Shlomo Sand: "Warum ich aufhöre, Jude zu sein. Ein israelischer Standpunkt"
Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer
Propyläen Verlag, Oktober 2013
160 Seiten, 18,00 Euro, auch als ebook erhältlich
Absage an die jüdische Identität
Shlomo Sand setzt sich nicht zum ersten Mal kritisch mit dem jüdischen Volk auseinander. Die Erkenntnis, dass es sich dabei nicht um eine homogene Gruppe handelt, ist aber nicht neu. Seine Argumente gehen über die in früheren Publikationen leider nicht hinaus.
Judentum ist eine Religion. Darüber hinaus aber auch eine Kultur und ein Volk, je nachdem, wie weit man den Begriff dehnen möchte. Aber was genau macht einen zum Juden, wenn man nicht religiös ist? Ist es, wie beispielsweise bei den Deutschen, die Sprache, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur oder einem Land?
Das ist die zentrale Frage, die sich Shlomo Sand stellt und gleich zu Beginn seines Buches beantwortet:
"Der Staat Israel definiert mich nicht als Juden, weil ich eine jüdische Sprache spreche, jüdische Lieder singe, jüdische Speisen esse, jüdische Bücher schreibe oder irgendeiner anderweitigen jüdischen Aktivität nachgehe.
Ich gelte nach Ansicht des Staates als Jude, weil er meinen Stammbaum durchstöbert und sich vergewissert hat, dass meine Mutter jüdisch ist, weil meine Großmutter es auch war, was wiederum meiner Urgroßmutter zu verdanken ist, und so weiter bis ans Ende der Ahnenreihe." (S. 12)
Mit dieser Bestimmung von Jude-Sein will sich er allerdings nicht abfinden. Er meint, dass die Kultivierung einer nichtreligiösen jüdischen Identität ethnozentrische, mehr oder weniger rassistische Standpunkte fördere. Davon distanziere er sich; stattdessen wolle er sich fortan als Israeli bekennen.
Er nennt auch einen ganz pragmatischen Grund für die Änderung seiner Identitätsbezeichnung, nämlich den Umstand, dass es keine "tatsächlich praktizierte nichtreligiöse jüdische Kultur" gebe. Als säkularer Mensch könne er somit nicht jüdisch sein.
Gerichte urteilen schon über die Frage des Jüdisch-Seins
Über die Frage, ob man sein Jüdisch-Sein offiziell ablegen und stattdessen für ein Israelisch-Sein optieren könne, wird in Israel schon lange diskutiert. Dort wurde erst vor wenigen Wochen die Klage einiger jüdisch-israelischer BürgerInnen gegen ihre offizielle Bezeichnung als jüdisch von einem Gericht zurückgewiesen.
Sie wollten, wie es auch Shlomo Sand in seinem Buch fordert, als Israelis wahrgenommen werden. Darin implizierten sie ihre Ablehnung einer ethnischen Unterteilung der israelischen Bevölkerung, die oftmals auch mit einer Diskriminierung von Nichtjuden einhergeht.
Der Historiker aus Tel Aviv gibt in seinem Buch einen gerafften Überblick über die Geschichte der Juden vor allem in der Diaspora. Das allermeiste ist bereits aus seinen bisherigen Publikationen bekannt. Wie in seinen früheren Texten, versucht er angebliche Mythen in der jüdischen Historiographie zu zerpflücken. Dabei geht es ihm vor allem um die behauptete Kontinuität einer jüdischen Ethnie von der Antike bis zur Gegenwart.
Er verweist dabei auf die im Mittelalter stattgefundene Konversion der Chasaren zum Judentum, die die Vorstellung eines jüdischen Volkes, das lediglich durch hohe Geburtenzahlen einen demographischen Zuwachs erfahren habe, widerlege.
Zudem seien die Juden in Israel eine konstruierte Gemeinschaft, die wenig mit der jiddischen wie auch maghrebinischen Kultur, in der die Juden vor der Shoah verwurzelt waren, zu tun habe. Selbst an der hebräischen Sprache stößt er sich:
"Der Wortschatz wurde zwar hauptsächlich den Büchern der hebräischen Bibel entlehnt, die Schrift jedoch war assyrisch-aramäisch (also aus der Zeit der Mischna statt aus biblischer Zeit), der Satzbau wiederum orientierte sich am Slawisch-Jiddischen (also keineswegs am biblischen Hebräisch).
Diese Sprache wird heutzutage irrtümlicherweise 'Hebräisch' genannt. Mangels eines besseren Begriffs bin auch ich gezwungen, sie so zu nennen; progressiven Sprachwissenschaftlern zufolge wäre es allerdings treffender, sie als 'Israelisch' zu bezeichnen." (S. 71)
Zentrale Rolle der Shoah laut Sand unzulässige Mythologisierung
Viele Studien, die in den letzten Jahren zum Thema Erinnerung und Gedächtnis erschienen sind, haben deutlich gemacht, dass Identität und kollektives Bewusstsein ganz wesentlich von geschichtlichen Narrativen geprägt sind. In Israel nimmt die Shoah bei dieser Gedächtniskonstruktion natürlich einen zentralen Platz ein. Auch darin sieht Shlomo Sand eine unzulässige Mythologisierung.
Die Shoah, so meint er, sei von Israel für politische Zwecke instrumentalisiert worden. Dies sei nur möglich gewesen, indem sie verzerrt dargestellt worden sei. Nichtjüdische Opfer des Nationalsozialismus seinen aus seinen Darstellungen systematisch ausgeblendet worden:
Die Holocaust-Industrie "war darauf aus, das Leiden der Vergangenheit zu maximieren und aus ihm so viel politisches Prestige und sogar wirtschaftliches Kapital zu schlagen wie nur möglich. Deshalb (geriet) der Genozid zu einer ausschließlich jüdischen Angelegenheit. Auch jeder Vergleich mit anderen Völkermorden war von nun an untersagt.
Als beispielsweise Nachkommen der Armenier die Einführung eines nationalen Gedenktags zur Erinnerung an das Massaker erwirken wollten, das die Türken an ihnen verübt hatten, sprang die prozionistische Lobby Letzteren bei und versuchte, einen solchen Schritt zu verhindern." (S. 100)
Das neue Buch von Shlomo Sand geht über seine bisherigen Publikationen "Die Erfindung des jüdischen Volkes" und "Die Erfindung des Landes Israel" kaum hinaus. Zudem sind seine Darstellungen gegen Widersprüche und Verzerrungen nicht gefeit.
Wenn er beispielsweise schreibt, dass lediglich die kleinen jüdischen Gemeinschaften Westeuropas und der muslimischen Welt von ihren nichtjüdischen Nachbarn beeinflusste religiöse Bräuche angenommen hätten, nicht aber jüdische Gemeinden in Osteuropa, so ist diese Aussage ganz einfach unrichtig.
Und wenn er in weiterer Folge die Entwicklung einzelner Ostjuden zu Sozialrevolutionären, Bolschewiken und Anarchisten einzig und allein als Reaktion auf die strenge jüdische Religiosität in Osteuropa auslegt, so muss er sich den Vorwurf einer verengten historischen Sichtweise gefallen lassen.
Er hat natürlich Recht, wenn er das jüdische Volk als ein Konstrukt bezeichnet. Aber wen überrascht diese Aussage heutzutage noch? Welche Gemeinschaft ist nicht konstruiert? Man hätte sich von Shlomo Sands neuem Buch sicherlich mehr erwarten können.