Islamischer Staat

IS aus amerikanischer Perspektive

Sunnitische Kämpfer im Irak kämpfen mit Regierungstruppen nahe einer Ölraffinerie etwa 200 Kilometer nördlich von Bagdad.
ISIS - die neue Supermacht des internationalen Terrorismus? © AFP / Ahmad Al-Rubaye
Von Sabina Matthay |
In ihrem Buch "ISIS: The State of Terror" untersuchen Jessica Stern und J.M. Berger, wie der Islamische Staat den internationalen Terrorismus verändert hat. Gleichzeitig plädieren sie für politische und militärische Zurückhaltung des Westens.
Anfang 2014 bezeichnete Barack Obama ISIS noch als "Zweitligisten des Terrors", ein Dreivierteljahr später gestand der amerikanische Präsident ein, dass die Extremisten eine Bedrohung des gesamten Nahen Ostens darstellten, gar den USA gefährlich werden könnten. Da hatte die Gruppe bereits begonnen, einen Terrorstaat auf irakischem und syrischem Gebiet zu errichten.
Bisher ist es nicht gelungen, ISIS zu zerstören oder auch nur zu schwächen. Den Fall der wichtigen irakischen Stadt Ramadi Mitte Mai konnten amerikanische Luftangriffe nicht verhindern.
Mehr Militär wäre der falsche Weg
In den USA werden die Rufe nach einem nachdrücklicheren Militäreinsatz gegen die Extremisten deshalb lauter. Doch nach Einschätzung von Jessica Stern und J.M. Berger wäre das der falsche Ansatz. Um ISIS zu besiegen, raten die Autoren zu einer nüchternen Betrachtung der Organisation, denn:
"ISIS zieht viel mehr Kraft aus unserer Reaktion auf seine Provokationen als aus den pervertierten Werten, die es propagiert."
Eine schlecht durchdachte militärische Eskalation des Westens, gar ideologisch begründet, würde die apokalyptische Mär der Extremisten von einer alles verzehrenden Schlacht zwischen wahren Gläubigen und Ungläubigen fördern.
ISIS' blutrünstige Hinrichtungsvideos seien darauf berechnet, genau solche Reaktionen zu provozieren, sagt Koautor Berger:
"Es gehört zu ISIS' apokalyptischer Vision und zu seiner Strategie, Bevölkerungen zu polarisieren. Solche Videos sollen nicht nur für die Gruppe werben, sondern auch andere Länder und deren Bürger gegen ISIS aufbringen und in Wut versetzen. Auch in der Hoffnung, sie zu überstürzten Reaktionen zu verleiten."
"ISIS' Botschaft basiert auf der Projektion von Stärke, nicht von Schwäche"
Jessica Stern, Dozentin an der Universität Harvard, und der Journalist J.M. Berger, non-resident Fellow der Denkfabrik Brookings Institution, beschreiben in ihrem Buch zunächst, wie ISIS Al-Kaida den Rang als Supermacht des Dschihadismus streitig machte.
"ISIS betont zwei scheinbar völlig verschiedene Themen – äußerste Gewalt und Zivilgesellschaft. Zusammen erwiesen sich diese Faktoren als unerwartet wirkmächtig."
Anders als Stern und Berger behaupten, ist die Kombination von Brutalität und gesellschaftlicher Utopie zwar keineswegs neu – man denke etwa an die französische Revolution – doch sie verschafft ISIS den erwünschten Zulauf vor allem junger Leute.
Noch einmal der Vergleich zu Al-Kaida. J.M. Berger:
"Al-Kaida folgte dem traditionellen Modell extremistischer Organisationen. Solche Gruppen rekrutieren meist, indem sie eine Bedrohung der eigenen Gruppe behaupten. ISIS hat das völlig umgekehrt. ISIS behauptet, dass es aus einer Position der Stärke heraus handelt, und es tut all das, was Al-Kaida nicht tat: Statt Granaten auf den Westen zu werfen, greift es Regime in der Region an, denen es den Abfall vom Islam vorwirft. ISIS' Botschaft basiert auf der Projektion von Stärke statt Schwäche."
Mitschuld am Aufstieg des Islamischen Staates: die völkerrechtswidrige Irak-Invasion von 2003
Anders als Al-Kaida, das die Möglichkeit des Sieges nur als entfernte Vision anbietet, lädt ISIS seine Gefolgsleute auch schon heute zum Leben im Paradies ein. Mitte 2014 rief die Organisation auf ihrem Gebiet das Kalifat aus. Während die Extremisten Videos von Enthauptungen westlicher Geiseln und Massakern an hunderten unbewaffneter Gefangener veröffentlichte, konzentrierten sie sich zugleich auf den Aufbau eines tatsächlichen Staats.
Die Gruppe rekrutierte Ingenieure, Ärzte und Systemadministratoren und verfügte bald über Behörden, Schulen und Altenpflegeheime.
Den Aufstieg von ISIS, seinen Vorgängern und Verbündeten stellen Stern und Berger nicht zuletzt den USA in Rechnung. Erst die völkerrechtswidrige Irak-Invasion 2003, dann ein verfrühter Truppenabzug 2011 – die Autoren beschreiben eine Kette von westlichen Fehlern.
"Der Aufstieg von ISIS ist die unbeabsichtigte Folge der westlichen Intervention im Irak. Koalitionstruppen entfernten einen brutalen Diktator von der Macht, aber sie zerstörten auch den irakischen Staat. Dem Westen mangelte es an der Geduld, dem Willen und der Klugheit, einen neuen, inklusiven Staat aufzubauen."
Es wird Jahre dauern, die Region zu stabilisieren
Ist es dann möglich, ISIS zu besiegen und die Region zu stabilisieren? – Jessica Stern ist skeptisch:
"Kaum vorstellbar, dass das weniger als Jahre dauern kann."
Stern und Berger raten dazu, die Gruppe militärisch in Schach zu halten statt sie in noch virulentere Teile zu zerschlagen. Besser sei es, ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben, etwa durch die Dokumentation von ISIS' Gräueltaten gegen sunnitische Muslime. Möglicherweise werde die Gruppe in sich zusammenfallen, wenn sie ihr Versprechen, das islamische Paradies auf Erden zu errichten, nicht einlöse. Schon jetzt kursieren Berichte über Missstände in ISIS' Gebiet. Gewiefte Gegenpropaganda des Westens könnte Unzufriedenheit in Abkehr münzen.
Plädoyer für militärische und politische Zurückhaltung
Von zivilgesellschaftlichem Engagement des Auslands in Form von Entwicklungshilfe, Arbeitsbeschaffung, Bildungsinitiativen und demokratischen Reformen halten die Autoren dagegen nichts.
Das hat ihnen in den USA Kritik eingebracht. Schließlich ist ISIS auch Symptom politischer Missstände. Das Versagen der Regimes in Staaten mit muslimischer Mehrheit und das Scheitern des arabischen Frühlings haben das Entstehen extremistischer Bewegungen schließlich entscheidend gefördert.
Davon abgesehen haben Stern und Berger mit "ISIS: The State of Terror" ein gut lesbares Buch vorgelegt, das erklärt, wie die islamistische Terrororganisation entstehen und sich ausbreiten konnte und wie sie funktioniert. Ihr Plädoyer für politische und militärische Zurückhaltung im Umgang mit ISIS verdient die Lektüre auch außerhalb der USA.

Jessica Stern & J.M. Berger: "ISIS: The State of Terror"
Verlag Ecco/Harper Collins,
385 Seiten 27,99 USD

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