Gran Canaria am Polarkreis
Die 330.000 Isländer erwarten in diesem Jahr einen neuen Besucherrekord. Seit 2010 hat sich die Zahl ausländischer Touristen mehr als verdreifacht: Alle wollen auf Walsafari gehen und Gletscher durchqueren. Und das hat Folgen.
Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Thingvellir, Islands berühmtester Nationalpark rund vierzig Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Reykjavik. Es ist kurz nach zehn. Ranger Einar Sæmundsen ist auf dem Weg zur Aussichtsplattform, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen über den Besucherandrang heute. Doch das ist leichter gesagt als getan – wegen der ganzen Fliegen.
"You just zen-out. And just don’t think about it."
Einem Buddha gleich bahnt sich der knorrige Typ seinen Weg durch den Fliegenschwarm – vorbei an bizarren Felsformationen, aus denen Wasser schießt. Der Mittfünfziger arbeitet gerne hier. Und wie – meint Einar lachend: Thingvellir ist nicht umsonst UNESCO-Weltkulturerbe. Bereits im 10. Jahrhundert trafen sich die ersten Siedler auf der Parlaments-Ebene, wie Thingvellir übersetzt heißt. Viel mehr Geschichte geht nicht. Viel mehr Naturspektakel auch nicht.
"Wo wir gerade stehen, bewegen sich zwei tektonische Platten voneinander weg: Die eurasische und die amerikanische. Das ist eine unserer Hauptattraktionen – neben den ganzen historischen Stätten. Von der Aussichtsplattform kannst du auch eine der großen Herausforderungen sehen, vor der wir stehen: Die Parkplatz-Situation. Siehst du: Unten. Da ist einer unserer Parkplätze. Und weiter hinten, links, noch einer. Wo du auch hinschaust: Parkplätze. Das ist ein richtiger Wildwuchs. Schön ist das nicht. Und ständig liegt dieses Brummen der Busse in der Luft. Wir müssen uns dringend Gedanken machen, wie wir besser mit dem Verkehr klar kommen."
Wenn die Blechlawine anrollt
Langsam rollt sie an: Die Blechlawine. Einar kennt das schon: Vormittags zwischen halb zehn und zehn kommt immer der erste Schwung Touristen. Mittags ist es meist etwas ruhiger, bevor es am frühen Nachmittag noch einmal richtig voll wird. 1,2 Millionen Touristen haben letztes Jahr Thingvellir besucht – dreißig Prozent mehr als 2015.
"Was uns in Thingvellir mächtig zusetzt sind die Kreuzfahrtschiffe. Der Hafen von Reykjavik hat sich erfolgreich als Kreuzfahrt-Destination vermarktet. Wenn ich recht informiert bin, werden allein diesen Sommer 120 bis 130 Kreuzfahrtschiffe den Hafen ansteuern. Das sind Riesen-Pötte mit mehreren tausend Passagieren. Und was tun die meisten, wenn sie in Reykjavik an Land gehen? Sie machen Tagestouren. Am liebsten entlang des sogenannten Goldenen Ringes. Jedes Mal, wenn ein Kreuzfahrtschiff Reykjavik ansteuert, wissen wir: Es gibt bei uns wieder Riesen-Stau. Unserer Logistik droht der Kollaps, wenn so viele Busse gleichzeitig die Parkplätze verstopfen."
Mit der Ruhe ist es in Thingvellir vorbei – nicht nur wegen der vielen Touristen. Schon seit Wochen fressen sich Bohrmaschinen in den grauen Fels. In spätestens einem Jahr soll das neue Besucherzentrum fertig sein – genau wie der zentrale Parkplatz hinterm Hügel.
US-Amerikaner, Briten, Deutsche: Alle wollen diesen magischen Ort an der Schnittstelle zweier Kontinente erkunden. Nicht jeder hält sich an die Regeln. Das muss man Einar nicht zwei Mal sagen. Er hat schon einiges erlebt: Deutsche Rucksacktouristen, die illegal über die Zäunen sprangen und fast abgestürzt wären; britische Besucher, die nichts Besseres zu tun hatten, als in einen Felsvorsprung zu pinkeln.
Das hat jetzt gerade noch gefehlt. Einar mag zwar keiner Fliege etwas zu Leide tun: Doch wenn er jemanden mit einer Drohne erwischt, wie den Typen mit dem Hipster-Bart vorne: Dann verliert selbst der Buddha Thingvellirs seine Contenance.
"Es kommt fast täglich vor, dass irgendein Tourist mit einer Drohne auftaucht. Wir haben schon Verbotsschilder aufgestellt, aber scheinbar brauchen wir noch mehr. Drohnen sind ein Sicherheitsrisiko. Niemand kann garantieren, dass sie nicht abstürzen – und jemanden verletzen. Diese Dinger sind wirklich die Pest. Allein schon wegen des Lärms – gerade an einem windstillen Tag wie heute. Jeder denkt: Moment mal, was ist das denn?! Und schon schauen alle automatisch nach oben – zur Drohne."
Das wäre geklärt. Der junge US-Amerikaner hat sein Hightech-Spielzeug wieder weggepackt. Falls überhaupt darf er seine Drohne nur spät am Abend in die Luft steigen lassen, wenn keine Touristen mehr da sind. Einar ist zurück in sein kleines Büro in der Blockhütte gegangen - Papierkram erledigen. Irgendetwas ist immer zu tun – auch wenn das Personal zuletzt auf 45 erhöht wurde – nicht zuletzt Dank der gestiegenen Einnahmen. Seit letztem Jahr müssen Besucher fürs Parken zahlen: 500 isländische Kronen für das Tagesticket – umgerechnet 4,50 Euro. Der Eintritt in den Nationalpark bleibt weiter kostenlos.
"Eine der Herausforderungen für uns Isländer wird sein, angesichts der vielen Touristen stärker die Initiative zu ergreifen und mehr Kontrolle auszuüben. Unser Landmanagement ist noch unterentwickelt. Bislang ist es so: Du kannst in Island überall hin. Das Jedermanns-Recht ist eines unserer Grundrechte. Immer mehr Isländer fragen sich, ob dieses Grundrecht nicht längst missbraucht wird – von der Tourismusindustrie und Touristen, die sich daneben benehmen. Vor zehn Jahren war es für uns in Thingvellir oder jemanden, auf dessen Grundstück sich ein Wasserfall befindet, völlig OK, wenn ein paar Busse am Tag anhielten. Doch durch den plötzlichen Anstieg der Touristenzahlen drängt sich die Frage auf: Welche Rechte hast du eigentlich als Landbesitzer? Wer hat auf deinem Land das Sagen?"
Umweltministerin naturverbunden und wirtschaftsfreundlich?
Regelmäßig in Thingvellir zu Besuch ist auch Björt Olafsdottir. Und das nicht erst, seit sie im Januar als Umweltministerin ins Kabinett von Ministerpräsident Bjarni Benediktsson berufen wurde. Die Liberale gilt als naturverbunden. Naturverbunden und wirtschaftsfreundlich – lästern ihre Kritiker, vorzugsweise von der oppositionellen Piratenpartei. Wo die Piraten das Schreckgespenst eines unbegrenzten Tourismus sehen, sieht Olafsdottir: Unbegrenzte Möglichkeiten.
"Der Touristen-Boom bietet Island vielfältige Möglichkeiten. Er hat unsere Wirtschaft breiter aufgestellt. Das ist positiv. Dreiviertel der 1,8 Millionen Touristen letztes Jahr haben angegeben, dass sie hauptsächlich wegen der unberührten und spektakulären Natur nach Island gekommen sind. Natürlich weiß ich, dass ihre steigende Zahl den Druck auf unsere Natur erhöht. Doch die Touristen spülen auch viel Geld in unsere Kassen; Geld, das unter anderem dem Naturschutz und meinem Ministerium zugute kommt. Wir haben gerade das Budget für die Nationalparks erhöht. Machen wir uns nichts vor: Letzten Endes dreht sich alles ums Geld. Ich als Umweltministerin habe jetzt größeren Spielraum. Es fällt mir auch leichter, mir in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen – beispielsweise mit meiner Idee, das Hochland im Landesinneren zu einem Nationalpark zu machen. Es wäre der größte Nationalpark in Europa."
Schön hat es Islands Umweltministerin in ihrem Büro über den Dächern der Hauptstadt. Olafsdottir geht zum Fenster. Wasser soweit das Auge reicht. Und rechts, der Berg da – erklärt sie: Das sei der Esja, der Hausberg Reykjaviks. Schöne, heile Welt. Wenn da nicht die Kritik wäre. Natürlich weiß auch die 34jährige, dass neun von zehn Landsleuten in Umfragen angeben: Wir wollen nicht noch mehr Fremde auf der Insel. Und: Ja, meint sie sichtlich genervt: Natürlich kenne sie die Liste von Sehenswürdigkeiten, die laut der isländischen Umweltagentur durch den ungebremsten Tourismus gefährdet seien – darunter auch Thingvellir. Doch von Verboten oder Obergrenzen hält sie nichts. Der Markt wird es schon richten. In ein paar Tagen will Olafsdottir die Hauptstadt verlassen. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen: Endlich raus aus der Stadt – und rein in die Natur, nach Vatnajökull, den Nationalpark im Osten mit seinen gigantischen Gletschern.
"Die Reise dauert zwei Wochen. Ich bin dankbar, dass ich mein Privatleben mit meinem politischen Engagement verbinden kann. Im Nationalpark treffe ich Ranger und Touristen. Ich kann mir anhören, was sie denken. Und meine Familie ist mit dabei: Klasse. Mein Mann und ich nehmen unsere Kinder mit. Der Älteste ist sieben, die Zwillinge sind zwei. Unsere drei genießen das: In der Natur zu sein. Sie spielen im Matsch oder in der Sonne. Und pflücken Blumen."
Die Sommer in Island: Sie sind kurz und oft nass. Freitag, ein paar Minuten vor halb zwei, Wal-Safari. Seit gut einer viertel Stunde trotzen rund drei Dutzend Touristen in der Bucht von Reykjavik dem Nieselregen, um einen Zwerg-oder Buckelwal zu Gesicht zu bekommen – bislang vergeblich. Der guten Laune tut das keinen Abbruch.
"Als ich fünfzig geworden bin, hat mich mein Mann gefragt: Wo willst du hin? Und ich nur so: Nach Island."
"Viele meiner Bekannten meinten nur: Soso. Island?! Ist ja interessant: Ich kenne auch jemanden, der gerade da war."
"Was für ein nettes, schönes Land. So grün. Es ist toll hier: Die Vulkane, die Gletscher, die Möglichkeit Kajak zu fahren."
Schon eine Million Passagiere bei Wal-Safaris
Begeisterte Touristen: Das ist ganz nach dem Geschmack von Nicole Köstner. Die junge Deutsche ist seit März Teamleiterin bei den Wal-Safaris des Touranbieters Elding. Das Familienunternehmen wird dieses Jahr voraussichtlich seinen millionsten Passagier an Bord begrüßen können.
"Ich bin eigentlich Marine-Biologin. Ich hab selbst geforscht an Viren und Bakterien im Meer. Also Wal ist quasi genau das Gegenteil, aber das war auch der Grund, warum ich hergekommen bin. Einfach was anderes machen. Und auch ein bisschen reinschnuppern in die Richtung Tourismus; nachhaltiger Tourismus. Und eben auch Naturschutz. Elding ist auch involviert in verschiedene Research Projekte.”
Ab und zu geht auch Nicoles Kollege Sveinn Guðmundsson mit an Bord – meist um zu schauen, ob Nicole und die anderen auch die Umweltstandards einhalten. Seit sieben Jahren leitet der softe Typ die Umweltabteilung bei Elding.
"Wir haben in Reykjavik all diese Walsafari-Unternehmen, all diese Boote, die zeitgleich mehr oder weniger dieselben Gewässer ansteuern. In der Spitze 5,6,7 Boote. Wir halten uns an sehr strikte Verhaltensvorschriften auf See. Es ist uns wichtig, dass wir nachhaltig agieren. Schließlich wollen wir unser Geschäft noch möglichst lange betreiben. Deshalb müssen wir uns an diese Regeln halten. Sie geben vor, wie schnell wir segeln; dass wir die Geschwindigkeit drosseln, wenn wir einen Wal gesichtet haben; wie wir das Boot steuern, sobald wir in der Nähe des Tieres sind."
Elding ist eine Erfolgsgeschichte: Als das Familienunternehmen vor 17 Jahren an den Start ging, buchten gerade einmal 2000 Touristen eine Wal- oder Papageientaucher-Tour. Letztes Jahr waren es 140.000. Mehr Boote, mehr Standorte, mehr Arbeitsplätze – nicht nur bei Elding: Der Tourismus ist auf der Insel der Geysire und Vulkane zu einer Jobmaschine geworden. Auf unter vier Prozent ist die Arbeitslosigkeit gesunken. In Reykjavik entsteht ein Hotel nach dem anderem. Längst hat der Fremdenverkehr die Fischerei als wichtigste Wirtschaftsbranche abgelöst. Kein Vergleich zu früher, zum Bankencrash 2008/2009. Sveinn kann davon ein Lied singen. Er studierte damals technisches Design in Dänemark und musste Hals über Kopf seine Zelte abbrechen, weil sein isländisches Stipendium nicht mehr ausgezahlt wurde. Der Mittdreißiger verzieht das Gesicht. Schlimm war das. Dann lieber der Touristenboom – auch wenn Kritiker warnen, er könne ähnlich enden wie der Finanzboom: im Chaos.
"Der Touristenboom ist doch nicht nur negativ. Klar machst du dir Gedanken: Ich wohne im Zentrum von Reykjavik, in einem kleinen Wohngebäude mit neun Wohnungen. Zwei davon werden jetzt auch über Airbnb – die Vermittlungsagentur – an Touristen vermietet. Anfangs war ich richtig sauer. Ich dachte: Na super, die werden mich um meinen Schlaf bringen. Doch was soll ich sagen: Ich habe noch keinen Mucks gehört. Kein Lärm, nichts. Vielleicht sollten wir uns alle entspannen und einmal tief Luft holen. "
Seit letztem Jahr hat Elding auch zwei Boote in Akureyri, der malerisch an einem Fjord gelegenen Universitätsstadt hoch im Norden Islands. Bis zum Polarkreis ist es nicht mehr weit.
"This is kind of the new kid on the block. And it hasn’t really found its space."
Der Tourismus: Eine Art Halbstarker, der seinen Platz noch finden muss: Um einen griffigen Spruch ist Gudrun Gunnarsdottir nie verlegen. Dienstag-vormittag, die Universität von Akureyri. Draußen regnet es, mal wieder. Die Chefin des isländischen Forschungsinstituts für Touristik stört das nicht weiter. Sie hat andere Sorgen.
"Wir kämpfen schon seit langem dafür, dass unser Budget erhöht wird. Der Tourismus in Island ist noch viel zu wenig erforscht. Da besteht ein eklatanter Mangel. Es ist schwierig, Gelder für Forschungsprojekte im Tourismusbereich zu bekommen. Wir erhalten nur einen Bruchteil dessen, was Projekte in der Fischerei und Landwirtschaft erhalten. Das ist schade. Aber langsam tut sich etwas. Die Regierung und die Tourismus-Unternehmen haben erkannt, dass wir mehr Daten sammeln und systematischer forschen müssen, um zu sehen: Was passiert, wenn ein Land zu einem Tourismus-Land wird."
Tourismus als kulturelle Kraft?
Gedankenversunken greift die Wissenschaftlerin in die Glasschale mit dem M+Ms auf ihrem Schreibtisch. Nervennahrung. 45 Millionen isländische Kronen stehen dem 2000 gegründeten Forschungsinstitut zur Verfügung – umgerechnet 400.000 Euro. Damit kommt Gudrun mehr schlecht als recht über die Runden. Gerade einmal zweieinhalb reguläre Stellen gibt es am Institut – ihre inklusive. Sie seufzt leise – ehe sie sich einen Ruck gibt und ein flammende Plädoyer hält - über die "Komplexität des modernen Tourismus".
"Tourismus ist nicht nur ein wirtschaftlicher Faktor. Er ist auch so etwas wie eine kulturelle Kraft. Wir müssen verstärkt schauen: Was geschieht, wenn eine Gesellschaft wie die isländische, die von Fischerei und Landwirtschaft geprägt ist, zu einer Dienstleistungsgesellschaft wird. Wie wirkt sich das auf die Gesellschaft aus? Auf unsere gesellschaftliche Gruppen? Neue Leute tauchen auf. Sie verhalten sich anders, haben andere Traditionen. Gehen wir dadurch anders miteinander um? Tourismus kann insbesondere unseren ländlichen Gegenden einen wirtschaftlichen Schub geben. Aber er kann auch das soziale Gefüge kaputt machen. Das ist etwas, was wir besser verstehen müssen."
Gudrun ist in letzter Zeit eine gefragte Gesprächspartnerin. Fernsehauftritte; Interview-Anfragen in- und ausländischer Medien: Immer mehr Leute wollen wissen, ob die 330.000- Einwohner-zählende Atlantik-Insel auf Dauer so viele Touristen verkraften kann? Von Obergrenzen hält auch sie nichts, von gebührenpflichtigen Parkplätzen, besser ausgebauten Straßen, umso mehr. Die Uhr einfach zurückdrehen – meint sie - das geht nicht.
"Tourismus ist eine Kraft, die unsere Welt wirklich verändert. Reisen ist zu einem Grundrecht des modernen Menschen geworden. Es steht dir quasi zu. Das hat es so noch nie gegeben. Du musst dir nur anschauen, wie viele Menschen inzwischen reisen: Allein die ganzen Chinesen. Was auch interessant ist: Alle wollen etwas vom Kuchen abhaben. Es ist wie bei einem Spiel. In Island beispielsweise haben nicht alle Gemeinden gleichermaßen vom Tourismus-Boom profitiert. Speziell die Gemeinden, die am weitesten weg sind von Reykjavik, meckern: Wir haben nicht genügend Touristen. Macht was!"
Letztens war Gudrun in ihrem alten Heimatdorf nördlich von Akureyri. Sie hat nicht schlecht gestaunt: Statt eines heruntergekommenen Restaurants mit unregelmäßigen Öffnungszeiten wie in ihrer Jugend gab es drei Restaurants und Cafés. In einem hat sie einen Cappuccino getrunken - mit Sojamilch. Die Zeiten – sie haben sich geändert, im Land der Wal-Safaris und begeisterten Touristen.