Irina Scherbakowa im Exil

"Meine Heimat ist Moskau"

06:15 Minuten
Die russische Bürgerechtlerinund Mitbegründerin von Memoria, Irina Scherbakowa, steht vor der Friedrich Schiller Universität in Jena. Sie ist Mitbegründerin von Memorial.
Irina Scherbakowa lebt zur Zeit in Weimar und hat eine Gastprofessur an der Universität Jena. Die meiste Zeit aber ist sie unterwegs – zu Podien, Vorträgen, Vorlesungen, Diskussionen. © picture alliance / dpa / Bodo Schackow
Von Henry Bernhard |
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Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Mitgründerin Irina Scherbakowa lebt im deutschen Exil. Sie ist dort viel unterwegs und tritt bei Veranstaltungen auf. Unser Korrespondent traf sie im Zug.
Irina Scherbakowa findet es selbst noch merkwürdig. Nach jahrelanger Beschäftigung mit russischer Exilliteratur ist die russische Bürgerechlerin nun selbst Exilantin. Die Germanistin, Übersetzerin, Historikerin und Mitgründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial hat Opfer des Stalinismus befragt, deren Geschichten aufgeschrieben, vielen Toten ihre Namen wiedergegeben.

Ausreise mit zwei Koffern

Zunächst war sie im März, kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, mit ihrem Mann nach Israel gegangen, lebt zurzeit aber in Deutschland. Nach dem Verbot und der Auflösung von Memorial war es ihr in Putins Russland zu gefährlich. Mit nur zwei Koffern machte sie sich auf den Weg.
Dass Memorial den diesjährigen Friedensnobelpreis verliehen bekommt, hat sie in Deutschland erfahren und ist von dort aus zur Verleihung nach Oslo gereist.
Scherbakowa lebt zur Zeit in Weimar und hat eine Gastprofessur an der Universität Jena. Die meiste Zeit aber ist sie unterwegs – zu Podien, Vorträgen, Vorlesungen oder Diskussionen.

Arbeiten im Zug

Scherbakowa ist 73 Jahre alt und strahlt die Routine einer Großstädterin aus. Moskau ist ihre Stadt. Dort hat sie studiert, geschrieben, übersetzt, gelehrt. Schon in den 1970ern hat sie Opfer des Stalinismus interviewt und 1989 die Menschenrechtsorganisation Memorial mitbegründet. Sehr oft schon war sie zu Gast in Deutschland. Nun ist sie hier im Exil.
Seither verbringt sie etwa die Hälfte der Woche im Zug. "Ich lebe in der Deutschen Bahn, das ist wirklich wahr", sagt Scherbakowa. "Und ich kann hier eigentlich auch gut arbeiten."

Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat

"Heimat ist das natürlich nicht, und Heimat wird es nie wieder", sagt sie über ihren neuen Wohnort Weimar. "Meine Heimat ist Russ…, ist Moskau. Ich habe dort über 70 Jahre gelebt, bin dort geboren worden. Putin wird an der Sache auch nichts ändern können." Über ein mögliches Wiedersehen mit Moskau versucht sie zunächst nicht nachzudenken.
"Das ist eine sehr zerstörerische Geschichte. Und wenn mir plötzlich etwas einfällt, dass ich irgendein Buch brauche und ich weiß genau, wo das liegt." Ihre Wohnung ist auf eine seltsame Weise in Brand gesteckt worden, erzählt Scherbakowa. "Gott sei Dank sind die Bücher nicht abgebrannt, es war nur sehr viel Ruß und Wasser."

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Aber sie hat die Wohnung danach renovieren lassen. "Absolut ohne irgendeine Hoffnung, in der nächsten Zeit zurückgehen zu können, einfach als Voodoo, also im Glauben, dass es einmal passieren wird. Wann, weiß ich nicht."

Leben mit drei Handys

Ihre Familie ist verstreut, in Berlin, Tel Aviv, Jerusalem, New York. Kontakt hält sie über verschiedene Handys. Eines davon war neulich mal weg. "Mein Handy ist auch schon nach München gereist wie in der klassischen russischen Erzählung von Nikolai Gogol „Die Nase“, wo die Nase sich verselbständigt und irgendwie in der Stadt rumwandelt", erzählt Scherbakowa. "Der Hauptheld wacht auf und die Nase ist weg. Das war bei mir fast mit dem Handy so. Und ich habe drei. Ein israelisches, ein russisches, ein deutsches, also drei Handys, die an verschiedene Apps gebunden sind, die zu verschiedenen Staaten unterschiedlich arbeiten."
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