kann gar nicht anders. Also, es gibt ja so einen Satz in der "Linie 1", wo ein Junge sagte, er hätte erkannt, dass alle Menschen mal kleine Kinder waren, die nur geliebt werden wollen.
von Billerbeck: Und der sind Sie immer noch, der kleine Junge?
Ludwig: Und das ist halt so, daran muss man halt immer denken, und dann ... Man muss auch seine Figuren lieben. Die werden nur gut und glaubwürdig und wahrhaftig auf der Bühne, wenn man also auch den miesesten Stänkerer weiß, warum er das ist und warum er so geworden ist. Sonst werden es auch keine runden Figuren.
von Billerbeck: Volker Ludwig war das, der Gründer und Intendant des legendären Berliner GRIPS Theaters, der nach 42 Jahren auf den Brettern aufhört. Was darf man Ihnen wünschen für die Zeit danach?
Ludwig: Ich bleibe im Theater, also, ich werde die Geschäftsführung weiter haben, das ist ja eine GmbH, da bin ich automatisch Geschäftsführer und gehe da nicht ganz weg. Und außerdem habe ich jetzt keine Entschuldigung mehr: Ich habe jetzt sehr viel mehr Zeit zum Schreiben und werde natürlich weiter Stücke schreiben, was ja mein eigentlicher Beruf ist.
von Billerbeck: Danke schön, Volker Ludwig!
Ludwig: Ich danke Ihnen!
Volker Ludwig: Hallo! Tag!
von Billerbeck: Sie sind jetzt 73. Was war es, das Ihnen signalisiert hat: Jetzt kannste mal aufhören?
Ludwig: Äußerlich eigentlich nichts, ich habe mir mal gesagt, irgendwann muss man eben langsam aufhören. Ich merke es ja bei den anderen Angestellten in unserem Theater, die eben auch nicht loslassen wollen und können, und sage, nein, ich will nicht so sein. Außerdem habe ich einen Nachfolger gesucht, der den Geist des GRIPS Theaters weiterträgt, und das ist nicht so einfach. Also, zeitkritisches Kinder- und Jugendtheater ist selten in Deutschland, und um das zu erhalten, gibt es nur ganz wenige, und derjenige, den ich mir dann ausgesucht habe, der kann nur nächstes Jahr gehen, sonst kriege ich ihn gar nicht. Dem hat man woanders eine Lebensstellung angeboten.
von Billerbeck: Das war ja eigentlich ein großes Geheimnis, leider nur bis heute, Sie wollten das am Montag in Ihrer Pressekonferenz verkünden, jetzt hat es der "Tagesspiegel" schon ausgeplaudert. Was ist das für ein Nachfolger? Warum vertrauen Sie dem Ihr Kind, Ihre Bühne an?
Ludwig: Das ist Stefan Fischer-Fels, der war bei uns bereits zehn Jahre lang als junger Mensch Chefdramaturg und Theaterpädagoge, das heißt, wir kennen ihn sehr gut, er kennt auch unser Haus sehr gut. Er ist ein toller Dramaturg, gerade für neue Autoren, er hat praktisch Lutz Hübner fürs Jugendtheater erfunden und andere Autoren, und er ist dann nach Düsseldorf gegangen und hat dort Furore gemacht als Leiter des dortigen jungen Schauspielhauses. Der ist es, und der hat auch GRIPS-Stücke dort gemacht, also, er hat ein spannendes Programm und hat gute Leute, und dem vertraue ich einfach.
von Billerbeck: Das war der Blick in die Zukunft. Wir wollen jetzt den Blick noch mal zurückwerfen. Sie sind ja eigentlich Kabarettist gewesen, gelten aber als der Pionier eines modernen Kinder- und Jugendtheaters in der Bundesrepublik, haben also mit antiautoritärem Theater westdeutsche Schüler- und Lehrergenerationen, muss man ja sagen, geprägt, "zwischen pädagogischem Zeigefinger und anarchistischem Stinkefinger", das war immer die Formulierung. Wie kamen Sie eigentlich zum Kindertheater?
Ludwig: Das war eigentlich eine politische Entscheidung. Wir haben also politisches Kabarett gemacht, das Reichskabarett, das war ja so die satirische Stimme der Studentenbewegung in Berlin mehr oder weniger, und wie die auseinanderbrach, hatten wir als Kabarett eigentlich keine Funktion mehr in dem Sinne und haben dann, wie man das damals nannte, Zielgruppenkabarett gemacht. Das heißt, wir wollten alle Schichten der Bevölkerung erreichen und nicht nur die Studenten und Intellektuellen und dachten, das kann man am besten mit Kindertheater, da kriegt man auch die Unterschichten ins Theater und das ist sehr gelungen, weil die Studenten damals sich oft auf Erziehung stürzten und dann mit ihren proletarischen Kindern aus Wedding, Kreuzberg, Neukölln zu uns kamen. Wir haben also auch ein entsprechendes Publikum und waren sehr stolz drauf. Wir wollten über diese Kinder auch die Erwachsenen kriegen und haben es ja auch bis heute geschafft, dass die Schichten, die unser Theater besuchten, doch sehr viel breiter sind als die bürgerlichen, die sonst nur ins Theater gehen.
von Billerbeck: Das ist bei Ihnen immer noch so?
Ludwig: Ja.
von Billerbeck: Eines der erfolgreichsten Stücke, das war ja ein Stück für Erwachsene – Sie haben es erwähnt: Sie haben über die Kinder die Eltern auch bekommen oder die anderen Erwachsenen –, das war "Linie 1", ein Musical, in dem eine Landpomeranze aus der westlichen Provinz nach Berlin kommt. Funktioniert das Stück eigentlich immer noch, obwohl sich alles geändert hat seitdem? Die Mauer ist weg, es gibt die Wilmersdorfer Witwen nicht mehr und wir haben den Euro statt der Mark.
Ludwig: Es funktioniert. Wir hatten es lange fortgeschrieben, also von D-Mark auf Euro und so weiter umgewandelt, aber es wurde immer anachronistischer. Heute ist die Endstation ja nicht mehr Schlesisches Tor und der Zoo sieht auch anders aus. Also, wir haben dann irgendwann uns entschieden, die alte Urfassung von 1986 fortbestehen zu lassen, als historisches Stück während der Mauerzeit. Und es verliert nichts an Wirkung, weil diese Figuren, die sind vielleicht nicht mehr so repräsentativ wie früher, aber jede einzelne Figur ist genau so wirklich und da und man kann sich mit denen identifizieren wie damals auch. Das heißt, die Wirkung ist ungebrochen, und vor allem hat sich ja gezeigt, dass das typische Großstadtmenschen sind, die man in aller Welt in den großen Städten wiederfindet, weswegen "Linie 1" – damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet – heute also auch in alle Welt adaptiert wird in anderen Städten.
von Billerbeck: Das ist also auch ein kommerzieller Erfolg. Wie verträgt sich das, wenn man eigentlich sich als linker Theatermacher nach den Studentenunruhen verstanden hat und jetzt verdient man richtig mit so einem Stück und hat damit Erfolg, in Asien, in Hongkong, in arabischen Ländern?
Ludwig: Also, mit dem finanziellen Erfolg ist das im Ausland so eine Sache. Die haben meistens kein Geld, und wir haben auch dem erfolgreichsten, dem koreanischen Nachfolger in Seoul, die haben über 4000 Mal das Stück gespielt, aber schon nach dem 1000. Mal haben wir denen die Tantiemen geschenkt. Da haben die geweint vor Freude, weil es ein kleines Theater ist, was kaum existieren kann, auch wenn es so einen Riesenerfolg hat. Und vielen anderen Ländern stiftet dann das Goethe-Institut 200, 300 Mark für die Rechte und dann dürfen die weiterspielen. Also es ist da nicht so weit her mit den Mäusen.
von Billerbeck: Also, es ist nicht so wie bei Andrew Lloyd Webber und seinen Musicals.
Ludwig: Nein.
von Billerbeck: Die Leistung des GRIPS' war es ja immer, dass Sie auch Mutmach-Geschichten für Kinder gespielt haben. Nun hat sich inzwischen ja sehr vieles verändert in der Theaterlandschaft, auch bei den Kinder- und Jugendtheatern. Gibt es noch etwas, was so typisch ist fürs GRIPS, was noch heute so ist?
Ludwig: Ja, also, die Grundtendenz ist immer die gleiche geblieben, es ist einfach so ein Hoffnung machendes, ein Überlebenstheater. Die Stücke versuchen am Schluss, Kindern immer noch eine Perspektive aufzuzeigen. Man kann da nicht kathartische Stücke machen, die grässlich enden, weil die Kinder können das nicht verallgemeinern, die sehen sich selber auf der Bühne und für die ist das dann nur ein schlechter Vormittag gewesen.
von Billerbeck: Also, ein Happy-End ist ein Muss bei GRIPS?
Ludwig: Happy-End kann man nicht sagen. Wir nennen das konkrete Utopien, das sind also Schlüsse, die real möglich sind, die den Kindern eine Perspektive geben, worauf sie hinleben und -denken und -fantasieren können. Und das funktioniert nach wie vor. Es geht halt unter der Überschrift, dass die Welt veränderbar ist, und dass man nicht aufgeben darf.
von Billerbeck: Volker Ludwig ist mein Gesprächspartner. Nach über 42 Jahren am Kindertheater nimmt er als Intendant des Berliner GRIPS Theaters seinen Hut. Wenn Sie so lange Theater gemacht haben, dann haben Sie ja erlebt, wie sich auch die Welt der Kinder total verändert hat, vor allen Dingen durch neue Medien. Es gibt ganz neue Herausforderungen, neue Probleme für Kinder. Hat sich da auch das Kindertheater verändert, gibt es neue Formen, die versuchen, Kinder anders anzusprechen?
Ludwig: Na ja, also, die neuen Medien sind natürlich auch Bestandteil und Inhalt der neuen Theaterstücke. Aber das Theater selbst funktioniert nach wie vor ungebrochen, gerade bei Kindern, die sonst nur vor der Mattscheibe sitzen, gerade weil es lebendige Menschen auf der Bühne sind. Und manchmal hört man auch vom Publikum, dass sie sagen: Die sind ja echt! Und das fasziniert sie ganz besonders. Es geht nach wie vor, man kann nach wie vor mit dem Finger schnipsen und es herrscht absolute Ruhe in dem großen Raum und dann sind die Kinder begeistert und fasziniert. Das haben wir ... Wir haben auch oft dran gezweifelt, aber die Reaktionen der Kinder haben sich im Grunde nicht geändert. Es ist nicht so, dass sie jetzt weniger konzentriert sind oder nach 30 Sekunden abschalten, weil sie irgendwo Clips gewohnt sind. Man kriegt sie genauso wie bisher.
von Billerbeck: Das heißt, Sie lieben Kinder auch mehr als Zuschauer als Erwachsene?
Ludwig: Sie ...
von Billerbeck: Sie mögen Kinder mehr, wenn die vor Ihnen sitzen, als Erwachsene?
Ludwig: Ja. Deswegen haben ja auch damals die Kabarettisten es vorgezogen, für Kinder zu spielen als für den höflichen Intellektuellen. Die sind gar nicht höflich. Bei Kindern merkt man sofort, wenn sie uninteressiert sind, dann werden sie nämlich laut und reden oder gehen raus oder gehen auf die Bühne, und das ist ein ständiger Kampf. Man muss also ständig gewinnen und man muss die Kinder gewinnen und der Erfolg ist dann auch entsprechend, die Begeisterungsfähigkeit der Kinder ist natürlich auch ein Vielfaches derer von Erwachsenen.
von Billerbeck: Es ist also viel härter für den Stückeschreiber und auch für den Schauspieler, für Kinder zu spielen?
Ludwig: Das ist richtig. Man darf auch nicht eitel sein, man muss das sehr genau beobachten, aber es wirkt sich auch entsprechend aus.
von Billerbeck: Es wurde über Sie gesagt, dass Sie, anders als andere Theatermacher Ihrer Generation, nicht zynisch und nicht bitter geworden seien über die Jahre. Wie haben Sie das geschafft?
Ludwig: Ach, das ist so eine Grundmentalität. Ich wollte mal Pfarrer werden, und in irgendeiner Weise bin ich das geworden. Ich kann gar nicht anders. Also, es gibt ja so einen Satz in der "Linie 1", wo ein Junge sagte, er hätte erkannt, dass alle Menschen mal kleine Kinder waren, die nur geliebt werden wollen.
von Billerbeck: Und der sind Sie immer noch, der kleine Junge?
Ludwig: Und das ist halt so, daran muss man halt immer denken, und dann ... Man muss auch seine Figuren lieben. Die werden nur gut und glaubwürdig und wahrhaftig auf der Bühne, wenn man also auch den miesesten Stänkerer weiß, warum er das ist und warum er so geworden ist. Sonst werden es auch keine runden Figuren.
von Billerbeck: Volker Ludwig war das, der Gründer und Intendant des legendären Berliner GRIPS Theaters, der nach 42 Jahren auf den Brettern aufhört. Was darf man Ihnen wünschen für die Zeit danach?
Ludwig: Ich bleibe im Theater, also, ich werde die Geschäftsführung weiter haben, das ist ja eine GmbH, da bin ich automatisch Geschäftsführer und gehe da nicht ganz weg. Und außerdem habe ich jetzt keine Entschuldigung mehr: Ich habe jetzt sehr viel mehr Zeit zum Schreiben und werde natürlich weiter Stücke schreiben, was ja mein eigentlicher Beruf ist.
von Billerbeck: Danke schön, Volker Ludwig!
Ludwig: Ich danke Ihnen!