Israel

Schreiben während des Raketenalarms

Die deutsche Schriftstellerin Sarah Stricker auf der Treppe zum Bunker in Tel Aviv
Sarah Stricker auf der Treppe zum Bunker in Tel Aviv © privat
Von Arkadiusz Luba |
Im aktuellen Konflikt zwischen der Hamas und Israel sind bis jetzt mehr als eintausend Menschen ums Leben gekommen. Der Gang in den Luftschutzbunker gehört für die Bewohner Tel Avivs zum täglichen Leben. Die 33-jährige Sarah Stricker findet es schockierend, wie routiniert viele mit der Kriegssituation umgehen.
Wenn die Sirenen heulen, hat man in Tel Aviv etwa anderthalb Minuten Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. In der Luft knallt es. Die Raketen der Hamas werden von dem israelischen Abwehrsystem "Iron-Dome" abgefangen, bevor sie ihre Ziele treffen. Die Erfolgsrate liegt bei etwa 90 Prozent.
Aus der Wohnung von Sarah Stricker geht man im Treppenhaus eine lange Treppe links runter zum Bunker. Gartenstühle, ein paar Lampen und zwei Sofas stehen in dem Raum; in der Ecke ein alter Kühlschrank mit Glastüren; in der Mitte ein Tisch, auf dem seit ein paar Tagen eine Tischdecke liegt. Jemand hat versucht, es hier häuslicher zu gestalten. Am meisten erschrocken bleiben die Kinder, denen man versucht, die Situation zu erklären, meint Sarah:
"Ich habe mich die ganze Zeit nur gefragt, was macht das mit dem Kind, so aufzuwachsen. Wie soll man vermeiden, dass die Angst, die so 'n Kind jetzt erlebt, sich festsetzt und zu eitern beginnt; dass sie wächst und irgendwann zu Hass wird. Und das ist auf der anderen Seite der Grenze nicht anders. Wenn ich in einem Land groß werden würde, in dem ständig auf mich geschossen wird, in dem mein Haus bombardiert wird, glaube ich auch nicht, dass ich dazu in der Lage wäre, denjenigen, der diese Bomben auf mich schießt, nicht zu hassen."
Vor sechs Jahren entwickelte das Joint Distribution Committee, eine Hilfsorganisation US-amerikanischer Juden für jüdische Glaubensgenossen, ein Lied für Kinder von Sderot, unweit des nördlichen Gazastreifens. "Schnell, schnell, schnell, zu einem sicheren Ort / Schnell, schnell, jetzt ist ein bisschen gefährlich", singen die Kinder. Der Liedtext soll sie von Angst und Furcht ablenken, die Bewegungen dabei – zu mehr positiven Gedanken verleiten. "Atme auf, wir können lachen / Es ist vorbei, mir geht’s gut, es ist vorbei – Jaaaa!", endet das "Alarmlied".
"Wer tot ist, schickt eine SMS"
Sarahs Wohnhaus ist sehr zentral gelegen, in der Shenkin, einer bei Künstlern beliebten Straße, unweit des berühmten, breiten Rothschild Boulevards. Seit fast fünf Jahren lebt Sarah mit ihrem israelischen Freund in Tel Aviv. Es gehe ihr "blendend" und sie sei "wahnsinnig glücklich" hier, sagte sie noch im April. Die ersten vier Jahre ist sie auch überhaupt nicht zur Familie nach Deutschland gefahren. Heute würde sie am liebsten das Leben für die Dauer der Gefechte anhalten, es gehe aber nicht. Manchmal überkomme sie ein Schamgefühl, offenbart sie:
"Wenn Freunde oder Familienmitglieder anrufen, mit Panik in der Stimme, und ich gleichzeitig die Leute vom Balkon höre, die wie an jedem anderen Tag auch einkaufen gehen, sich unterhalten, lachen; wenn ich doch weiß, dass hier eigentlich ein normales Leben weitergeht, dann schäme ich mich, dass die Leute sich so wahnsinnig zu Hause Sorgen machen, die mir völlig unverdient erscheinen, schäme mich aber gleichzeitig, dass ich trotz der relativ sicheren Lage, die wir in Tel Aviv hier doch haben, einfach nicht schaffe, ein normales Leben weiter zu führen."
Ruhig bleibt sie also zur Zeit nie. Während das Gespräch aufgezeichnet wird, trägt sie leichte Straßenschuhe. Es könnte jederzeit Alarm geben und sie müsste schnell raus. Manchmal findet sie es schockierend, wie routiniert schon die Leute mit der Kriegssituation umgehen:
"Derzeit wächst die Angst natürlich. Dann gibt's diese absurden Momente, wenn man im Bunker sitzt und eigentlich nichts mit sich anzufangen weiß und die ganzen Nachbarn zusammensitzen. Und es dann genauso diejenigen gibt, die versuchen, dem irgendwie scherzhaft zu begegnen. Also ein Freund von mir hat zum Beispiel neulich nach einem sehr schlimmen Raketenangriff dann über unsere WhatsApp-Gruppe die Nachricht rumgeschickt "Seid ihr noch alle da? Wer tot ist, schickt eine SMS." Man sieht aber genauso die älteren Leute, manche die tatsächlich noch den Holocaust überlebt haben, die dann zitternd neben einem sitzen. Ich gehe danach nach oben, ich mach weiter, und merk' manchmal erst nach fünf Minuten, dass meine Hände zittern, während ich versuch' zu tippen."
"Für ein Leben in Israel entschieden, in guten wie in schlechten Tagen"
Wie stark solche Situationen ihren zweiten Roman beeinflussen werden, das weiß Sarah nicht. In den vergangenen Kriegswochen hat sie nur eine halbe Seite daran geschrieben. In Tagen wie diesen würden alle geschliffenen Sätze und Schönformulierungen unendlich hohl und leer klingen, meint sie. Ihren Debütroman "Fünf Kopeken", der letzten Spätsommer erschienen ist, hätte sie dagegen niemals ohne Israel schreiben können.
"Ich versuch', in der Geschichte der "Fünf Kopeken" zu zeigen, was der zweite Weltkrieg und der Massenmord an den Juden mit den Deutschen gemacht hat; wie er uns bis in die dritte Generation verändert hat und bis heute nachwirkt. Und ganz vieles davon ist mir erst klar geworden, als sie selbst nicht mehr in Deutschland war, sondern eben in dem Land des Volkes, das die Deutschen versucht haben zu vernichten."
Ob sie jetzt Israel verlassen wolle? Dazu hat sie eine klare Antwort:
"Ich würde im Moment auf gar keinen Fall Israel verlassen, auch wenn viele das tun. Ich würd' durchdrehen, wenn ich das, was hier passiert jetzt grade nur über die Nachrichten mitbekommen würde. Mir ist es schon wichtig, hier zu sein, Infos aus erster Hand zu bekommen. Und ich habe mich einfach für ein Leben in Israel entschieden, in guten wie in schlechten Tagen."
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