Literarisch schreiben über den Schrecken
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Die Schriftstellerin Ronya Othmann las in Klagenfurt ihren Text über den Genozid an den Jesiden durch die Terrormiliz IS - und gewann den Publikumspreis. Dass die Jury Schwierigkeiten hatte, ihren Beitrag zu bewerten, habe sie sehr überrascht.
Frank Meyer: Am kommenden Samstag jährt sich der Völkermord an den Jesiden im Sindschar-Gebirge zum fünften Mal. Am 3. August 2014 hatte die Terrormiliz Islamischer Staat die Jesiden überfallen und 5000 Männer und Jungen ermordet. Mehr als 7000 Frauen und Kinder wurden entführt, Hunderttausende wurden vertrieben aus ihrer Heimat.
Die Autorin Ronya Othmann hat einen Text über diesen Völkermord geschrieben und bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt vorgelesen. Dort hat sie den Publikumspreis für diesen Text bekommen, und jetzt ist sie hier bei uns im Studio. Können Sie uns vielleicht zuerst erzählen, was Sie selbst verbindet mit den Jesiden?
Ronya Othmann: Mein Vater ist Jeside aus Hassake, also in Syrien aufgewachsen und geboren, und meine Großeltern sind Jesiden, deswegen bin ich Tochter eines Jesiden.
Besuch bei Verwandten, die aus Sindschar geflohen sind
Meyer: Und der Jahrestag jetzt am Samstag, wissen Sie schon, was Sie da tun werden, gibt es da Formen des Erinnerns?
Othmann: Es gibt ein paar Gedenkveranstaltungen, ich weiß auf jeden Fall, dass in Stuttgart, soweit ich weiß, eine stattfindet, ich selber kann da aber leider nicht sein, weil ich auf einem kurdischen Filmfestival lesen muss.
Meyer: Lassen Sie uns über Ihren Text reden, den Sie geschrieben haben für den Wettbewerb in Klagenfurt. "74" heißt der Text, wie kam es zu Ihrer Entscheidung, so einen Text über diese Ereignisse für diesen Wettbewerb zu schreiben?
Othmann: Letztes Jahr im Sommer war ich zum ersten Mal wieder in Kurdistan. Ich war früher jedes Jahr bei meinen Großeltern im Dorf, in Syrien aber, und ich habe auch Familie im Irak und auch Verwandte aus Sindschar. Ich bin also zum ersten Mal dann jetzt wieder gefahren. Wir haben dann Freunde von meiner Familie besucht, die irgendwie im Camp leben, meine Verwandten, die aus Sindschar geflohen sind.
So wurde ich Zeugin von dem Genozid, also von dem, was jetzt davon 2018 so übrig geblieben ist, und wollte dann darüber schreiben, aber habe gemerkt, ich kann halt keinen fiktiven, ausgedachten Text produzieren, weil die Zeugenschaft schwer wiegt.
"Ich hatte das Gefühl, ich muss das aufschreiben"
Meyer: Sie erzählen ja da in diesem Text von unglaublich grausamen Dingen, das ist auch schwer zu lesen, schwer auszuhalten – von Menschen, denen die Köpfe abgeschlagen werden durch die IS-Milizen, Sie erzählen von Frauen und Mädchen, die immer wieder vergewaltigt wurden. Wie schwer ist Ihnen das gefallen, diesen Text zu schreiben?
Othmann: Also das zu sehen, war, glaube ich, schwer, aber ich glaube, nachdem ich das gesehen hatte, hat es für mich nicht mehr so eine Rolle gespielt, ob das für mich schwer ist oder nicht, sondern ich hatte das Gefühl, ich muss das aufschreiben. Dadurch, dass ich das gesehen habe, bin ich ja Zeugin davon geworden, und das bringt auch eine Verantwortung mit sich.
Meyer: Und mit "sehen" meinen Sie, "davon erzählt bekommen" und "Fotos sehen von Menschen, die getötet wurden" – meinen Sie das mit sehen oder Zeugin werden?
Othmann: Ja, genau, die Fotos gezeigt zu bekommen, aber auch in den Camps zu sein, wo halt nur noch von einer Familie die Mutter und der Sohn übrig geblieben sind zum Beispiel, oder die Situation in den Camps zu sehen oder die Situation an der Front zu Mossul zu sehen. Das hat, glaube ich, selbst die Jesiden getroffen, die nicht davon so direkt betroffen waren.
Meyer: Wenn ich das richtig verstanden habe, Sie waren ja jetzt da nicht bei einer Art Recherchereise, sondern Sie waren da, haben Verwandte besucht, und dieses Thema ist einfach unvermeidlich. Man kommt automatisch darauf, weil es sich so tief eingeschrieben hat?
Othmann: Das war das eine, aber zum anderen habe ich dann schon angefangen, Interviews zu machen, weil ich das Gefühl hatte: Okay, ich bin halt ständig damit konfrontiert. Es ist zum Beispiel so: Wenn mein Cousin zweiten Grades irgendwie im Auto irgendwann schreit, dass man jetzt nicht mehr über Shingal reden soll, weil halt ständig darüber geredet wird und das für ein Kind zum Beispiel auch sehr belastend ist, und aus diesem Grund hab ich dann auch angefangen, weiter zu recherchieren und mit Leuten zu sprechen. Also dadurch, dass ich schreibe, hatte ich das Gefühl, bin ich so wie verpflichtet, nachdem ich das gesehen hatte, dieses Thema zu bearbeiten.
Tochter eines Jesiden als persönliche Position
Meyer: Als Sie den Text dann in Klagenfurt vorgetragen haben beim Bachmann-Wettbewerb, da hatte die Jury erkennbare Schwierigkeiten, sich zu verhalten zu diesem Text, was ich ehrlich gesagt auch verstehen kann, nachdem ich ihn selbst gelesen habe. Es wurde zum Beispiel ja da die Frage aufgeworfen, ein Text, der von so großem Leid und von so Entsetzlichem erzählt, kann man den überhaupt bewerten, kann man den kritisieren. So eine Diskussion, wie hat die dann auf Sie gewirkt, als Sie da saßen?
Othmann: Ich war in dem Moment sehr überrascht, weil ich irgendwie gedacht habe: 'Ich bin da hingegangen, um meinen Text zu lesen.' Also man weiß ja, dass es da bewertet und über den Text dann geredet wird, und er wurde ja auch von einem Jurymitglied ausgewählt, sonst hätte ich ja nicht lesen können – vielleicht auch ein bisschen naiv, aber ich hab mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht damit.
Genau, Insa Wilke (die Ronya Othmann als vortragende Autorin mit ihrem Text vorgeschlagen hatte - Anm. d. R.) hatte ja auch gesagt, dass man dann, wenn man eben nicht literaturkritisch darüber sprechen kann, dass man den Text dann auch aus der Literatur so ausschließt. Und meine persönliche Position ist: Tochter von einem Jesiden, also Jesidin. Das ist meine Lebensrealität, und andere Leute, die nicht diese Lebensrealität haben, schreiben ja auch über ihre Themen und teilweise auch nicht fiktional.
Meyer: Also Sie haben sich quasi ausgeschlossen gefühlt durch diese Diskussion mit der Geschichte Ihrer Familie und der Menschen, die Sie kennen, durch diese Diskussion in der Jury?
Othmann: Ja, könnte man so sagen. Ich bin ja noch relativ jung, aber ich schreibe jetzt auch so ein paar Jahre und hab ja auch am Leipziger Literaturinstitut studiert. Literarisch zu schreiben, ist eben das, was ich die ganze Zeit mache und natürlich dann auch über diese Sachen, die einem sich dann so aufdrängen. Ich könnte jetzt auch nicht über irgendwas anderes schreiben.
"Als Reportage würde der durchfallen"
Meyer: Was würden Sie denn sagen, wenn ich Sie selbst jetzt in diese Verteidigungsposition bringen darf, warum Ihr Text aber durchaus ein literarischer Text ist?
Othmann: Ich finde, so als Reportage würde der durchfallen. Es geht ja viel um die Frage: Wie findet man eine Sprache? Oder: Kann man überhaupt darüber sprechen? Für mich war dieser sprachliche Aspekt und auch dieser Rhythmus oder auch, wie ich den Text geschnitten habe – das sind ja immer so Absatzblöcke –, eine große Rolle gespielt. Für mich ist es nicht als journalistischer Text geschrieben.
Meyer: Ich würde es eben auch sagen, dass dadurch, dass Sie sich selbst als Person sichtbar machen in diesem Text, als Wahrnehmerin, eben auch mit der Sprachlosigkeit, mit der Sie zu kämpfen haben angesichts dieser Ereignisse, also indem Sie das zu einem subjektiven Text machen, ist es eben kein journalistischer Text und nimmt Möglichkeiten wahr, die journalistische Texte nicht haben.
Othmann: Genau. Und ich hatte auch überlegt, ob ich… Journalistisch wollte ich eigentlich darüber schreiben, aber ich hab das Gefühl, es gibt da Sprachversatzstücke, die dann immer so aneinandergebaut werden, und ich hab das Gefühl, das ist nicht meine Sprache und ist nicht meine Art, das Thema zu bearbeiten.
Meyer: Diesen Text gibt es jetzt, man kann den nach wie vor lesen, der steht auf der Homepage der Veranstalter bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur. Soweit ich weiß, bereiten Sie einen Roman vor, in dem es unter anderem auch um die Flucht Ihres Vaters gehen soll aus Syrien, wie er nach Deutschland gekommen ist. Werden Sie da noch einmal über den Völkermord an den Jesiden schreiben müssen, gehört das für Sie mit hinein, in diesen Roman?
Othmann: Ja, das ist auch noch mal Teil von dem Roman, aber es ist eine Geschichte von einer Person, die in Deutschland aufgewachsen ist, also auch kurdisch-jesidisch, aber der Genozid, sie sieht den nicht, das ist alles bis 2014.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.