Islamischer Feminismus im Umbruch
Wegbereiterin eines islamischen Feminismus: Amina Wadud leitet ein Freitagsgebet für Männer und Frauen. © picture alliance / AP / Kirsty Wigglesworth
Wie hält es der Koran mit den Geschlechtern?
08:32 Minuten
Lange Zeit haben muslimische Feministinnen darauf bestanden, der Koran sei kein patriarchalisches Buch, er würde nur so ausgelegt. Doch diese Überzeugung ist ins Wanken geraten – und zwar bei muslimischen Feministinnen selbst.
2005 macht eine muslimische Uniprofessorin aus den USA Schlagzeilen. Amina Wadud leitet ein islamisches Ritualgebet – vor einer gemischten Gruppe von Männern und Frauen.
In vielen Medienberichten heißt es: „Als erste Frau überhaupt“, was nicht stimmt, denn auch schon zur Zeit des Propheten Muhammad wird von einer Frau berichtet, die ein gemischtes Gebet leitet. Doch Amina Wadud ist eine der Ersten, die das öffentlich in der Moderne tut – und die Erste, die von einem weltweiten Medienecho begleitet wird.
Feministische Interpretation des Korans
Das Gebet fällt in eine Zeit des Aufbruchs muslimischer Feminist*innen. Die theologische Grundlage dieser Bewegung ist eine feministische Interpretation des Korans. Sie legt sich auf eine ganz bestimmte Annahme fest: „Geschlechtergerechtigkeit und Geschlechtergleichheit sind von Gott gewollte ethische Prinzipien, die Gott im Koran kommuniziert hat“, sagt Nimet Seker, Professorin für islamische Textwissenschaft an der Humboldt Universität in Berlin.
Das sei bei den feministischen Interpretationen als normative Kategorie vorausgesetzt, und mit dieser Prämisse gingen sie an den Koran heran, so Seker. Das bedeutet: Für die Feministinnen ist nicht der Koran frauenfeindlich oder patriarchal, sondern das wird nur in ihn hineingelesen. Deswegen, so die These, können Menschen den Koran heute auch ganz anders lesen, sogar als einen feministischen Text.
Eines der wichtigsten Werke dieser Strömung ist das Buch „Quran and Women“ der gerade erwähnten Islamwissenschaftlerin und Imamin Amina Wadud. Ein Beispiel ist der erste Vers der vierten Sure des Korans. Dort heißt es: „O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, der euch erschaffen hat aus einer einzigen Seele und aus dieser Seele ihren Partner erschaffen hat“.
In der traditionellen Exegese wurde diese Seele als männlich verstanden, als Adam, aus dessen Rippe Eva erschaffen wurde. Aber: Der koranische Text gibt das nicht her. Der Koran stellt hier keine Hierarchie zwischen den Geschlechtern her. Und grammatisch ist diese erste Seele sogar feminin, der aus ihr erschaffene Partner grammatisch maskulin.
Die Erfahrung, als Mensch vor Gott zu stehen
Vieles von dieser Bewegung wirkt bis heute weiter. Saboura Naqshband vom selbstorganisierten Kollektiv Berlin Muslim Feminists beispielsweise hat davon sehr profitiert – und gibt ihr Wissen in Vorträgen und Publikationen weiter.
Sie habe in queeren und feministischen muslimischen Communitys sehr wichtige religiöse Erfahrungen gemacht, sagt sie, „auch einfach deshalb, weil ich das Gefühl hatte, dass man als Frau oder eigentlich egal welches Geschlecht man hat, einfach vor Gott stehen kann. Und das war so eine Art Erfahrung von Menschlichkeit oder Vermenschlichung, die mir auch auf einer spirituellen Ebene sehr wichtig war.“
Doch bereits in den frühen 2000er-Jahren gab es Ansätze einer Kritik an der feministischen Methodik von Amina Wadud und anderen, die in den Folgejahren noch größer werden sollte. Diese Kritik kam allerdings nicht von außen, sondern von Teilen der muslimischen feministischen Bewegung selbst.
Das Problem: An manchen Versen haben sich die Interpretatorinnen die Zähne ausgebissen. Das berühmteste Beispiel: Vers 4:34. Da heißt es, die Männer haben Verantwortung über die Frau für die Frauen oder die Männer sind den Frauen übergeordnet, je nachdem, wie man das übersetzt und interpretiert, sagt Seker.
Streit um einen Koranvers über Mann und Frau
„Ganz am Ende des Verses stehen drei Maßnahmen für den Fall, dass die Frau widerspenstig ist, was auch immer das bedeuten soll: ‚Ermahnt sie, meidet sie im Bett oder trennt euch und schlagt sie‘“. So sei die mehrheitliche Interpretation.
Es gibt Wege, diesen Vers anders zu interpretieren. Man könnte das Wort für „schlagen“ auch mit „trennen“ übersetzen. Man könnte den Vers als einen verstehen, der in einer Gesellschaft, in der das Schlagen normal war, den Männern kommuniziert: Körperliche Gewalt darf nicht das erste Mittel zur Konfliktlösung sein. Und trotz allem bleibt die Frage: Warum offenbart Gott einen Vers, den man zumindest potenziell als Aufforderung zur Gewalt verstehen kann?
„Wenn ich davon ausgehe, dass Gott alle Menschen absolut gleich behandelt und gleich erschaffen hat und dass er für alle Gerechtigkeit und Barmherzigkeit möchte, wie kann es dann sein, dass so ein Vers im Koran steht?“, fragt Seker. Das sei eine berechtigte Überlegung.
An diesem Vers kommt auch Amina Wadud an ihre Grenzen. Ihre Lösung zum Umgang mit diesem Vers war es, „Nein“ zu dem Text zu sagen. So beschreibt sie das in ihrem 2006 erschienen Werk „Inside the Gender Jihad: Women's reform in Islam“. Die feministische Koranexegese scheint in einer Sackgasse.
Die Botschaft des Propheten historisch lesen
Kritikerinnen wie Aysha Hidayatullah und Kecia Ali – selbst feministische Musliminnen und Islamwissenschaftlerinnen – schlagen deshalb vor: Wir müssen den Koran grundlegend anders lesen, und zwar historisch: als von den Normen der Gesellschaft geprägt, in die der Prophet Muhammad hineingeboren wurde. Und die war klar patriarchalisch, so wie die meisten, wenn nicht alle Gesellschaften des frühen Mittelalters.
Das heiße aber nicht, dass sie ihren Glauben oder die Wahrheit des Korans und des Propheten infrage stellten, betont Seker. „Sondern das bedeutet, dass wir uns darüber bewusst werden, dass wir mit kultureller, sprachlicher und soziologischer Distanz auf den Koran schauen und uns fragen: Wie können wir das für uns heute aktualisieren? Oder sollten wir das für uns neu interpretieren?“
Es geht darum, zu historisieren – und sich von der Annahme zu verabschieden, dass ein mehr als 1000 Jahre alter Text, sei es die Bibel oder der Koran, feministischen Überzeugungen des 21. Jahrhunderts entsprechen kann. Für Musliminnen, die damit aufgewachsen sind, den Koran als universell gültiges Gotteswort zu verstehen, ist das nicht einfach. Und für muslimische Feministinnen eine reale Enttäuschung.
Kann der Koran zeitloses Gotteswort sein?
„Das ist definitiv sehr schmerzhaft“, sagt Seker. „Alle kommen auf dieses Thema, und erst mal sind alle total high, regelrecht angefixt, und sagen: ‚Wow, der Koran als eine Art feministischer Gottestext!‘ – Wie gesagt, einiges kann man tatsächlich begründen, aber anderes erscheint dann sehr problematisch. Und die Frage ist eben, wie wir als Musliminnen damit umgehen.“
Denn den Koran historisch zu lesen, wirft viele Fragen auf. Wie entscheidet man, welche Stellen heute noch relevant sind und welche nicht? Und auch: Was ist dann die Natur des Korans? Wenn er von den Normen der arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts geprägt zu sein scheint und teilweise eine Hierarchie zwischen den Geschlechtern aufstellt, kann er dann zeitloses Gotteswort sein?
Seker sagt, es gebe noch keine klaren Antworten auf diese Fragen: „Das ist ein Prozess, den wir gemeinsam durchlaufen müssen.“
Ist der Koran ein patriarchaler Text? Die Antwort für Nimet Seker und Saboura Naqshband ist: Jein. Es gibt eben solche und solche Verse. Der Koran ist nicht patriarchaler als die Bibel. Eine feministische Lesart des Korans ist für sie, trotz mancher herausfordernder Verse, immer noch möglich, wenn nicht sogar notwendig. Das Potenzial dafür ist im Koran enthalten. Selbst wenn dabei neue Wege beschritten werden müssen.