Die Juden von Belfast
Mitte des 19. Jahrhundert gründeten deutsche Kaufleute die jüdische Gemeinde in Belfast. Heute zählt sie rund 80 Mitglieder. Und die fühlen sich in der Stadt gut aufgehoben.
Während sich viele jüdische Gemeinden in ganz Europa hinter Sicherheitsschleusen und hohen Mauern verschanzen, bleibt die Gemeinschaft der rund 80 Belfaster Juden entspannt. Rabbiner Daniel Singer geht in seiner ultraorthodoxen schwarzen Tracht problemlos in die Stadt. "Die Leute grüßen mich in meiner offensichtlich jüdischen Kleidung freundlich", sagt der 59-Jährige, "aber wir bleiben wachsam." Von der nordirischen Polizei fühlt er sich gut beschützt.
Dienstags-Schule im jüdischen Gemeindezentrum am Stadtrand von Belfast. Rund zehn Teilnehmer lauschen dem Vortrag des ultraorthodoxen Rabbiners David Singer über die Symbolik des jüdischen Kalenders.
Ein kräftiger Mann schreibt besonders aufmerksam mit: Der 43-jährige Robin Linström möchte Jude werden:
"Meine Familie ist im 19. Jahrhundert aus dem von Russland kontrollierten Finnland geflohen und hat ihren Namen hier geändert. Das habe ich erst vor wenigen Jahren herausgefunden. Mein Ur-Urgroßvater war Jude. Wegen der Verfolgung in Russland hat er seinen Namen geändert. Dann hat er eine Belfasterin geheiratet und die jüdische Tradition ist in der Familie verloren gegangen."
Aufgewachsen ist Linstrom in einer protestantischen presbyterianischen Gemeinde. Der untersetzte, bärtige Mann spricht leise, langsam und bedächtig, als wäge er jedes Wort sorgfältig ab. Wie sein Bruder hat er in der britischen Armee gedient, auf Seiten der Krone und für den Verbleib Nordirlands bei Großbritannien.
"In der Kirche habe ich viel über das Alte Testament gelernt. Nach dem, was wir hier alles durchgemacht haben - mit den Unruhen und dem Terrorismus -, liegt es mir nahe, für Israel einzutreten. In der Bibel habe ich Gottes Gebot gelesen. Es fordert uns auf, für sein Volk einzustehen. Jetzt gehe ich den nächsten Schritt und werde einer dieses Volkes. Es geht nicht darum, heute christlich und morgen etwas anderes zu sein, sondern vom Aufstehen bis zum Schlafengehen so zu leben, wie Gott es von uns wünscht. Und das ist für mich das Judentum."
Obwohl militante Loyalisten gerne israelische Fahnen an ihre Häuser hängen, sind einige Antisemiten.
"Manche haben mir Hakenkreuze an die Hauswand, auf meine Fenster, auf meine Tür gesprüht: 'Tötet alle Juden, Juden raus.' Seit den Karfreitagsabkommen ist das sogar noch mehr geworden. Die Polizisten nennen es Hassverbrechen. Ich hatte Angst vor allem um meine Tochter, schlaflose Nächte. Vor allem habe ich Angst, dass sie einbrechen und meiner Tochter etwas antun. Die Loyalisten hängen israelische Fahnen auf, aber sie mögen keine Juden und arbeiten mit rechtsextremistische Gruppen aus England zusammen."
In der jüdischen Gemeinde fühlt sich Linstrom sicher aufgehoben.
"Das Besondere an der Gemeinde hier ist ihr Zusammenhalt"
Rabbiner David Singer führt die Gemeinde nach orthodoxen Regeln, will aber niemandem sein Verständnis vom Judentum aufzwingen.
"Ich verstehe mich als ultraorthodox. Aber das ist meine Einstellung. Die Synagoge führe ich nach orthodoxen Richtlinien. Männer und Frauen sitzen getrennt. Die Männer führen durch den Gottesdienst. Aber die Leute sind, wie sie sind. Zwei Juden, drei Meinungen. Mindestens. Entscheidend ist, dass die Leute, die Juden sind, sich der Gemeinde anschließen können, egal wie religiös sie sind."
Mitte des 19. Jahrhundert gründeten deutsche Kaufleute die jüdische Gemeinde in Belfast. In der Innenstadt erinnert der Jaffe-Brunnen an den Gründer Daniel Joseph Jaffe. Sein Sohn Otto Jaffe wurde Anfang des 20. Jahrhunderts Oberbürgermeister. Gustav Wolff, deutschstämmiger Gründer der Werft Harland & Wolff, hat ebenfalls jüdische Wurzeln. 1912 lief beim damals weltgrößten Schiffbauunternehmen die "Titanic" vom Stapel.
Während des Zweiten Weltkriegs nahm die Gemeinde mit Unterstützung aus der Stadt jüdische Flüchtlinge vom Europäischen Festland auf. 80 von ihnen betrieben eine Farm nach dem Muster der Kibbuzim. Nach Beginn des Bürgerkriegs 1969 zogen vor allem junge Juden aus Belfast weg. Die Gemeinde schrumpfte schnell. Gespalten hat sie sich nie.
"Das Besondere an der Gemeinde hier ist ihr Zusammenhalt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als die ersten Juden nach Belfast kamen, gibt es hier nur eine Synagoge", erzählt Rabbi David Singer.
"Es hat immer mal wieder Versuche gegeben, eine zweite Synagogengemeinde einzurichten. Es hat aber nie lange gedauert, bis sie wieder zurückgekommen sind. Ich denke, das ist für Juden außergewöhnlich."
Singer sieht mit seinem weißen Rauschebart aus wie ein Stedtl-Rabbi aus den Romanen seines osteuropäischen Namensvetters. Er ist in Birmingham aufgewachsen und hat lange in Jerusalem gelebt. In druckreifem Englisch doziert er im holzvertäfelten Studierzimmer.
Der Lärm des Nahost-Konflikts dringt nur leise an die Mauern und Fenster des 1964 erbauten Gemeindezentrums. Im August haben Unbekannte die Gedenkplakette für Chaim Herzog in der Belfaster Innenstadt aus der Wand seines Geburtshauses gebrochen und gestohlen. Israels ehemaliger Staatspräsident kam 1918 in Belfast zur Welt. Größere Angriffe auf das jüdische Gemeindehaus gab es bisher nicht. Ein einziges Mal habe jemand ein Fenster eingeworfen, erzählt der Rabbiner
"Im Moment ist die Bedrohung gering. Ich bin im ständigen Kontakt mit der nordirischen Polizei. Wir haben Überwachungskameras. Und die Polizei fährt hier in der Gegend häufig Streife. Im Moment reicht uns das."
Dennoch bleibt die Gemeinde wachsam.