Vom Orchideenfach zum Topseller
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Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 waren Fachleute für islamische Kultur plötzlich sehr gefragt. Das Nischenfach Islamwissenschaften boomte. Mit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan könnte sich das wiederholen.
"Ich war zwölf, als 9/11 passiert ist. Ich erinnere mich noch an den Tag und wie geschockt meine Eltern vor dem Fernseher saßen und wie wir dachten: Was geht denn da ab", erinnert sich die Filmemacherin Nilgün Akıncı. Schon am nächsten Tag in der Schule musste sie sich erklären: "Was ist denn da bei Euch im Islam kaputt, dass ihr so was machen müsst", wurde sie gefragt. Dabei fühlte sie sich ebenso als eine außenstehende, schockierte Betrachterin wie alle anderen in der Klasse.
Plötzlich Pressesprecherin für den Islam
Am 11. September 2001 erhält Nilgün Akıncı eine Rolle, die sie sich nie gewünscht hat. Sie kommt aus einer türkischen Familie in Köln und wird als Zwölfjährige über Nacht zur Islamexpertin: "Ich wusste da noch nicht, was das für ein Anfang von einer Lawine war, dass da eine Islam-Pressesprecher-Karriere auf mich gewartet hat. Ich musste jahrelang in der Schule oder auch meinem Umfeld rechtfertigen, warum etwas wie ist im Islam."
Damit macht Nilgün Akıncı schon als Teenager eine Erfahrung, die hierzulande jeder machen kann, der sich im weitesten Sinne mit der sogenannten islamischen Welt befasst. In ganz besonderem Maß gilt das für Lehrende und Studierende des Fachs Islamwissenschaften, sagt die Berliner Islamwissenschaftlerin Ulrike Freitag:
"Das öffentliche Interesse ist immer sehr stark an tagesaktuellen Themen orientiert. Das war eine Zeit lang die Palästina-Frage, das war eine Zeit lang der Golfkrieg, das war dann der 11. September, das war der Islamische Staat. Ich bin sicher, dass jetzt Taliban wieder ein großes Thema sein wird."
Eine Disziplin im Wandel
Ulrike Freitag lehrt Islamwissenschaften an der Freien Universität Berlin und ist Direktorin des Leibniz-Zentrums Moderner Orient. Sie hat zwölf Jahre lang in einem Forschungsprojekt unter dem Titel "Muslim Worlds - Worlds of Islam" erkundet, wie viel Islam überhaupt in der muslimischen Welt zu finden sei.
Ein "Ungetüm" nannte der Islamwissenschaftler und Publizist Navid Kermani sein Fach. Freitag stimmt ihm zu: "Es ist auch ein Ungetüm, weil von uns erwartet wird, dass wir die gesamte Breite des Fachs in Forschung und Lehre abdecken."
Ein Ding der Unmöglichkeit, denn die Islamwissenschaft stellt einen ganzen Strauß an Fächern dar: vom reinen Erwerb der Sprache über die Philologie, Literatur- und Kulturwissenschaft, von Soziologie und Geschichte bis hin zu ethnologischen Fragestellungen – in einem Raum, der von Nordafrika über den vorderen Orient bis nach Asien reicht, denn auch Länder wie Bangladesch oder Pakistan gehören zur islamischen Welt.
Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte habe das Fach einen erheblichen Wandel erfahren, sagt Freitag: "Als ich angefangen habe zu studieren, war die Iranische Revolution etwas, das viele zu dem Fach getrieben hat, obwohl das Iran-orientierte Angebot nur ein sehr geringes war. Es hat danach die Golfkriege gegeben, das führte zu riesigen Studienanfängerwellen. Insofern steht der 11. September da in einer Tradition."
Zahl der Professuren um ein Drittel gestiegen
Diese Wellen hätten auch insofern Auswirkungen gehabt, als dass Studierende ein stärkeres Interesse an gegenwartsorientierten Themen hatten, statt an den üblichen klassischen Themen, sagt Freitag. Johannes Zimmermann, Islamwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Osmanisches Reich und Fachberater an der Universität Heidelberg, pflichtet ihr bei:
"Auch bei uns habe ich das Gefühl, dass in den letzten Jahren immer mehr historische Themen auch mit Blick auf die Gegenwart bearbeitet werden. Das ist sicher auch ein Echo der politischen Umwälzungen im vorderen Orient, die nicht nur am 11. September hängen oder damit nicht hinreichend erklärt sind."
Trotz ihrer inzwischen gewonnenen Aktualität firmiert die Islamwissenschaft an den Universitäten in Deutschland als "kleines Fach": 40 Professuren an 20 Standorten zählt das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützte Internetportal "kleiner Fächer" in Deutschland. Die Zahl der Professuren ist demnach in den vergangenen Jahren um etwa ein Drittel gestiegen.
Allerdings schwankt die Zahl der Studierenden, sagt Zimmermann: "Zahlenmäßig gibt es eine deutliche Entwicklung. In den 90er-Jahren bestand ein Anfängerjahrgang in der Islamwissenschaft aus etwa 20 Personen. Das hat sich dann bis 2005 zumindest bei uns in Heidelberg deutlich gesteigert. Da gab es einen deutlichen Peak mitten im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts."
Karrierewunsch Journalismus, Diplomatie oder Geheimdienst
Von 100 bis 120 neuen Studienanfängerinnen und -anfängern pro Semester damals sei man in Heidelberg inzwischen wieder bei circa 30 neuen Studierenden pro akademischem Jahr. Damals wie heute rechneten viele Absolventinnen und Absolventen mit beruflichen Möglichkeiten im diplomatischen oder journalistischen Bereich, so Zimmermann. Auch für Karrieren bei den Sicherheitsbehörden, bei der Polizei oder beim Geheimdienst kann ein Studium der Islamwissenschaft nützlich sein.
Nilgün Akıncı hat sich nach ihrem Abitur ebenfalls entschlossen, Kurse in den Islamwissenschaften zu belegen, um sich ihrer eigenen muslimischen Identität zu vergewissern: "Es war sehr befreiend, weil dort den meisten klar war, dass es 'den Islam' nicht gibt, sondern dass es unterschiedliche Strömungen gibt." Niemanden vertreten zu müssen und sich nicht rechtfertigen zu müssen, sei ein Befreiungsschlag für sie gewesen.
Islamische Theologie als eigenständiges Fach
Akıncı nutzt die im Studium erworbenen Kenntnisse inzwischen für ihre Karriere als freie Regisseurin und Filmemacherin. Seit sie 2012 ihr Studium abgeschlossen hat, gab es noch eine weitere Entwicklung in den Islamwissenschaften: Viele Studierende mit Migrationshintergrund auf der Suche nach ihren religiösen Wurzeln wandern heute ab zur Islamischen Theologie, die inzwischen an mehreren Standorten als eigenständiges Fach gelehrt wird.
Teilweise habe es unter Kollegen eine heftige Abwehrreaktion gegeben, das neue Fach sei als eine Art Konkurrenz empfunden worden, sagt Ulrike Freitag. "Ich empfinde es andererseits als gewisse Entlastung der Islamwissenschaft, dass es jetzt Kolleginnen und Kollegen gibt, die sich dezidiert aus theologischer Sicht mit dem Islam beschäftigen." Auch so bleibt das Fach komplex genug – und Ereignisse, die der Erklärung bedürfen, werden auch nicht weniger.
Die Migrationswelle infolge des syrischen Bürgerkriegs seit 2015 hat die Studierendenzahlen in den Islamwissenschaften übrigens wenig tangiert, sagen Johannes Zimmermann und Ulrike Freitag – anders als im verwandten Fach Arabistik. Das studieren laut Auskunft des Fachbereichs Arabistik der Freien Universität Berlin heute viele arabische Muttersprachler, die hier ihre im Ausland begonnenen Studien fortsetzen und ihre Zukunft in der Integrationsarbeit oder bei NGOs sehen.