Ayşe Almıla Akca: "Moscheeleben in Deutschland. Eine Ethnographie zu Islamischem Wissen, Tradition und religiöser Autorität"
Transcript Verlag, Bielefeld 2020
436 Seiten, 39 Euro
"Imame sind gar nicht die zentralen Autoritätsfiguren"
11:43 Minuten
Oft sehen Nichtmuslime in Moscheen vor allem Orte religiöser Radikalisierung. Islamwissenschaftlerin Ayşe Almıla Akca hat ein anderes Bild. Ein Gespräch über Imame, Räume für Frauen und warum Karfreitag auch in Moscheen ein besonderer Tag ist.
Kirsten Dietrich: Österreich streitet darüber, ob "politischer Islam" ein guter Oberbegriff ist für Gewalt, die sich auf den Islam beruft, und wird ihn erforschen. Wenn es um einen zu radikalen Islam geht, dann schaut man in der Debatte gerne auf die Moscheen und ihre Imame. Gut 2400 Moscheen gibt es in Deutschland. Sie werden von außen, also von denen, die nicht muslimisch sind, oft mit Misstrauen betrachtet, als der Ort nämlich, an dem durch fanatische Imame religiöse Radikalisierung geschieht.
Die Islamwissenschaftlerin Ayşe Almıla Akca ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamische Theologie an der Berliner Humboldt-Universität. Sie hat Moscheeleben in Deutschland erforscht. Können Sie mit dem Begriff "politischer Islam" etwas anfangen? Leistet der, was er soll, nämlich gewalttätigen Islamismus vom religiös verstandenen Islam abzugrenzen?
Akca: Tatsächlich glaube ich das eher weniger. Es gibt eine breite Debatte darüber, auch unter Muslimen und Musliminnen. Kein Muslim und keine Muslimin, die ich kenne, würde von sich behaupten: Ich bin Anhänger oder Anhängerin eines politischen Islams. Ich habe mich selbst tatsächlich auch wenig damit beschäftigt, weil es mir in meinen Forschungen kaum begegnet ist.
Zeit fürs Freitagsgebet haben viele Muslime nur am Karfreitag
Dietrich: Sie haben sich mit etwas beschäftigt, was beim Blick von außen ganz oft aber tatsächlich als Hotspot des sogenannten politischen Islams wahrgenommen wird, nämlich mit der Moschee. Die wird wahrgenommen als der Ort, an dem sich Muslime treffen, um sich zu radikalisieren. Das wird dann noch verstärkt durch Medienberichte, die Blicke in die geheime Giftküche der islamistischen Radikalisierung versprechen.
Nüchtern gesehen: Wenn es 2400 Moscheen gibt, werden das in der Mehrzahl wohl ganz gewöhnliche Orte sein, an denen ganz verschiedene Menschen verschiedene mehr oder weniger mit Glauben verbundene Dinge tun. Klingt banal, aber muss man wahrscheinlich erst mal so deutlich sagen. Eine Moschee ist eben nicht nur das Freitagsgebet. Was haben Sie in der Moschee erlebt?
Akca: In den Moscheen, in denen ich meine Forschungen gemacht habe, waren tatsächlich die Freitagsversammlungen mitsamt den Freitagsgebeten und Freitagspredigten nicht unbedingt zentral im Leben der Muslimas und Muslime. Tatsächlich muss man ja auch bedenken, berufstätige Musliminnen und Muslime können freitags nicht immer unbedingt zu den jeweiligen Mittagszeiten die Moschee aufsuchen. Deswegen ist zum Beispiel der Karfreitag, der ja immer ein freier Tag ist – für die allermeisten Berufstätigen zumindest – dann auch der einzige Tag, an dem sehr viele männliche Muslime die Moschee aufsuchen zum Freitagsgebet.
Tatsächlich, wenn man diesen Blick von den Freitagsgebeten, den Freitagspredigten abwendet, sieht man andere Menschen, Frauen auch vor allem, und man sieht andere Formate. Man sieht Unterricht und sehr viele Gebetseinheiten, sehr viele Gebetszirkel, Treffen, karitative Tätigkeiten, Moscheefeste und natürlich die gesamte Breite der Spiritualität, die durch religiöse Feiern, Lobpreisungen, Hymnen und gemeinsame Aktionen gelebt wird.
Auch Imame müssen sich erst beweisen
Dietrich: Dann gucken wir doch mal genauer auf die Entwicklungen, die Sie da gesehen haben. Eine, das fand ich ganz spannend, ist die, dass die als zentral wahrgenommene Stellung des Imams gar nicht so wichtig ist, sondern dass das eher ein europäischer, vielleicht auch ein christlicher Blick auf den Islam ist. Nämlich zu sagen, in einer Religion sind vor allem die Lehrtexte und die Experten, also die Priester, Pfarrer, Pastoren und wie sie auch immer heißen, wichtig. Sie sagen: In der Moschee, in einer Moscheegemeinde, bei den Menschen, die eine Moschee besuchen, gibt es noch ganz andere wichtige Menschen. Welche sind das, und wie gewinnen die ihre Autorität?
Akca: Das ist mir schon seit Längerem aufgefallen, weswegen ich auch dann diese Forschung angefangen habe, nämlich, dass Imame gar nicht die zentralen religiösen Autoritätsfiguren sind, als die sie von außen – sei es nun negativ gesehen als Hassprediger oder sei es positiv wahrgenommen als Integrationslotsen – gesehen werden. Es sind zum Beispiel auch Koranschullehrer, -lehrerinnen, dann auch vor allem Menschen, die Gruppen leiten, oder die Vorstände, an die denkt man oft gar nicht, weil es sich hier um nicht theologisch ausgebildete quasi Laien handelt.
Nicht-Experten und Nicht-Expertinnen habe ich die genannt, die aber durch ihr Standing in der Gemeinde, dadurch, dass sie die Gemeinden aufgebaut haben, schon seit Jahren im Vorstand aktiv sind, sehr viel Zeit, sehr viel Geld investieren, damit die Moschee aufrechterhalten werden kann. Dann kann ein Imam, der vielleicht nur für ein paar Jahre da ist oder nur für einen kurzen Zeitraum wie beispielsweise im Ramadan, gar nicht so diese autoritative Standing entwickeln, wie das von einem Imam erwartet werden könnte.
Frauen fordern Räume in der Moschee, nicht Ämter
Dietrich: Das heißt, der Imam ist jemand, der dann für die besonderen Ereignisse herangezogen wird, aber das Alltagsleben, also dieses Gewebe, das die Moschee trägt, das wird von anderen geleistet.
Akca: In der Regel ist das so. Imame sind immer in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einem Vorstand. Und selbst in Ditib-Gemeinden, in denen die Imame aus der Türkei kommen und dort auch türkische Staatsbeamte sind, können die sich nicht darauf berufen, dass sie jetzt hier Autoritätspersonen sind, weil sie ja von einer religiösen Institution kommen, das kann auch angefochten werden. Wir sehen aber natürlich trotzdem, dass durch die theologische Ausbildung, die ein Imam vorweisen kann, und durch die Art und Weise, wie er zum Beispiel Gespräche führt, wie er Religion erklären und vermitteln kann, er natürlich eine Autoritätsperson sein kann.
Dietrich: Die Moschee, das sagen Sie auch ganz deutlich, ist natürlich erst mal, so wie man sie wahrnimmt, wie sie sich gibt, ein von Männern dominierter Raum. Und trotzdem spielen Frauen da eine ganz wichtige Rolle, tragen viel von dem vielfältigen Leben, das dort stattfindet. Und, das fand ich spannend, diesen Frauen ist vor allen Dingen erst mal wichtig, dass sie eigene Räume haben. Es geht ihnen gar nicht darum, dass auch Frauen Imaminnen werden dürfen und vorbeten dürfen, sondern es geht darum, einen eigenen Raum zu haben.
Akca: Ja, das stimmt. Wenn wir uns aber anschauen, wie Moscheen in Deutschland entstanden sind, dann sind das in erster Linie Männerorte gewesen. Die Männer haben einen Raum geschaffen, in dem sie ihre Gebete, vor allem am Freitag, zusammen begehen konnten. Schon seit den 1980er-Jahren sehen wir, dass Moscheen auf zum Beispiel Saaltrenner zurückgreifen, um Frauen den Besuch der Moschee zu ermöglichen. Also gemischtes Publikum haben wir eigentlich so gut wie nie, eher, dass Frauen in den Gebetssälen auch einen Platz haben.
Mit den Räumen kommt das religiöse Selbstbewusstsein
Dann sehen wir die Entwicklung, dass es immer mehr eigene Räume gibt, eigene Räumlichkeiten, von Abstellkammern über Räume im Keller, irgendwo neben dem schön geschmückten Gebetssaal, der dann nur für Männer reserviert ist - in den Moscheeneubauten Anfang der 1990er-Jahre hat man zum Beispiel die Frauenräume vollkommen vergessen. Das kommt dann erst wieder ab Mitte 90er, Ende 90er, dass in den Moscheevorhaben dann auch großzügigere Räume für Frauen bereitgestellt werden. Das ist ein Kampf der Frauen, die haben dafür gekämpft, dass sie diese Räume bekommen.
Und damit einhergehend dann auch, dass sie dort ihre eigenen religiösen Formate, aber auch sozialen Formate leben und entwickeln können. Unterricht beispielsweise ist sehr, sehr wichtig, das heißt, die Moschee wird genutzt als ein Ort, an dem Frauen Wissen erwerben. Das heißt, Frauen erwerben Wissen in der Moschee von Frauen für Frauen, das bedeutet natürlich auch wieder religiöse Autorität, die von Frauen ausgebildet wird.
Tatsächlich gibt es ja Frauen, die als religiöse Expertinnen Unterricht geben, kleine religiöse Feiern oder auch größere religiöse Feiern unter Frauen ausrichten oder auch das Gebet unter Frauen selbst leiten, also nicht vor einem gemischten Publikum, sondern nur vor Frauen. Die sehen sich nicht als Imaminnen, die sehen sich aber durchaus als Predigerinnen, als Lehrerinnen, und das sind auch die Titel, mit denen sie angesprochen werden, also: "Frau Lehrerin" – "Hoca" ist so ein Begriff auf Türkisch beispielsweise. Das bedeutet, dass Funktionen, die ein männlicher Imam hat, dann auch von den Frauen angeeignet werden – bis auf die Frage der Gebetsleitung vor einem durchmischten Publikum.
Von einer besseren Imam-Ausbildung profitieren alle
Dietrich: Bei der deutschen Islamkonferenz in dieser Woche wurde angekündigt, es wird ein Institut für die Ausbildung von Imamen geben in Deutschland für deutsche Gemeinden, mit Anschubfinanzierung vom Staat. Was meinen Sie, ist das ein richtiger Schritt – oder liegt da der Fokus auch wieder zu sehr auf dem Imam als dem Haupt der Gemeinde?
Akca: In den Planungen wird zwar Imam gesagt oder Imam-Ausbildung gesagt, tatsächlich geht es aber da um ganz andere Bereiche, die ein Imam abdecken muss: von Gebetsleitung über Koranrezitation und Ausrichtung religiöser Feiern und vielleicht auch ein Stück weit Gemeindeleitung. Da geht es ja auch um die Frage des sozialen Beistands, der sogenannten Seelsorge, die dann auch gar nicht unbedingt von einem Imam selber gemacht werden muss, sondern von anderen Akteurinnen und Akteuren, die es heute jetzt auch schon gibt.
Insofern haben diese Planungen für eine Imam-Ausbildung, auch wenn sie den Begriff Imam in sich tragen und damit so einen Fokus nur auf Imam vorhanden ist, allein vom Arbeitsfeld, das ein Imam hat, eine sehr große Bandbreite. Und dann können das natürlich auch wieder Frauen in Anspruch nehmen und machen.
Islam bedeutet auch Verantwortung für die Gesellschaft
Dietrich: Haben Sie aus Ihrer Forschung Ideen mitgenommen, wie man diese Vielfalt muslimischen Lebens, also die verschiedenen Akteure, die verschiedenen Dinge, die sie tun, die verschiedenen Arten zu glauben, wie man die besser in den Blick bekommen und abbilden kann, wie man also von dem Block "der Islam" wegkommen kann?
Akca: Indem man sich tatsächlich diese vielfältigen Formen auch anschaut, vielleicht auch gar nicht so sehr auf Moscheen hin reduziert, obwohl Moscheen Multiplikationsorte sind, an denen eben Gemeinschaft gelebt wird. Zugleich gibt es aber auch außerhalb von Moscheen Initiativen, aus dem umweltethischen Bereich beispielsweise oder aus dem Jugendbereich. Und natürlich auch ganz groß aus dem Bereich von Frauen, die ihre eigenen Verbünde und Verbände gründen, in denen sie Islam eben anders leben und sagen: Islam bedeutet nicht nur fünfmal am Tag beten, sondern auch, dass wir eine Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen, dass wir Verantwortung für die Menschen übernehmen, nicht nur für Muslime und Muslimas, sondern für die gesamte Gesellschaft.
Ich hatte den Eindruck, als ich meine Forschung gemacht habe, dass diese Bereiche viel zu wenig Beachtung erhalten, dass wir da immer sehr stark auf einzelne Punkte schauen: Wie ist das Verständnis von Demokratie? Oder: Welche Affinität zu Gewalt oder nicht hat man? Das schränkt aber die Diskussion tatsächlich sehr ein. Gleichzeitig führt das auch auf Seiten der Musliminnen und Muslime dazu, dass sie sich frustriert fühlen, dass sie immer wieder mit diesen Themen konfrontiert sind, die schon auch wichtig sind, wie wir ja auch immer wieder sehen, dass aber positive Entwicklungen so marginalisiert werden und gar nicht in den großen Debatten auftauchen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.