Irlands dunkle Geschichte

Jahrhundertelang britische Kolonie in Europa

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Die Skulpturen des "Irish Famine Memorial" in der irischen Hauptstadt Dublin
"Irish Famine Memorial" in Dublin: Kalt und mitleidlos reagierte die britische Regierung in den 1840er-Jahren auf die irische Hungersnot. © picture-alliance/ dpa / PA Niall Carson / EMPICS
Von Martin Alioth |
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Wenn Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung die Merkmale des Kolonialismus sind, dann gehört Irland zu dessen Opfern. Diskriminierung, Entrechtung und Enteignung durch die Briten bestimmten das Leben der Iren bis ins 20. Jahrhundert.
Der Historiker Timothy White setzt die Koordinaten: "Irland wird seit Langem als innere Kolonie der Briten bezeichnet. Obwohl Irlands Stellung als Kolonie komplex, zweideutig und folglich umstritten ist, sehen viele die Iren als eine nationale Gruppierung, die vom britischen Imperialismus unterdrückt wurde und daher Widerstand leistete. Irland darf also als kolonisiertes Gebiet gelten, während die Republik Irland nicht selten als postkolonialer Staat bezeichnet wird, und häufig mit Indien verglichen wird."
Der englische Kolonialismus in Irland beginnt nicht mit den Normannen. Er setzt im 16. Jahrhundert ein, als die englische Krone systematisch englische Siedler – Kolonisten – auf die Nachbarinsel verschifft, um rebellische Gemüter abzukühlen.
Seit 1541 nennt sich der englische König Heinrich VIII. auch "König von Irland". Die Glaubensspaltung und die "Plantation of Ulster", die systematische Besiedlung des irischen Nordostens durch schottische und englische Wehrbauern nach 1603, säte die Drachensaat.

Unverwechselbare Variante des Kolonialismus

Zwei Merkmale machen die irische Variante des Kolonialismus unverwechselbar: Die Engländer ersetzten einheimische, irische Bauern mit Siedlern von der Nachbarinsel; der Mann hinter dem Pflug wurde ein Fremder. Das geschah sonst eher selten, beispielsweise in Rhodesien, Algerien und Kenia.
In Nordirland stießen die Kolonisatoren überdies auf Einheimische, die sich äußerlich nicht von ihnen unterschieden: Der Glaube wurde fortan zum Unterscheidungsmerkmal, wo andernorts die Hautfarbe genügte.
Ohne den Kolonialismus, sagt der Historiker White, hätte der katholische Glaube niemals seine identitätsstiftende Wirkung in Irland entfaltet: "Die echte Herausforderung der katholischen Identität der Iren begann, als Heinrich VIII. sich zum Oberhaupt der anglikanischen Kirche erklärte. … Im Gefolge der systematischen Kolonisierung des Nordostens erfolgte ein Konflikt zwischen dem religiösen Glauben auf der einen und dem politischen Zugehörigkeitsgefühl auf der anderen Seite."

Entrechtung und Enteignung der Katholiken

Im 17. Jahrhundert beschleunigte der englische Diktator Oliver Cromwell während seines brutalen Wirkens in Irland die Entrechtung und Enteignung der Katholiken. Das beschlagnahmte Land verschenkte er an seine Soldateska. Die Diskriminierung wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts systematisiert. Die sogenannten Penal Laws, die Strafgesetze, verboten den Katholiken Grundbesitz und die Ausübung der meisten freien Berufe: Sie wurden zu Untertanen zweiter Klasse.
Diese Zwangsmaßnahmen wurden im Verlaufe des 19. Jahrhunderts großteils wieder abgeschafft, doch die weniger sichtbare, wirtschaftliche Ausgrenzung blieb intakt: Das heutige Nordirland nahm dank seiner protestantischen Eliten vollberechtigt an der britischen Industrialisierung teil und baute blühende Werften, Textilfabriken und dergleichen auf, während der Rest der Insel durch subtile Maßnahmen dazu gezwungen wurde, weiterhin billige Nahrungsmittel für die englische Industriearbeiterschaft zu exportieren.
Die unter Engländern weitverbreitete Überzeugung, den Iren damit einen Gefallen zu erweisen, wurde vom gebürtigen Iren, George Bernard Shaw, in seinem Theaterstück "John Bull’s Other Island" gnadenlos verspottet.
Hier lässt Shaw den englischen Romantiker Tom Broadbent sprechen: "Wir Engländer müssen unser Talent zu regieren, großzügig jenen Nationen zur Verfügung stellen, die leider weniger gut damit ausgerüstet sind, auf dass diese sich – völlig frei und ungehindert, natürlich – zum englischen Niveau der Selbstverwaltung entwickeln können."

Die Iren hungern, die Briten bewachen die Kornkammern

Mit zynischer Geringschätzung reagierte die britische Regierung auf die große irische Hungersnot in den 1840er-Jahren. Während die Iren auf der Straße und in den Booten nach Amerika verhungerten, bewachten die Briten ihre gefüllten Kornkammern, um die Weltmarktpreise nicht zu gefährden. Die britische Mitschuld an rund zwei Millionen Todesopfern vergiftete das bilaterale Verhältnis dauerhaft.
Systematisch wurde der Widerstand gegen die Fremdherrschaft im Zuge der irischen "Renaissance", der nationalen Selbstfindung. Kultur, Sprache, Sport, Religion und vieles andere mehr wurden zu Alleinstellungsmerkmalen der irischen Identität, der irischen Andersartigkeit – ganz im Gegensatz zu Schottland, wo dieser Prozess weit weniger gradlinig verlief.
Allein, vollständig gelang die irische Abnabelung nie, daher trifft der Begriff der postkolonialen Gesellschaft auch auf Irland zu.

Unabhängigkeitskrieg, Waffenstillstand und die Teilung der Insel

Das Ergebnis ist keine neue selbstbewusste irische Identität im Frieden mit sich selbst, sondern ein hybrides Konstrukt, ein von postkolonialen Unsicherheiten geprägtes Selbstverständnis.
1916: der Osteraufstand.
1919: der irische Unabhängigkeitskrieg gegen die britische Herrschaft.
1921: Waffenstillstand. Im Dezember begründet der anglo-irische Vertrag den irischen Freistaat. Er bedeutet zugleich die Abspaltung Nordirlands, die Teilung der Insel.
Der junge irische Staat versucht, seine koloniale Abhängigkeit zu überwinden, indem er instinktiv das Gegenteil dessen wählt, was die Briten hinterlassen haben. Agrarisch, selbstgenügsam, katholisch, autoritär, anti-intellektuell und folkloristisch gebärdet sich diese Gesellschaft, die ihre skeptische Haltung gegenüber dem Staat beibehält, lange nachdem der letzte Brite heimgekehrt ist.
Die Spuren dieser einseitigen Fixierung auf das britische Modell sind noch in den 1980er-Jahren erkennbar, beispielsweise in der Behauptung eines irischen Abgeordneten, Irland sei außergewöhnlich, weil es eine geschriebene Verfassung habe. Das Gegenteil war richtig, aber Großbritannien hat eben keine.

Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft bringt Emanzipation

In der Rückschau waren die ersten 50 Jahre der Unabhängigkeit bloß eine lange, etwas sterile Warteperiode. Erst der Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1973, meint der Sozialwissenschaftler John Fitzgerald, brachte die Emanzipation. Er hatte im Jahr zuvor seine erste Stelle im irischen Finanzministerium angetreten und hatte das "alte" System folglich gerade noch erlebt.
Für den öffentlichen Dienst, den Staatsapparat, habe die Zugehörigkeit zu Europa die Befreiung vom kolonialen Vermächtnis gebracht. Irland fand seine Unabhängigkeit dank und in Europa.
Heutzutage, nachdem die ehemalige koloniale Mutter eben dieses europäische Integrationswerk verlassen hat, gilt diese Aussage umso mehr.
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