Der Stil von Irina Rastorgueva ist atemlos und voll beißender Ironie. Sie weiß, wovon sie schreibt. Und sie ist empört über in den russischen Medien verbreitete Verschwörungsnarrative von der Sorte, Finnland wolle St. Petersburg zerstören oder der Westen sei mit „Raptoiden“ bevölkert, also von mit Hilfe von Weltraum-Gentechnik erzeugten Monstern, die Demokratie und Liberalismus anhängen.
Die Autorin wurde 1983 auf der Insel Sachalin geboren. Hier erlebte sie als Dozentin für Journalistik selbst die Anfänge der Repression. Aus jeder Zeile ihres Buchs „Pop-up-Propaganda“, in dem sie reale und autobiografische Schilderungen über das heutige Russland collagiert, spricht die Verbitterung über einen nihilistischen Machtapparat, der das Land mit Lügen vergiftet.
In den letzten zwanzig Jahren hat sich in Russland ein System entwickelt, das niemandem mehr eine Wahl lässt. Die Mehrheit der Bevölkerung hat überhaupt keinen Einfluss auf die politischen Prozesse im Land. Sie wird besteuert, in Kriegen getötet, in Gefängnissen gefoltert und muss sich täglich vor einem absurden propagandistischen Bombardement wegducken. Russische Wahlen werden mit gefälschten Stimmzetteln, Stimmenkauf und Manipulation von Wahlergebnissen absolviert.
Irina Rastorgueva
Propaganda macht Putin zum Schutzpatron
Der Kampf um die Unabhängigkeit, die nur Putin garantieren kann, die Freiheit der Russen, politische Entscheidungen zu treffen, anders als in Ländern, in denen westliche Kräfte Revolutionen inszeniert hätten – all diese Konzepte, stellt Rastorgueva fest, sind in der Propagandaerzählung verankert. Aus dieser Sicht wird Putin zum Beschützer der einfachen Russen und Vollstrecker des imperialen Geschichtsverständnisses.
LGBT-Themen stehen gesondert im Vordergrund, da der russischen Propaganda zufolge der Westen falsche Werte in der Ukraine einpflanzt, Schwulenparaden veranstaltet und die Bevölkerung korrumpiert. Der russische Einmarsch in der Ukraine hat auch einen massiven Propagandaprozess in den Schulen in Gang gesetzt. Den Kindern wird erklärt, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind und dass die Krim ein angestammtes russisches Gebiet ist. Lehrbücher rechtfertigen die Repressionen Stalins. Um die Abschlussprüfungen zu bestehen, müssen die Schüler die Propagandamythen auswendig lernen.
Irina Rastorgueva
Rastorguevas Grundthese lautet, dass sich Russland unter Putin in eine realitätsverfälschende Maschinerie verwandelt hat, die keinerlei Abweichung von den offiziellen Doktrinen duldet. Die russischen Medien sprechen von endlosen Erfolgen an der Front, Erfolgen im Weltraum, in der Wirtschaft. Und auch über den Kampf gegen innere und äußere Feinde.
Jetzt sät Putins Regierung Angstpropaganda nicht nur unter den eigenen Bürgern – es gibt auch Exportmöglichkeiten. Da sind zum Beispiel die Geiselnahmen, als die die Verhaftung von Bürgern aus Amerika, Deutschland, der Ukraine und anderen Ländern angesehen werden können. Ständig wird mit der Invasion von Nachbarstaaten gedroht und die nukleare Erpressung regelmäßig erneuert.
Irina Rastorgueva
Alternative Versionen ertränken die Wahrheit
Rastorgueva deutet Russlands Desinformationsproduktion als widersprüchlich und betrieben von Propagandisten, die abgründigen Spaß daran hätten, ihr volksverhetzendes Material, wie die Autorin zuspitzend sagt, auf die Menschheit loszulassen. Das Propagandamodell beruhe nicht so sehr darauf, den wirklichen Vorgang zum Schweigen zu bringen, sondern darauf, ihn in einer Lawine von alternativen Versionen zu ertränken. Korrektive, wie etwa die Stimmen von Wissenschaftlern, würden auf diese Weise außer Kraft gesetzt.
Früher musste sich die Wissenschaft an die marxistisch-leninistische Theorie anpassen, heute an die traditionellen Werte. Mit dem Tod der Wissenschaft und dem Ausbruch des Krieges blühen die Esoterik und der Okkultismus auf dem Äther der regierungsnahen Fernsehsender. Die Boulevardblätter schreiben doppelt so häufig über Hellseher. Zur gleichen Zeit wechselten über 50 Hellseher von der Erstellung von Horoskopen zu Kommentaren über den Krieg in der Ukraine. Möglich, dass sie demnächst in den Generalstab wechseln.
Irina Rastorgueva
Orthodoxe Kirche hat eigene Propaganda-Kanäle
Natürlich werde in Russland auch die Sprache manipuliert. Euphemismen helfen, Tatsachen zu glätten oder ins Gegenteil zu verkehren. Gleichzeitig seien der Jargon der Gosse und die Hassrede zu einem festen Bestandteil der Reden von Politikern geworden. Die orthodoxe Kirche halte keineswegs dagegen.
Die orthodoxe Kirche ist zur mithin staatlichen geworden. Propaganda und Religion verschmelzen in der nationalistischen Interferenz. Die Kirche verfügt über eigene Propaganda-Kanäle. Der Patriarch Kyrill hat den Krieg zum Kampf zwischen Gut und Böse erklärt, zwischen Russland und dem kollektiven Westen, gegen Homosexualität, Satanismus und den Anti-Christen.
Irina Rastorgueva
Rastorgueva weist auf die rassistische Rekrutierungspolitik ebenso hin wie auf die grassierende Korruption. Gleichzeitig werde das Weltbild jeden Tag durch die Propaganda neu erschüttert. Das schaffe Instabilität. Die Bevölkerung werde trotzdem stillhalten, glaubt sie. Denn es machten zu viele Menschen mit.
Die Autorin ist in ihrem Element, wenn es um die akribische Verarbeitung von Nachrichten, Studien und Mitteilungen von Menschenrechtsorganisationen geht. Eine klare Sortierung dieser Informationshappen ist nicht ihre Stärke. Dennoch ist „Pop-up-Propaganda“ als Abrechnung überaus lesenswert. Sie klärt im besten Sinne auf und stellt auch Forderungen an die zerstrittene Opposition, der ein Plan fehle. Ein wichtiges Buch über ein riesiges Land, das die Suche nach der Wahrheit aufgegeben hat.