Erinnerungspolitik in Russland

Wird das Gedenken an den 9. Mai missbraucht?

07:09 Minuten
Die russische Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa
Die russische Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa setzt sich seit Jahren in der Gesellschaft "Memorial" für eine Aufarbeitung der Geschichte ein. Die angesehene Menschenrechtsorganisation wurde deshalb in Russland verboten. © imago / Sven Simon
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Das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs am 9. Mai werde in Russland instrumentalisiert, sagt die Historikerin Irina Scherbakowa. Was Putin aus dem Gedenktag gemacht habe, sei eine „Verhöhnung der Opfer“, findet die Memorial-Gründerin.
In Russland wird das Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs heute mit der traditionellen Militärparade in Moskau begangen. Anlässlich des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland marschieren Tausende Soldaten zum 77. Jahrestag über den Roten Platz.
Aufgefahren werden auch Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Raketenwerfer. Begleitet wird das ganze von einer militärischen Flugshow. Wegen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine kommt dem heutigen Gedenktag besondere Bedeutung zu.

Ein Tag des historischen Sieges

Jahrelang sei der 9. Mai nach dem Zweiten Weltkrieg kein Feiertag gewesen, sagt die russische Historikerin Irina Scherbakowa, Gründungsmitglied der angesehenen Menschenrechtsorganisation Memorial, die in Russland wegen ihrer aufklärerischen Arbeit inzwischen verboten ist. In der Stalinzeit sei es lange ein normaler Arbeitstag gewesen, weil die Erinnerung an die Tragödie des Krieges unerwünscht gewesen sei.

Welche Bedeutung hat der 9. Mai in Russland und in der Ukraine? Lesen Sie mehr dazu im Dlf-Dossier.

"Das war so in meiner Kindheit", erinnert sich Scherbakowa. "Ich bin Tochter eines Kriegsinvaliden." Ihr Vater sei schon mit 19 Jahren dazu geworden. Der 9. Mai sei vor allem der Tag der Trauer gewesen. "Vieles, was heute gesagt wird, ist zum Teil a-historisch." Für die sowjetischen Menschen sei es damals um deren Existenz gegangen.
Ein Marineinfanterist schwingt bei der Siegesparade in Wladiwostok eine Fahne mit einem roten Stern und Hammer und Sichel darauf.
Siegesparade in Wladiwostok zum 77. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland und des Endes des Zweiten Weltkriegs.© picture alliance / TASS / Yuri Smityuk
Sie selbst komme aus einer jüdischen Familie, in der ein Teil der Verwandtschaft während der deutschen Besatzung umgebracht worden sei, so Scherbakowa. "Deshalb war das natürlich ein Tag des Sieges und der Befreiung, ein Tag des Überlebens. Und die Menschen haben sich gefreut." Die Historikerin erinnert daran, dass es in der Sowjetunion 28 Millionen Opfer des Zweiten Weltkrieges gab.

Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial International wurde am Wochenende mit dem diesjährigen Theodor Heuss Preis geehrt. Die in Russland inzwischen verbotene Organisation wurde als weltweites Vorbild für Zivilcourage und mutige Menschenrechtsarbeit gewürdigt sowie für die Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit.

Kritisch sieht Scherbakowa, wie dieser Sieg über Nazi-Deutschland seither missbraucht wurde. "Das ist ein Missbrauch, erst mal von Stalin und dann von den anderen Politikern." In den 1990er-Jahren habe es nach dem Ende der UdSSR in den unabhängig gewordenen Staaten noch eine geteilte Erinnerung gegeben.

Kein gemeinsames Gedenken mehr

Mit dem Machtantritt von Präsident Wladimir Putin habe sich das Gedenken in den 2000er-Jahren auseinanderentwickelt. In der Ukraine wurden die historischen Archive zugänglich gemacht – anders als Russland, so Scherbakowa. Weil sich Russland immer stärker von der Demokratie abkehrte und immer stärker zu einem autoritären Staat wurde, während die Ukraine einen gegenteiligen Weg einschlug, habe sich auch das Verhältnis zur Vergangenheit verändert.

Der Verleger Wolfram Weimer und unser Korrespondent Thielko Grieß diskutierten in "Studio 9" über den Ablauf der Militärparade in Moskau und die Putin-Rede. Viele Beobachter hatten befürchtet, der Staatschef könne eine Generalmobilmachung ankündigen und der Ukraine offiziell den Krieg erklären. Stattdessen sei die Rede erstaunlich defensiv ausgefallen, so Wolfram Weimer.

Mit Blick auf die heutige Rede von Putin spricht Scherbakowa von einer "Verhöhnung der Opfer" im Zweiten Weltkrieg. Früher sei der Tag auch eine Erinnerung daran gewesen, wie wichtig der Frieden ist: "'Nie wieder!' – war die Parole." Das werde jetzt in das Gegenteil verkehrt und diese Art der Erinnerung werde "vernichtet".
(gem)

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