Iris Wolff: "Die Unschärfe der Welt"

Sagenhafte Aufrichtigkeit

05:56 Minuten
Cover von Iris Wolff "Die Unschärfe der Welt" vor Aquarell-Hintergrund
Schauplatz von Iris Wolffs Roman ist Siebenbürgen und das Banat in der Zeit zwischen der Herrschaft des rumänischen Königs Michael und dem Sturz des Ceaușescu-Regimes. © Cover: Klett-Cotta / Collage: Deutschlandradio
Von Carsten Hueck |
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Iris Wolff erzählt das vergangene Jahrhundert als Familiengeschichte. Schauplatz und Echoraum sind dabei Siebenbürgen und das Banat. "Die Unschärfe der Welt" ist ein intimer, tiefernster und enorm sinnlicher Roman.
"Die Erinnerung ist ein Raum mit wandernden Türen" – poetische Sätze wie dieser, der ebenso Auftakt eines Gedichtes sein könnte, sprachlich reduziert und zugleich von nicht sofort auslotbarer Tiefe, finden sich viele in Iris Wolffs neuem Roman "Die Unschärfe der Welt".
Nicht verstreut, nicht als Sentenz herausposaunt, sondern als eine dem stillen Erzählfluss zugehörige, leise Wellenbewegung, hervorgerufen nur durch den Flügelschlag eines Schmetterlings: Ob solche Bewegung Ergebnis oder Ausgangspunkt weiterer Dynamiken ist, erfährt man beim aufmerksamen Weiterlesen.
Sieben Kapitel, in sich geschlossen, aber miteinander verbunden, sieben unterschiedliche Perspektiven von Figuren, die alle etwas miteinander zu tun haben, bilden den äußeren Rahmen. Schauplatz ist Siebenbürgen und das Banat in der Zeit zwischen der Herrschaft des rumänischen Königs Michael und dem Sturz des Ceaușescu-Regimes. Fast ein ganzes Jahrhundert erzählt Iris Wolff, die 1977 in Siebenbürgen geboren wurde und 1985 nach Deutschland emigrierte, als Familiengeschichte.

Politische Verwerfungen

In jedem Kapitel steht eine andere Generation im Mittelpunkt. Sie neigt sich jeweils vor und zurück. Auch wenn einer der Protagonisten schließlich auf eine Nordseeinsel flieht oder am Ende die Familie in Süddeutschland lebt, bleiben Siebenbürgen und das Banat, das "Land, in dem mehr Schafe als Menschen lebten", stets der Echoraum, aus dem Gefühle, Bilder und Wahrnehmungen in die Gegenwart deuten. Es ist eben nicht das Celansche "Land, in dem Menschen und Bücher lebten", sondern eine dörfliche Ödnis, ein raues Randgebiet, von Bergen und Flüssen begrenzt.
Das Wasser ist eines der Motive, die sich in unterschiedlicher Form durch das Buch ziehen. Man kann darin umkommen, es lockt wie die Freiheit, ist gefährlich wie der Tod. Oder umgekehrt. Unterkühlt und in Kristallform, als Schnee, umgibt es die Pfarrersfrau Florentine, die schwanger sich von einem Pferdeschlitten ins Krankenhaus bringen lässt.
Schnee ist auch das erste, überraschende Wort, das ihr Sohn einmal sagen wird. Schneetreiben hält viele Jahre später dessen Tochter dazu an, nach einem gescheiterten Konzertbesuch mit Freunden auf einer bundesdeutschen Autobahnraststätte zu übernachten. Iris Wolff webt viele solcher motivischen Fäden und Anknüpfungspunkte in ihren Text. Sie berichtet auch von den politischen Verwerfungen, den Ausläufern des Zweiten Weltkrieges, den Spitzeln und Folterern der Securitate, von waghalsiger Flucht durch den Eisernen Vorhang, dem Untergang des kommunistischen Systems in Osteuropa.

Klarheit und Konsequenz im Handeln

Aber diese Ereignisse werden nicht als Sensationen wahrgenommen, sondern sind einfach nur Teil der Biografie ihrer Figuren. Die stehen im Mittelpunkt. Ihre Gefühle, ihre Beziehungen, ihre Würde und Eigenart. Ihre Trauer und Sehnsucht ebenso wie ihre Lust und ihre Lebenstüchtigkeit.
Iris Wolff hat einen intimen Roman geschrieben, mit selbstauferlegter Zurückhaltung, tiefernst und sinnlich. Natürlich durchziehen Brüche das Leben der Protagonisten, Kultur-und Klassenunterschiede, politische Verhältnisse und deren Auswirkungen werden dargestellt, auch Gewalt und Verrat.
Aber am Ende spürt man, trotz Unschärfe der Welt - die Schicksal, Zufall, Gott und der Politik geschuldet ist - doch Klarheit und Konsequenz im Handeln der Figuren, eine beinahe sagenhafte Aufrichtigkeit, die vielleicht nur aus diesem Winkel Europas stammen kann, in dem auch Iris Wolff geboren ist. In ihrer Literatur formt sie ihn sanft und souverän zu einem nahen Ort.

Iris Wolff: "Die Unschärfe der Welt"
Klett-Cotta, Stuttgart 2020
213 Seiten, 20 Euro

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