Was bedeutet "Simulakrum"? Der Begriff ist vieldeutig. Seine Bedeutung ergibt sich im Kontext seines Gebrauchs. Der Medientheoretiker Jean Baudrillard etwa verstand darunter den gesellschaftlichen Effekt der Massenmedien: Bei der Konstruktion eines Bildes der Gesellschaft stellen sie eine "Kopie ohne Original" her. Die Eskalation der zirkulierenden Bildwelten erschwere es zunehmend zwischen Realität, Imagination und Abbild zu unterscheiden. Das Simulakrum ist diesem Verständnis nach der Realitätseindruck einer Endlosschleife von Bildern, die auf Bildern verweisen, die auf Bilder verweisen.
Irina Rastorgueva: "Das Russlandsimulakrum"
Russland als Simulakrum, als Bild ohne Original: Wir haben "Putin, Putin, Putin überall", sagt die Journalistin Irina Rastorgueva. © imago / ITAR-TASS / Alexander Shcherbak
Eine "Militärdiktatur" spielt absurdes Theater
10:13 Minuten
Für die Dramaturgin Irina Rastorgueva ist Russland ein "Land ohne Inhalt". Es erhalte Fassaden aufrecht, hinter denen nichts steckt. Putin halte das Land mit seiner nihilistischen Machtpolitik fest im Griff. Nur ein Umsturz könne da noch helfen.
Nur ein paar Beispiele, was in Russland allein im vergangenen Jahr geschehen ist: Die russisch-orthodoxe Kirche hat eine neue Regelung zur korrekten Durchführung eines Exorzismus vorgestellt. Die Moskauer Polizei sucht per Ausschreibung nach einem Scharfschützen für öffentliche Veranstaltungen. Zum Jahrestag des Kriegsendes sind Kindergartenkinder in Uniform durch die Straßen marschiert - die sogenannten "Babytruppen". Russische Bürger dürfen keine Hühner mehr auf Gartenland halten. Hinzu kommen diverse neue Verbote und Verhaftungen - und nicht zu vergessen: die Nominierung Putins für den Friedensnobelpreis.
Zu finden sind diese fast surreal anmutenden Beispiele in Irina Rastorguevas neuem Buch "Das Russlandsimulakrum". Die 1983 in Juschno-Sachalinsk geborene Journalistin, Literaturwissenschaftlerin und Dramaturgin legt darin eine Kulturgeschichte des politischen Protests in Russland vor.
Die Verhältnisse stehen Kopf
Der Blick auf ihre Heimat fällt denkbar ernüchtert aus: Als "Simulakrum" erscheint ihr Russland, als Land ohne Inhalt: "Es gibt keine Ideologie, es gibt keine demokratischen Institutionen, es gibt eigentlich - nichts. Alles Lüge."
Russland ist für sie eine Militärdiktatur, in der die Verhältnisse auf dem Kopf stehen: Die Polizei arbeite gegen die eigene Bevölkerung, lasse die wahren Verbrecher aber laufen. Gerichtsurteile stünden bereits vor der Verhandlung fest. Gesetze seien so flexibel formuliert, dass sie gezielt gegen die Bevölkerung gerichtet werden können. Demokratische Errungenschaften entpuppten sich als Fassade - nichts sei echt.
Die Sowjetunion habe der Bevölkerung noch ein ideologisches Glaubensangebot geboten - in Russland hingegen herrsche Nihilismus und Resignation: "Putin ist einfach ein Bandit - und Banditen wollen immer Macht und Geld haben."
Alles Theater
In ihrem Buch arbeitet die Dramaturgin auch die Parallelen zwischen Theater und russischen Gerichtsprozessen heraus. "In der Sowjetunion waren Gerichtsprozesse episches Theater. Heute ist es ein Zirkus. Wir können das nicht mehr miteinander vergleichen. Das klingt vielleicht witzig, aber episches Theater hat eine Dramaturgie. Aber wenn wir in Absurdität leben, gibt es keine Dramaturgie mehr."
Wenn die Politik aber zum bloßen Theaterspektakel wird, gerate das politische Theater selbst an die Grenzen seiner Wirkkraft, glaubt Rastorgueva. Angesichts der erdrückenden Selbstinszenierungen der russischen Politik könne "Theater als Theater und als Kunst nicht mehr viel erreichen."
Subversives Potenzial im Netz?
Aber vielleicht kann die Online-Kultur der Memes kritisches Potenzial entfalten? Rastorgueva ist in ihrer Einschätzung vorsichtig: "Das ist eigentlich nur eine Reaktion. Die Leute müssen irgendwie auf diese Absurdität reagieren." Der Humor der Memes könnte allerdings tatsächlich im Kleinen Wirkung entfalten, etwa um eine junge Protestgeneration nachwachsen zu lassen.
Dem stehen allerdings Zahlen gegenüber, dass heute jeder zehnte Mann beruflich in den Sicherheitsapparat des Staates eingebunden sei. Ob Humor im Netz oder Protest auf der Straße: "In dieser Konstruktion gibt es keine Möglichkeit, etwas richtig zu machen."
Resignation oder Revolution
Entsprechend brutal fallen Russlands Repressalien aus. Viele verlassen das Land oder müssen ins Gefängnis. Auch unter dem Eindruck der im Grunde wirkungslosen Protestbewegung der letzten Jahre müsse daher klar sein: "Wenn all diese Leute auf die Straße gehen, muss es ein Kampf sein. Es geht nicht friedlich." In Russland lasse sich Macht "nur durch Terror" halten. Nur eine Revolution, ein Sturz Putins könne die Verhältnisse bessern.
Doch stellt sich hier die Frage, wer Putin überhaupt nachfolgen solle - "wir haben nur Putin, Putin, Putin überall. Das ist ein Problem: dass Leute keine andere Möglichkeit sehen. Das ist schrecklich."
Irina Rastorgueva: „Das Russlandsimulakrum. Kleine Kulturgeschichte des politischen Protests in Russland“
Matthes & Seitz, Berlin 2022
274 Seiten, 20 Euro