Islamistischer Terror im Niger

Schulen unter Beschuss

26:40 Minuten
Schüler folgen in Niamey im Niger in der Grundschule Goudell II dem Unterricht.
Bildungsangebote sind ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die vielen extremistischen Gruppen in der Sahelzone.. © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Von Bettina Rühl |
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Für islamistische Terroristen im Niger ist westliche Bildung Sünde. Und so greifen sie vor allem Bildungseinrichtungen an. Doch die Menschen verteidigen ihre Schulen. Sie wollen lernen und sich den Zugang zu einem besseren Leben nicht mehr nehmen lassen.
Maman Issa öffnet die Metallschlösser an einer großen, soliden Holzkiste, dann schiebt er ein Stück Plastik beiseite, das den Inhalt der Kiste bedeckt. Zum Vorschein kommen vier Solarbatterien. Er strahlt: "Das ist das Herz des Ganzen."
Issa ist Vertreter der Bildungsbehörde in dem nigrischen Örtchen Sanam. Die Solarspeicher stehen im Lehrerzimmer der weiterführenden Schule, in der fast 500 junge Menschen lernen. Seit März dieses Jahres ist die Schule der Ort des Dorfes, an dem sich die Menschen am liebsten aufhalten. Denn seitdem gibt es die Solaranlage und damit auch Ventilatoren und Licht in den acht Klassenräumen. Bei Temperaturen, die zwischen März und Mai deutlich über 40 Grad liegen und selbst im vergleichsweise frischen Dezember noch immer über 30 Grad, ist ein Ventilator ein kostbares Gut. Aber er braucht Strom, und den gibt es in der gesamten Landgemeinde nicht, sieht man von teuren dieselbetriebenen Generatoren ab.
Die Schülerinnen und Schüler drängen sich, so gut es geht, im Schatten der paar Bäume auf dem Schulgelände. Aufmerksam hören sie einem hoch gewachsenen Tuareg zu, der einen weißen Turban und ein langes, blaues Gewand trägt. Mano Aghali leitet die nigrische Hilfsorganisation HED Tamat. Heute ist er die knapp 300 Kilometer aus der Hauptstadt Niamey gekommen, um die Fotovoltaikanlage offiziell zu übergeben. Faktisch tut sie schon seit März ihren Dienst.
"Mit diesem Projekt wollen wir die Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung gegen die Umtriebe extremistischer Gruppen stärken. Wo sie aktiv sind, gibt es keinen Frieden mehr, das gesamte Leben ist beeinträchtigt. Hier in Sanam geht es konkret darum, dass die Schülerinnen und Schüler unter besseren Bedingungen lernen können."

Der angenehmste Ort des Dorfes ist die Schule

Das Geld für den Solarstrom kam aus Deutschland, vom Auswärtigen Amt. In 45 Gemeinden in ganz Niger werden Klassenräume mit Solaranlagen versehen oder wieder instand gesetzt, manche überhaupt erst gebaut. Der Gedanke: Nur Bildung und die Möglichkeit, mit einem Beruf im zivilen Leben Geld zu verdienen, hält die jungen Menschen von den radikal-islamistischen Gruppen fern, die seit Jahren in Niger und den benachbarten Sahelstaaten operieren.
Im Literaturunterricht der neunten Klasse geht es heute um verschiedene Textformen. Die Schülerinnen und Schüler sind mit Eifer bei der Sache. Das gilt auch für den 16-jährigen Bashir Yusuf, obwohl dessen Leidenschaft nicht der Literatur gilt, sondern der Technik: Er möchte Pilot werden.
Er sei gerne bereit, hart zu arbeiten und viel zu lernen, um sein Ziel zu erreichen. Das sei viel einfacher geworden, seit es die Solaranlage gibt – und damit auch Ventilatoren und Licht.
"Früher sind wir oft um zehn Uhr morgens schon wieder nach Hause gegangen. Aber jetzt können wir den ganzen Tag über in die Schule kommen, selbst noch um sieben Uhr abends. Wir können viel mehr Übungen machen und lernen. Sogar jetzt, in der heißen Jahreszeit, ist es hier gut auszuhalten."
Ein afrikanischer Junge sitzt im Hemd an einem Pult im Klassenzimmer einer Schule.
Für den 16-jährigen Bashir Yusuf kann die Schule gar nicht lang genug dauern.© Deutschlandradio / Bettina Rühl
Tatsächlich seien die Kinder früher wegen der Hitze häufig zu Hause geblieben oder viel zu früh wieder aus dem Unterricht abgehauen, bestätigt Maman Issa:
"Wir mussten sie oft suchen und sie zwingen, in die Schule zu kommen. Jetzt wollen sie gar nicht mehr gehen. Wir müssen sie manchmal regelrecht wegschicken, weil wir zuschließen wollen. Ähnlich ist es mit den Lehrenden: Einige gehen nach dem Unterricht nicht mehr nach Hause. Wenn man nach der Mittagspause um 14 Uhr wiederkommt, trifft man sie im Lehrerzimmer an. Das liegt natürlich auch an den anderen Vorteilen, die wir dank der Solaranlage haben: Jetzt können wir hier unsere Mobiltelefone und Laptops aufladen."

Boko Haram heißt: Westliche Bildung ist Sünde

Trotz des neuen Komforts lernen Bashir und die anderen noch immer nicht unbeschwert. Denn immer wieder hören sie von neuen Angriffen islamistischer Gruppen, von brutalen Massakern.
"Das setzt mir wirklich zu, es verstört mich. Wegen dieser Bewaffneten herrscht in unserer Region Krieg. Etliche Schulen mussten deswegen schon schließen. Ich habe Angst, dass es bei uns auch bald so weit ist. Die Islamisten haben einige Schulen sogar abgebrannt."
Immer öfter greifen islamistische Gruppen gezielt Schulen, Lernende und Lehrende an. Bisher machte vor allem Nigeria entsprechende Schlagzeilen: Die dortige Terrorgruppe "Boko Haram", auf Deutsch etwa: "Westliche Bildung ist Sünde", hat allen Schulen, die nicht Koranschulen sind, den Krieg erklärt. Milizionäre von Boko Haram haben längst die Grenze zum Nachbarland Niger überquert. Besonders betroffen ist die Region Tillabéry im Westen, zu der auch Sanam gehört: Sie grenzt an Mali und Burkina Faso, Nigeria ist nicht weit. Die Grenzen sind durchlässig, sodass die radikalen Islamisten in Niger fast nach Belieben ein- und ausgehen. Einige der bewaffneten Gruppen haben dem Terrornetzwerk Al-Kaida die Treue geschworen, andere dem sogenannten Islamischen Staat.

"Man kommt leichter an Waffen als an Brot"

Mano Aghali von der nigrischen Hilfsorganisation HED Tamat hält die Armut für einen der wichtigsten Gründe dafür, dass radikale Islamisten im gesamten Sahel auf dem Vormarsch sind.
Niger ist laut dem Human Development Index das ärmste Land der Welt.
"Die Corona-Pandemie hat das Elend noch verstärkt. Schon vorher war die Armut für viele Menschen Grund genug, sich zu bewaffnen. Das liegt meiner Meinung nach auch daran, dass man hier viel zu leicht an Waffen kommt. In manchen Regionen ist es leichter, an eine Kalaschnikow zu kommen, als an ein Baguette. Das gleiche gilt für Pistolen und Munition. Waffen und Munition werden von vielen Händlern angeboten. Und wer erstmal eine Waffe hat, der wird sie auch benutzen."
In den drei Sahelländern Burkina Faso, Mali und Niger hat sich die Sicherheitslage in den vergangenen Jahren dramatisch verschlechtert. Besserung ist nicht in Sicht. In diesem Jahr wurden bis Ende Juni allein in Tillabéry schon mindestens 359 Zivilisten bei bewaffneten Angriffen getötet. Auch Schulen sind immer häufiger unter Beschuss.
Die Organisation "Globale Koalition zum Schutz der Bildung vor Angriffen", kurz GCPEA, zählt mit. Demnach seien wegen islamistischer Angriffe in Burkina Faso und Niger insgesamt 2000 Schulen nicht in Betrieb, mehr als 1100 außerdem in Mali geschlossen. Einige wurden abgebrannt, andere geplündert, die Einrichtung zerstört, Lehrende bedroht, entführt, getötet. Staatliche Sicherheitskräfte und bewaffnete Milizen nutzten viele Schulgebäude für militärische Zwecke, beispielsweise als Feldlager.

Wer ein Handy hat, will schreiben und lesen können

Das ist ein herber Rückschlag für den Versuch, die Einschulungsrate in Niger zu erhöhen – nicht einmal die Hälfte der Kinder geht in die Schule. Auch weil es nicht genug Angebot gibt, wie Mano Aghali meint. Denn der Wunsch nach Bildung sei mittlerweile weit verbreitet.
"In den 60er- und 70er-Jahren wollten die Leute nicht in die Schule gehen, vor allem die Nomaden nicht. In den 1960er-Jahren sagte einer unserer Gelehrten: Wenn die Angestellten der Bildungsbehörden kamen, um die Kinder einzuschulen, rannten die Eltern mit ihren Kindern auf einen Berg, um sich zu verstecken. Wenn sie heute mitkriegen, dass sie ihre Kinder einschulen können, rennen sie so schnell es geht vom Berg runter und achten vor lauter Eile noch nicht einmal auf große Steine."
Porträt eines afrikanischen Mannes, der ein weißes Tuch um Kopf und Schulter geschlungen hat und vor einem Baum steht.
Mano Aghali leitet die nigrische Hilfsorganisation HED Tamat.© Deutschlandradio / Bettina Rühl
Denn die Bevölkerung habe erkannt, dass sie von Bildung profitiere.
"Heute haben alle ein Telefon. Sie wollen deshalb mit Zahlen und Buchstaben umgehen können. Und wenn die Leute krank sind, gehen sie am liebsten zu einem Arzt oder medizinischem Helfer, der aus ihrem Dorf kommt. Den Wunsch, an einer so genannten westlichen Schule zu lernen, stellt niemand mehr in Frage."
Bisweilen versuchten die Menschen sogar, mit den Islamisten zu diskutieren, um einen Angriff auf ihre Schule abzuwenden.
"Sie sagen zu den Terroristen: Hört zu, lasst die Kinder etwas lernen. Das macht das Leben hier unten leichter. Und es hindert sie doch nicht daran, den Koran zu lesen."

Kein Geld für Schulmaterialen

Der Marktfleck Sounga-Dossado liegt ganz im Süden von Niger, nicht weit von dem mächtigen Fluss entfernt, der denselben Namen trägt wie das Land: Niger. Im Zentrum verkaufen Händlerinnen und Händler frisch gefangenen und geräucherten Fisch, Gemüse und Haushaltsgegenstände wie Aluminiumtöpfe oder Löffel. Der Ort liege gleichsam an einer Kreuzung, erklärt Bürgermeister Tini Djibo, und ein gewisser Stolz schwingt mit – als sei die Landgemeinde mit ihren gut 50.000 Einwohnern besonders weltläufig.
"Wir befinden uns im äußersten Süden von Tillabéry, und noch weiter südlich liegt Burkina Faso, das ist nicht weit. Im Süden grenzen wir außerdem an Benin, der Niger-Fluss trennt uns voneinander. Nigeria ist auch nicht weit. Diese Lage ist für unsere Kommune ein Gewinn."
Denn die Märkte des Ortes hätten nationale und internationale Händler angezogen. Trotzdem wirkt die Grundschule von Sounga-Dossado eher bescheiden: Es gibt insgesamt sieben Klassenräume, zwei davon sind Hütten aus Stroh. Von den fünf festen Gebäuden hat die nigrische Hilfsorganisation eins gebaut, weil die 187 Schülerinnen und Schüler bis dahin viel zu wenig Platz hatten und die Gemeinde kein Geld, um die Schule aus eigenen Mitteln zu erweitern. Auch von der Regierung in Niamey hätten sie nichts bekommen, sagt Tini Djibo. Die neue Klasse wurde Anfang Mai eingeweiht. Man könnte vermuten, dass die Kinder jetzt vielleicht besonders gerne kommen, weil sie mehr Platz haben und zumindest ein ganz neues Gebäude. Abdoulaye Alou ist Direktor der Schule.
"Wir haben unheimlich viele Fehlzeiten. Die Eltern zögern sehr, ihre Kinder in die Schule zu schicken."
In Niger ist ein häufiger Grund für das Fehlen der Kinder, dass sie sehr weit entfernt wohnen und die langen Wege scheuen, die sie in den ländlichen Gebieten zu Fuß zurücklegen müssen. Manche zehn Kilometer pro Strecke und mehr. Aber weder der lange Weg noch die Angst vor den Islamisten sind der wahre Grund für die vielen Fehlzeiten. Erst in diesem Jahr habe sich das dramatisch verändert, erzählt der Schuldirektor. Dann meldet sich der Elternvertreter, der bisher nur zugehört hat, zu Wort. Er heißt Soumana Hassan und ist zugleich der Imam des Ortes. Hassan hat selbst vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, die er alle in den Unterricht schickt. Aber auch ihm falle es in den vergangenen Monaten immer schwerer, das Geld dafür aufzubringen.
"Dafür gibt es mehrere Gründe. Natürlich spielt die Corona-Pandemie eine Rolle, die uns wirtschaftlich hart getroffen hat. Aber vor allem verdienen wir weniger, seit die Regierung Motorräder verboten hat. Gerade bei uns leben die Menschen vom Handel, dafür muss man unterwegs sein – jetzt steht hier alles still. Die Leute verdienen nichts mehr. Und dann haben sie vielleicht vier Kinder zu versorgen, die auch noch in die Schule gehen sollen. Der eine braucht einen neuen Stift, der nächste ein Heft, ein anderer fragt nach Kreide und so weiter. Und die Eltern haben nicht einen Cent in der Tasche. Aber ohne jedes Material kann das Kind in der Schule nun mal nicht mitarbeiten, oder jedenfalls ist das sehr schwierig."

Motorräder sind verboten

Tatsächlich ist in ganz Tillabéry nirgendwo ein Motorrad zu sehen oder zu hören – eine Erfahrung, die für ein afrikanisches Land extrem ungewohnt ist. Vielleicht hat kaum etwas den Kontinent so verändert wie die billigen Motorräder aus chinesischer Produktion, die hier vor etlichen Jahren auf den Markt kamen. Sie haben den Nomaden die Kamele ersetzt, sind die Autos der kleinen Leute, verschaffen Millionen von jungen Männern ein Einkommen und sind oft sogar lebensrettend: Musste man Schwerstkranke früher vielleicht über Stunden mit einer Schubkarre zum nächsten Gesundheitszentrum schaffen, geht das jetzt mit Motorrädern etwas schneller, vorausgesetzt, die Patienten können sich noch oben halten. Auch bei kriminellen Banden und islamistischen Terrorgruppen sind die ortsüblichen kleinen Motorräder ständig im Einsatz, bestätigt Tini Djibo.
"Die nutzen die Motorräder für ihre Anschläge. Also hat der Gesetzgeber Motorräder verboten, weil er glaubte, dass die Islamisten dann schnell zu identifizieren sind."
Auf einem Video, das Anfang Mai in Niger in den sozialen Netzwerken geteilt wurde, sieht man Dutzende, vielleicht sogar Hunderte bewaffnete Männer, die mit Motorrädern in ein Dorf im westafrikanischen Sahel einfahren, wahrscheinlich in Burkina Faso. Sie gehören zu einer der radikal-islamistischen Gruppen. Ein Motorradmodell, das bei den Islamisten besonders beliebt ist, heißt unter Nigrern mittelweile "Boko Haram", nach der Terrorgruppe aus dem benachbarten Nigeria. Verboten wurden Motorräder in ganz Tillabéry im vergangenen August, nach einem Anschlag auf eine Gruppe von Franzosen. Die Angreifer, mutmaßlich islamistische Milizionäre, töteten acht Menschen, darunter sechs Franzosen. Die sechs Männer und Frauen waren als humanitäre Helfer in Niger, aber in ihrer Freizeit unterwegs, als sie angegriffen wurden. Wie fast immer waren die Täter mit Motorrädern unterwegs gewesen.

Armut spielt den Islamisten in die Hände

Der Anschlag ereignete sich in Kouré, nur etwa 25 Kilometer von Sounga-Dossado entfernt. Seitdem gilt für die ganze Region Tillabéry die Warnstufe rot, und Ausländer müssen sich mit einer militärischen Eskorte bewegen.
"In dieser Situation haben die Menschen widerstreitende Interessen. Einerseits wollen sie Sicherheit, andererseits Entwicklung und Handel. Aber seit Motorräder verboten wurden, ist das hier ein toter Flecken Erde. Das hat die Bevölkerung wirtschaftlich hart getroffen."
Soumana Hassan, der Vertreter der Eltern des Ortes, macht sich wegen der wirtschaftlichen Lage große Sorgen.
"Das Ende der Migration und das Verbot der Motorräder haben viel verändert. Selbst diejenigen, die Arbeit hatten, haben jetzt nichts mehr zu tun und keine Aussicht auf Besserung. Sie sind jetzt anfällig für die Propaganda der Islamisten. Die bewaffneten Gruppen versprechen den Leuten Geld und Einkommen. Aus lauter Not lassen sich vielleicht auch diejenigen auf die radikalen Gruppen ein, die an die Ideologie der Islamisten nicht unbedingt glauben."
Eine junge afrikanische Frau mit weißem Kopftuch und buntem Kleid sitzt vor einer altmodischen Nähmaschine, die auf einem Klapptisch steht.
Dank ihrer Schneiderwerkstatt verdient die 19-jährige Hawa Husseini recht gut. © Deutschlandradio / Bettina Rühl
Die Hilfsorganisation HED Tamat versucht deshalb, möglichst jungen Menschen wie Hawa Husseini zu Beschäftigung und einem Broterwerb zu verhelfen.
Die 19-Jährige schneidet sorgfältig die Reste der Fäden am Ende der Naht ab. Die Schneiderin hat ein Kleid in Arbeit, Auftrag einer Kundin aus dem Dorf.
Im Mai hat sie eine Nähmaschine bekommen und in einem der Lehmgebäude des Dorfes Djagourou ihre Werkstatt eröffnet. Der Ort liegt ganz im Westen von Tillabéry, nicht weit von Burkina Faso entfernt.

Ausbildung schafft Einkommen

Die Nähmaschine, Schere, Fäden und Nadeln hat sie im Anschluss an einen Nähkurs von der Hilfsorganisation HED Tamat bekommen, als Start in die berufliche Selbstständigkeit. Landesweit bekommen rund 560 junge Menschen Kurzlehrgänge und anschließend die wichtigste Ausstattung, um sich selbstständig zu machen. Hawa Husseini war nur bis zur sechsten Klasse in der Schule, für mehr reichte das Geld der Eltern nicht. Sie beackern ein karges Feld, im trockenen Sahel kein leichtes Unterfangen. Außerdem hat Hawa noch 13 Geschwister. Das Schneidern hat ihr Leben verändert, erzählt sie.
"Ich verdiene gut, seit ich diese Schneiderwerkstatt eröffnet und mich selbstständig gemacht habe. Bis dahin mussten mir meine Eltern alles geben, was ich zum Leben brauchte. Jetzt bin ich es, die meine Familie unterstützt."
Seit Mai habe sie jeden Monat mindestens 50.000 westafrikanische Francs verdient, umgerechnet etwa 76 Euro. In den nigrischen Dörfern ist das kein schlechter Verdienst - vor allem für junge Menschen. Kaum jemand habe Arbeit, sagt Hawa. Das gilt auch für ihre 13 Geschwister, zehn davon sind älter als sie. Aber Hawa ist die einzige, die etwas verdient. Jetzt sei sie es sogar, sagt die 19-Jährige mit spürbarem Stolz, die ihren älteren Brüdern vor dem letzten Feiertag die festliche Kleidung gekauft habe, die den Gebräuchen zufolge dafür nötig sei. Immerhin wird im Dorf noch gefeiert, obwohl die Angst vor den radikalen Islamisten allgegenwärtig ist. Moussa Soumana, der Hawa Husseini das Nähen beigebracht hat und das Gespräch aus der regionalen Sprache Fulfulbe ins Französische übersetzt, schaltet sich ein.
"Jeden Tag denkt man: Wenn die Islamisten heute nicht ins Dorf gekommen sind, kommen sie bestimmt morgen. Djagourou ist sowieso das letzte Dorf, in dem die Kinder noch in die Schule gehen können. In allen umliegenden Siedlungen mussten die Schulen wegen der Islamisten schon schließen."
In Djagourou dagegen ist bisher von der Bedrohung noch nichts zu spüren. Die Menschen suchen Schatten unter den Bäumen, Schafe und Ziegen laufen zwischen den kleinen Lehmhäusern herum. Derzeit warten alle auf den nahen Beginn der Regenzeit, damit sie ihre Felder bestellen können. Wenn sie sich dann noch auf ihre Äcker wagen, denn draußen ist die Gefahr noch größer, den bewaffneten Islamisten zu begegnen. Immer mal wieder berichtet jemand, dass er sie auf Motorrädern hat vorbeifahren sehen – die Islamisten kümmern sich natürlich nicht um das Verbot der Zweiräder. Hat Hawa Husseini Angst, dass sich ihre Brüder den Bewaffneten anschließen?
"Seit ich genug verdiene, um die Familie zu ernähren, glaube ich, dass sie bleiben. Ohne das würden sie sich den Islamisten vielleicht anschließen, weil sie hier nichts zu tun haben. Früher hatte ich auch weniger Einfluss auf sie. Wenn ich ihnen einen Rat gegeben habe, haben sie nicht auf mich gehört. Seit ich das Geld nach Hause bringe, ist das anders."

Schulen werden niedergebrannt

In Garbougna, eine gute Autostunde entfernt, ist das Tor zum Schulgelände mit mehreren Ketten verschlossen und zusätzlich mit Dornenbüschen verbarrikadiert. Das kleine Gebäude beherbergte die beiden weiterführenden Klassen des Dorfes, bis die Bewohner das Grundstück vor einigen Monaten verrammelten, aus Angst, die Islamisten könnten ihre Schule niederbrennen.
Erst vor vier Tagen seien wieder einige hier vorbeigekommen, erzählen die Dorfbewohner, eine Gruppe von fünf Männern. Sie fuhren weiter, vielleicht, weil ganz offensichtlich kein Unterricht stattfand. Die weiterführende Schule von Garbougna liegt ganz am Rand des Dorfes, fast schon etwas außerhalb, und ist deshalb besonders leicht angreifbar.
Ein älterer afrikanischer Mann mit Kappe und weißem Gewand sitzt auf einem Stuhl.
Modi Seyni, Dorfchef von Garbougna, lässt sich von den Islamisten nicht einschüchtern.© Deutschlandradio / Bettina Rühl
Modi Seyni, der Dorfchef von Garbougna, wohnt im Zentrum der kleinen Siedlung, die aus lauter traditionellen Lehmbauten besteht.
"Vor einiger Zeit haben die Islamisten gefordert, dass wir alle Schulen schließen. Bei uns geht der Unterricht trotzdem weiter, auch der für die weiterführenden Klassen. Wir haben die Tische und Bänke aus dem Gebäude geholt, um sie zu schützen. Die Lehrer unterrichten jetzt auch die höheren Klassen im Gebäude der Grundschule."

"Wir verteidigen unsere Schulen"

Denn die liegt besser geschützt mitten im Dorf, dort wird nun in mehreren Schichten gelernt. Natürlich ist das Manöver einigermaßen durchsichtig und dürfte irgendwann auch Mitgliedern bewaffneter Gruppen zu Ohren kommen, die überall ihre Informanten haben.
Modi Seyni ist 79 Jahre alt, seit 12 Jahren Chef des Dorfes.
"Ich habe die Islamisten nur einmal gesehen, sie kamen zu mir. Ich habe ihnen gesagt, dass ich sie ablehne. Denn sie hatten jemanden ermordet und mir dessen Leiche auf die Türschwelle gelegt. Ich habe ihnen gesagt, dass mich das nicht beeindruckt und dass unsere Kinder trotzdem etwas lernen werden. Die Islamisten selbst benutzen doch viele Dinge wie Funkgeräte und Waffen zum Beispiel, die es ohne Bildung gar nicht gäbe. Als sie das zweite Mal im Dorf waren, kamen sie nicht mehr zu mir."
Moukel Burema ist einer der rund 20 Lehrerinnen und Lehrer des Dorfes, ein Vater von sechs Kindern. Burema könnte noch viel mehr Lebensjahre vor sich haben als der betagte Dorfchef. Aber auch er zeigt Mut.
"Nein, ich habe auch keine Angst. Ich habe mich dafür entschieden, die Kinder zu unterrichten. Und das werde ich auch weiterhin tun, egal welche Schwierigkeiten es gibt."
Eine Haltung, die in Niger weit verbreitet ist: Die Menschen verteidigen ihre Schulen. Sie wollen lernen und sich den Zugang zu Wissen und damit zu einem besseren Leben nicht mehr nehmen lassen.
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