Einschüchterung ist Netanjahus Kalkül
Israels Ministerpräsident Netanjahu spielt mit den Ängsten der Menschen, sagt der Schriftsteller Yiftach Ashkenazi. Er wolle damit profane Fragen nach hohen Mieten und dem kollabierenden Gesundheitssystem ersticken.
Als nach den jüngsten Anschlägen auf Juden in Frankreich und Dänemark die Regierung Netanjahu erklärte, Europas Juden sollten nach Israel kommen, dies sei der einzige Ort, an dem Juden wirklich sicher seien − da verspürte ich zunächst Scham. Weil solche Aussagen jede Spur von Mitgefühl mit den Opfern der Anschläge vermissen lassen. Dann, als ich nachdachte, wurde ich berechnender und zorniger.
Meine Kalkulationen haben nichts mit Diplomatie oder nationaler Sicherheit zu tun, sondern mit einem drängenden persönlichen Problem. Ich werde in wenigen Monaten umziehen müssen. Ich brauche ein neues Appartement in Jerusalem. Also ertappte ich mich bei der Berechnung, wie die neuen Einwanderer aus Europa die ohnehin schon überteuerten Mieten steigen lassen würden. Schon jetzt gehören viele Appartements in meiner Nachbarschaft wohlhabenden Europäern oder Amerikanern. Sie vermieten sie nicht, und die Preise der verbleibenden Wohnungen steigen und steigen. Das Letzte, was wir hier brauchen, dachte ich, sind tausende Juden, die dem Ruf des Ministerpräsidenten folgen.
Warum junge Israelis das Land verlassen
Dann dachte ich noch einmal nach. Und da wuchs mein Ärger noch weiter an. Denn die hohen Mieten sind nur ein kleiner Teil jener Probleme, mit denen sich die israelische Gesellschaft konfrontiert sieht. Das Gesundheitssystem bricht zusammen. Die gesamte Politik folgt einem extremen Kapitalismus in seiner übelsten Form. Viele Israelis wissen: Obwohl sie ihre Steuern bezahlen, werden sie keine staatliche Hilfe erhalten, wenn sie sie benötigen. Auch deshalb verlassen so viele junge Israelis das Land.
Es ist völlig unwahrscheinlich, dass irgendjemand Netanjahus Aufruf folgen und den umgekehrten Weg nach Israel gehen wird. Doch das war es nicht, was mich so fassungslos machte. Was mich wirklich erbost, ist Netanjahus Dreistigkeit. Die Wahlen stehen unmittelbar bevor. Aber während wir in Israel mit mehr Problemen zu kämpfen haben als überhaupt in den Wahlkampfdebatten auftauchen, setzt der Ministerpräsident wieder einmal auf Einschüchterung. Er will die israelische Öffentlichkeit verängstigen, bis sie ihn wählt. Und er will die jüdische Öffentlichkeit in Europa so sehr verstören, dass sie ihm beisteht.
Jahrelanges Versagen der politischen Rechten
Seit Jahren schon betreibt Netanjahu diese Methode des Machterhalts. Seiner düsteren Weltsicht zufolge ist alles vorherbestimmt. Die Menschen auf der ganzen Welt werden uns Juden immer hassen. Und der nächste Holocaust lauert hinter der nächsten Ecke, ob mit Atombomben oder anders.
Wenn aber der Antisemitismus nie verschwinden wird, wenn der nächste Judenmord nur eine Frage der Zeit ist, dann bleibt keine Luft mehr für die profane Frage nach zu hohen Mieten oder einem kollabierenden Gesundheitssystem. Diese Weltsicht, dieses Schüren von Ängsten soll das jahrelange Versagen der politischen Rechten vergessen machen.
Gleichzeitig richtet sich diese Weltsicht gegen den Kern des Zionismus. Dieser besagt, dass wir Juden aufhören müssen, die Geschichte als etwas zu begreifen, das unsere Zukunft bestimmt, dass wir vielmehr selbst die Verantwortung für unser Leben übernehmen sollen. Er besagt, dass wir berechtigt und verpflichtet sind, eine neue, eine ideale Gesellschaft zu erschaffen.
Das gilt auch für mich heute und für andere, die längst im Jüdischen Staat leben. Wir müssen aufhören, bloß zu reagieren, als hätten wir keine freie Wahl. Wir müssen ein Land schaffen, in dem das Leben gut ist, das ohne Besatzung auskommt, ohne soziale Diskriminierung. Ein Staat, in dem niemand Angst und Terror missbraucht, um sich selbst an der Macht zu halten.
Wenn wir das schaffen, dann werde ich mich über jede Einwanderungswelle freuen. Denn dann werden die Menschen nicht aus Angst nach Israel kommen, sondern weil sie es wollen.
Yiftach Ashkenazi, Jahrgang 1980, Schriftsteller. Er studierte Geschichte und Cultural Studies und arbeitete in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Sein erster Roman "Die Geschichte vom Tod meiner Stadt" (Luchterhand) erzählt von seinem Geburtsort Karmiel im Norden Israels, den er nach dem Militärdienst wieder besuchte und nun mit anderen Augen sah. Weitere Veröffentlichungen: "Birkenau my love", "Persona non grata" sowie der Roman "Fulfillment" (2014), in dem er die Geschichte der israelischen Linken erzählt. In der Anthologie "Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen. Israelische und deutsche Autoren schreiben über das andere Land" (2015) ist Ashkenazi mit einer Kurzgeschichte vertreten.