Isabel Fargo Cole: "Die Goldküste"
© Matthes & Seitz Berlin
Die Spur des Goldrauschs
30:23 Minuten
Isabel Fargo Cole
Die Goldküste. Eine IrrfahrtMatthes & Seitz, Berlin 2022368 Seiten
34,00 Euro
Die mystischen Kräfte verstehen: Isabel Fargo Cole reist nach Alaska und erforscht die Geschichte ihres Gold suchenden Ururgroßvaters. Dabei sammelt sie nicht nur historische Splitter, sondern analysiert auch unsere Gegenwart.
„A.A. Fargo zieht das große Los“, lautete die Schlagzeile im „Livermore Herald“ vom 7. Dezember 1901. In der Arktis sei erneut Gold gefunden worden. Der frühere Livermorer habe dort innerhalb kürzester Zeit ein Vermögen gemacht. Auffallend an dem Artikel ist nicht nur der vermeintlich sachliche Tonfall.
Es gibt zudem einige Merkwürdigkeiten, was die Quellenlage angeht. Im Grunde beruht fast die ganze Geschichte auf den Aussagen eines einzigen Mannes, der auch noch als guter Freund von A.A. Fargo auftritt. Außerdem wird die Behauptung aufgestellt, man könne nicht sagen, wo genau sich das Goldvorkommen befinde, denn der Ort werde von seinem Entdecker „geheim gehalten“.
Zu den Leerstellen in der Familiengeschichte
Die Schriftstellerin Isabel Fargo Cole ist die Ururenkelin jenes Arva Alphonso Fargo. Immer wieder begegnete ihr der Gold suchende Vorfahr als halb realer, halb fantastischer Teil der Familiengeschichte. Als sie zu recherchieren anfing und die ersten Artikel las, fielen ihr bald schon die Ungereimtheiten in den Zeitungsberichten auf, ebenso die Leerstellen in den Erzählungen der Verwandten. Einer der Impulse für Cole, sich selbst auf die Suche zu machen.
So hat sie nicht nur eigens die Weiten Alaskas bereist (lustigerweise in Form eines ökologisch abgefederten Gruppenurlaubs mit ihren Eltern), sondern ist auch in Archive gegangen, hat Menschen befragt, zahllose Bücher gelesen und immer wieder Tage im Internet verbracht.
Zwischen Reisebericht und Abenteuerroman
Es hätte nahegelegen, die Unmengen an Stoff in die Form eines Reiseberichts, einer Abenteuergeschichte oder auch eines Familienromans zu bringen. Isabel Fargo Cole macht nichts davon. Sie schafft es großartigerweise doch, Versatzstücke all dieser literarischen Möglichkeiten in ihr Buch einzuspeisen.
In Anlehnung an ein Tagebuch ihrer Reise im Juli 2018 baut sie die Kapitelfolge anhand einiger Lebensstationen von Arva Fargo auf, die von seiner Heirat bis zur großen Ernüchterung nach den vermeintlichen Goldfunden reichen. Zusätzlich entwirft sie Portraits von Forschungsreisenden und Städten und untersucht immer auch Begriffe und Formen des Erzählens. Dabei könnte der Anspruch, den sie an ihre Erkundungen stellt, größer kaum sein: „Ich will die mystischen Kräfte verstehen, deren Spielball Arva war.“
Analyse der Geschichte und Gegenwart
Und das ist keineswegs Hybris. Arvas Aufbruch an den sagenumwobenen Goldstrand von Nome etwa verbindet Cole mit der Geschichte der großen Wirtschaftskrise von 1893. Zugleich verwandelt sie ihre historischen Untersuchungen in eine Analyse unserer Gegenwart. So zeigt sie, wie stark patriarchale und rassistische Denkmuster in die Ideologie des „Entdeckens“ eingeschrieben sind, was koloniales Handeln bedeutet und wie diese Momente mit der heutigen Klimakrise zusammenhängen.
Oder sie skizziert, dass die eigentliche Goldgrube weniger in den tatsächlichen Claims zu finden war, mit denen das Recht auf Abbau erworben wurde, sondern in der Industrie, die sich rund um den Mythos Goldrausch entwickelte. Sie diente einzig dazu, die Goldsucher auszunehmen. Und natürlich betrifft die Vorstellung „Alaska“ in eminenter Weise das Verhältnis der USA und Russland.
Utopie einer ganzheitlichen Gesellschaftsform
Bei all dem ist „Die Goldküste“ auch ein großes Buch über das Schreiben. Nicht von ungefähr hat Isabel Fargo Cole einen sehr geschmeidigen literarischen Zugang gewählt, der es ihr erlaubt, zwischen ganz unterschiedlichen Phänomenen und Wahrnehmungsweisen hin und her zu springen.
Am ehesten ähnelt ihr Buch einem Essay. Von den Gerüchten und Erfindungen, die die Goldsucher antrieben, schafft sie es etwa, einen Bogen zur Diskussion um Fakten und Fakes zu schlagen, die vor allem die Trump-Ära prägte.
Außerdem verknüpft sie dies mit einem Nachdenken über vermeintliche Gewissheiten und die wichtige Rolle von Lücken im Erzählen. Um schließlich die Utopie eines anderen, nicht entfremdeten Umgangs mit den Dingen anzudeuten, hinter der tatsächlich die Idee einer ganzheitlicheren Form von Gesellschaft aufscheint: ein Zusammenleben, das nicht von Machtverhältnissen geprägt ist.