Israelischer Autor: UN-Antrag der Palästinenser zustimmen
Nächste Woche wollen die Palästinenser vor der UN-Vollversammlung ihre Unabhängigkeit beantragen. Der israelische Psychologe und Autor Carlo Strenger empfiehlt seiner Regierung, sie zu unterstützen. Das würde dazu führen, "dass Israel erstmals eine international anerkannte Grenze hat".
Stephan Karkowsky: Für Israel waren die Zeiten schon immer hart. In diesen Tagen aber wird der israelische Staat selbst für seine Verhältnisse extrem herausgefordert. In Kairo stürmen Demonstranten die israelische Botschaft. Die Türkei bricht ihre diplomatischen Beziehungen zu Israel ab. Vor allem aber steht nächste Woche ein Antrag an in der UN-Vollversammlung. Dann will Palästina von der UNO gern als unabhängiger Staat und Mitglied anerkannt werden, was Israel endgültig zu von der Staatengemeinschaft verdammten Besatzern machen könnte. Carlo Strenger ist Professor für Psychologie an der Tel-Aviv-Universität, Autor und Kommentator für die israelische Zeitung "Haaretz". Im Oktober erscheint von ihm bei Suhrkamp das Buch "Israel – Einführung in ein schwieriges Land", und er empfiehlt der Regierung Netanjahu, sie möge doch bitte den palästinensischen Antrag unterstützen. Herr Strenger, warum das?
Carlo Strenger: Israel hat während seiner Geschichte zwei große Probleme gehabt – mehr als zwei. Aber zwei der größten Probleme waren einerseits, dass Israel von sehr vielen Teilen der Welt nicht akzeptiert wurde, und Israel hat bis heute nicht von Norden bis Süden eine international anerkannte Grenze. Von mir aus gesehen – und ich bin da wirklich nicht alleine – wäre eine solche Anerkennung eines palästinensischen Staates innerhalb der 1967er-Grenzen ein Schritt dazu erstens, dass die Existenzlegitimation Israels nochmals ganz klar wieder bestätigt würde, und dazu würde kommen, dass Israel erstmals eine international klipp und klar anerkannte Grenze hat, von Anfang bis zum Schluss.
Karkowsky: Braucht Israel das denn wirklich, sein Existenzrecht noch mal anerkannt zu bekommen? Immerhin ist es ja seit 1949 UN-Mitglied.
Strenger: Ja, es ist etwas ganz paradoxes, dass Israel wohl das einzige Land ist, das in der UNO anerkannt ist, aber das in gewissen Kreisen ganz offiziell – zum Beispiel Ahmadinedschad sagt ja immer wieder, dass die zionistische Entität, wie er so schön sagt, weggefegt werden sollte. Aber seien wir doch ehrlich: Auch in Europa gibt es hie und da die Menschen, die hintergründig sagen, dieser Staat war doch eigentlich ein bisschen überflüssig. Und die Israelis fühlen sich in vielen Hinsichten zutiefst verunsichert. Und ich glaube, der große Fehler war, nicht auf diese palästinensische Initiative einzugehen und sie dann so zu modifizieren, dass klar gewesen wäre, dass die Anerkennung des palästinensischen Staates auch jeglichen Zweifel darüber, dass Israel und wo Israel genau ist, dass jeglicher Zweifel in dieser Hinsicht einfach überflüssig geworden wäre.
Karkowsky: Was eine solche Anerkennung implizieren würde, muss ich Ihnen nicht erzählen. Denn im Falle der Anerkennung Palästinas müsste Israel sich ja endgültig verabschieden von seinen Siedlungen im Westjordanland. Und Siedlungen klingt immer so niedlich, aber es sind ja 300.000 Menschen, die da leben, für die man in diesem winzigen Land anderswo Platz finden würde. Ist das nicht völlig illusorisch?
Strenger: Das kommt drauf an, wie man es zählt. Man kann auch so zählen, dass es eine halbe Millionen sind, aber der Konsensus auch mit dem Palästinensern ist, dass die großen Siedlungsblöcke in einem Friedensabkommen zu Israel hinzugefügt würden und dann in einem Austausch die Palästinenser genau die gleiche Landmenge zurückbekommen würden. Man rechnet eher damit, dass zirka 80.000 Menschen ihren heutigen Wohnort verlassen müssten.
Karkowsky: Aber noch ist diese Grenze ja nicht gezogen, das würde ja viele Verhandlungen voraussetzen. Da wäre ja der Schritt einer Anerkennung des Palästinenserstaates eindeutig zu früh.
Strenger: Insofern nicht – es ist ja auch noch nicht ganz klar, welchen Text die Palästinenser da wirklich bringen werden. Und die Version, von der man heute spricht, ist, dass sie eine Anerkennung von 1967 mit Landaustausch, der durch Verhandlungen festgelegt wird, dass diese Anerkennung so formuliert wird. Und damit – meines Erachtens, unseres Erachtens, kann ich ja doch auch sagen – könnte Israel eigentlich ganz gut leben.
Karkowsky: Sie hören im "Radiofeuilleton" Carlo Strenger, Psychologieprofessor aus Israel. Herr Strenger, Sie stehen ja mit Ihrer Meinung nicht alleine. Hunderte Intellektuelle, Künstler, Ex-Militärs haben in Israel diesen Aufruf unterzeichnet zur Anerkennung. Auch der Historiker Yehuda Bauer. Er kritisiert heute in der "Süddeutschen Zeitung", dass Ihre Regierungspolitiker unbedingt eine palästinensische Bestätigung dafür bräuchten, jüdisch zu sein, und er vermutet darin – natürlich leicht humorvoll – eine Identitätskrise, die am besten durch Psychologen zu lösen wäre. Sie sind einer. Können Sie der Regierung helfen?
Strenger: Ja … Nein, helfen kann ich leider praktisch nicht, aber klären kann ich es schon. Ich glaube, was von hier aus schwer zu verstehen ist, wie traumatisiert Israel ist von der zweiten Intifada. In den 90er-Jahren haben wir alle gehofft, dass der Frieden kommt, und dann ist der berühmte Camp-David-Gipfel, das Gipfeltreffen im Jahre 2000, Clinton, Barak, Arafat, und drei Monate später geht die zweite Intifada los, Tausende von Menschen verlieren ihr Leben, und die Israelis sind zum Schluss gekommen: Wir wollen für diesen Frieden, oder wie Sie sagen würden, für diese Friedensillusion keine Risiken mehr eingehen. Wir haben das einmal gemacht, und es ist uns im wörtlichsten Sinne des Wortes im Gesicht explodiert. Und so schlecht der Status Quo sein mag, wir ziehen es immer noch vor, keine Risiken einzugehen. Und es ist für uns, diejenigen, die glauben, dass Israel dieses Risiko eingehen muss, unter anderem aus Sicherheitsgründen, sehr schwierig, die Wählerschaft und sicherlich auch die Politiker davon zu überzeugen.
Karkowsky: Nun gehe ich mal davon aus, dass Sie nicht ernsthaft noch darauf hoffen, dass die Regierung Netanjahu diesen Schritt macht und sich dem Antrag auf Anerkennung anschließt, oder?
Strenger: Nein, überhaupt nicht.
Karkowsky: Was hat es dann für Folgen, wenn die Palästinenser kommende Woche, sagen wir, vor nahezu drei Vierteln der UN-Mitgliedsstaaten anerkannt werden?
Strenger: Ich sage Ihnen zuerst, was meine große Befürchtung ist. Meine große Befürchtung ist, dass mit der jetzigen Regierung gar nichts passieren wird. Und es ist deswegen eine Befürchtung, weil Abu Mazen, also der Präsident der palästinensischen Autorität und Salam Fayyad, der Ministerpräsident, sind nicht sehr populär in palästinensischen Kreisen. Wenn es sich dann rausstellen wird, dass diese Anerkennung de facto nichts ändert, dann befürchte ich sehr, dass die sehr gemäßigte Führung, die im Moment die Westbank führt, in die Enge getrieben werden könnte, und ich hoffe wirklich enorm, dass es nicht zu weiteren Gewalttaten kommen wird.
Karkowsky: Wäre eine solche Anerkennung, egal in welchem Maße sie stattfinden würde vor der UN, wäre das auch eine Rechtfertigung militanter Palästinenser, nun erst recht militant vorzugehen gegen Israel?
Strenger: Nur dann, wenn sie keine Resultate bringt. Vorläufig hat ja die palästinensische Führung sehr darauf – ist sehr darauf erpicht, dass Proteste rein friedlich, gewaltlos sein sollten. Das Problem ist, dass der Nahe Osten ein Pulverfass ist. Und wenn da jemand nur eine brennende Zigarette irgendwo wegwirft, kann das alles in die Luft gehen, und ich bin mir nicht darüber im Klaren, wie viel Kontrolle die palästinensische Führung hat. Und ich muss auch ganz ehrlich sagen, ich glaube auch nicht, dass die israelische Regierung sehr viel Kontrolle vor allem über die extremeren Siedler hat, die vielleicht sogar Interesse haben könnten, hier Unruhe zu stiften. Deswegen bin ich ziemlich beunruhigt über die nahe Zukunft.
Karkowsky: Yehuda Bauer sagt in der "Süddeutschen", dass seine – und damit auch Ihre – Meinung eine Minderheitenmeinung ist in Israel. Nun sehen wir fast täglich in Tel Aviv diese Unmengen an Demonstranten. Da geht es ja um ganz andere Dinge. Da geht es um das Soziale, um steigende Mieten, dass man die Lebenshaltungskosten sich nicht mehr leisten kann. Wie stark wird denn diese Frage eigentlich, also die mögliche Anerkennung eines Palästinenserstaates in Israel diskutiert?
Strenger: Schauen Sie, ich kenne die Führung dieser Proteste und Demonstrationen gut. Viele von ihnen waren Studenten von mir. Ich kann noch sagen, dass die meisten von ihnen links orientiert sind und an sich sehr für einen palästinensischen Staat wären. Sie haben die – ich glaube, weise – Entscheidung gemacht, die brisanten politischen Themen nicht in diese Proteste hineinzubringen, um für einmal in Israel einen Konsensus über wichtige Fragen erreichen zu können – etwas, was wir seit vielen Jahren nicht mehr erlebt haben.
Karkowsky: Und die israelischen Wähler, stehen die wirklich mehrheitlich noch hinter dieser konservativen Regierung Netanjahu?
Strenger: Ich glaube, dass die Mehrzahl der israelischen Wähler nicht ideologisch motiviert ist. Die Mehrzahl wählen nach rechts aus Angst. Ich glaube, dass, wenn der Durchschnittswähler – wenn es so was gibt, ich würde sagen, so ungefähr um die 60 Prozent der israelischen Wählerschaft –, wenn sie einen Weg sehen würden, der zur Zwei-Staaten-Lösung führen kann, ohne dass noch mal was furchtbares passiert, dann würden sie wahrscheinlich etwas mehr ins Zentrum wählen. Das Problem ist, dass sie im Moment auch, natürlich auch von den Rechtspolitikern, immer wieder verängstigt werden, und das bildet dann einen gewissen Teufelskreis zwischen der Angst, die zum Teil – ich muss das sehr betonen – gerechtfertigt ist. Das ist nicht einfach Paranoia, ich meine, Hisbollah hat angegriffen, Hamas hat angegriffen, und was natürlich die Wähler auch sehr bedrückt, ist, also, wir sind aus dem Gaza-Streifen raus, und die Angriffe sind weitergegangen. Und diese Angst müsste von einer Führungsfigur beruhigt werden, und das ist, was leider die heutige Regierung nicht tut.
Karkowsky: Carlo Strenger ist Professor für Psychologie an der Tel-Aviv-Universität, Autor, Blogger, Kommentator bei "Haaretz". Im Oktober erscheint von ihm bei Suhrkamp das Buch "Israel – Einführung in ein schwieriges Land". Danke für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Carlo Strenger: Israel hat während seiner Geschichte zwei große Probleme gehabt – mehr als zwei. Aber zwei der größten Probleme waren einerseits, dass Israel von sehr vielen Teilen der Welt nicht akzeptiert wurde, und Israel hat bis heute nicht von Norden bis Süden eine international anerkannte Grenze. Von mir aus gesehen – und ich bin da wirklich nicht alleine – wäre eine solche Anerkennung eines palästinensischen Staates innerhalb der 1967er-Grenzen ein Schritt dazu erstens, dass die Existenzlegitimation Israels nochmals ganz klar wieder bestätigt würde, und dazu würde kommen, dass Israel erstmals eine international klipp und klar anerkannte Grenze hat, von Anfang bis zum Schluss.
Karkowsky: Braucht Israel das denn wirklich, sein Existenzrecht noch mal anerkannt zu bekommen? Immerhin ist es ja seit 1949 UN-Mitglied.
Strenger: Ja, es ist etwas ganz paradoxes, dass Israel wohl das einzige Land ist, das in der UNO anerkannt ist, aber das in gewissen Kreisen ganz offiziell – zum Beispiel Ahmadinedschad sagt ja immer wieder, dass die zionistische Entität, wie er so schön sagt, weggefegt werden sollte. Aber seien wir doch ehrlich: Auch in Europa gibt es hie und da die Menschen, die hintergründig sagen, dieser Staat war doch eigentlich ein bisschen überflüssig. Und die Israelis fühlen sich in vielen Hinsichten zutiefst verunsichert. Und ich glaube, der große Fehler war, nicht auf diese palästinensische Initiative einzugehen und sie dann so zu modifizieren, dass klar gewesen wäre, dass die Anerkennung des palästinensischen Staates auch jeglichen Zweifel darüber, dass Israel und wo Israel genau ist, dass jeglicher Zweifel in dieser Hinsicht einfach überflüssig geworden wäre.
Karkowsky: Was eine solche Anerkennung implizieren würde, muss ich Ihnen nicht erzählen. Denn im Falle der Anerkennung Palästinas müsste Israel sich ja endgültig verabschieden von seinen Siedlungen im Westjordanland. Und Siedlungen klingt immer so niedlich, aber es sind ja 300.000 Menschen, die da leben, für die man in diesem winzigen Land anderswo Platz finden würde. Ist das nicht völlig illusorisch?
Strenger: Das kommt drauf an, wie man es zählt. Man kann auch so zählen, dass es eine halbe Millionen sind, aber der Konsensus auch mit dem Palästinensern ist, dass die großen Siedlungsblöcke in einem Friedensabkommen zu Israel hinzugefügt würden und dann in einem Austausch die Palästinenser genau die gleiche Landmenge zurückbekommen würden. Man rechnet eher damit, dass zirka 80.000 Menschen ihren heutigen Wohnort verlassen müssten.
Karkowsky: Aber noch ist diese Grenze ja nicht gezogen, das würde ja viele Verhandlungen voraussetzen. Da wäre ja der Schritt einer Anerkennung des Palästinenserstaates eindeutig zu früh.
Strenger: Insofern nicht – es ist ja auch noch nicht ganz klar, welchen Text die Palästinenser da wirklich bringen werden. Und die Version, von der man heute spricht, ist, dass sie eine Anerkennung von 1967 mit Landaustausch, der durch Verhandlungen festgelegt wird, dass diese Anerkennung so formuliert wird. Und damit – meines Erachtens, unseres Erachtens, kann ich ja doch auch sagen – könnte Israel eigentlich ganz gut leben.
Karkowsky: Sie hören im "Radiofeuilleton" Carlo Strenger, Psychologieprofessor aus Israel. Herr Strenger, Sie stehen ja mit Ihrer Meinung nicht alleine. Hunderte Intellektuelle, Künstler, Ex-Militärs haben in Israel diesen Aufruf unterzeichnet zur Anerkennung. Auch der Historiker Yehuda Bauer. Er kritisiert heute in der "Süddeutschen Zeitung", dass Ihre Regierungspolitiker unbedingt eine palästinensische Bestätigung dafür bräuchten, jüdisch zu sein, und er vermutet darin – natürlich leicht humorvoll – eine Identitätskrise, die am besten durch Psychologen zu lösen wäre. Sie sind einer. Können Sie der Regierung helfen?
Strenger: Ja … Nein, helfen kann ich leider praktisch nicht, aber klären kann ich es schon. Ich glaube, was von hier aus schwer zu verstehen ist, wie traumatisiert Israel ist von der zweiten Intifada. In den 90er-Jahren haben wir alle gehofft, dass der Frieden kommt, und dann ist der berühmte Camp-David-Gipfel, das Gipfeltreffen im Jahre 2000, Clinton, Barak, Arafat, und drei Monate später geht die zweite Intifada los, Tausende von Menschen verlieren ihr Leben, und die Israelis sind zum Schluss gekommen: Wir wollen für diesen Frieden, oder wie Sie sagen würden, für diese Friedensillusion keine Risiken mehr eingehen. Wir haben das einmal gemacht, und es ist uns im wörtlichsten Sinne des Wortes im Gesicht explodiert. Und so schlecht der Status Quo sein mag, wir ziehen es immer noch vor, keine Risiken einzugehen. Und es ist für uns, diejenigen, die glauben, dass Israel dieses Risiko eingehen muss, unter anderem aus Sicherheitsgründen, sehr schwierig, die Wählerschaft und sicherlich auch die Politiker davon zu überzeugen.
Karkowsky: Nun gehe ich mal davon aus, dass Sie nicht ernsthaft noch darauf hoffen, dass die Regierung Netanjahu diesen Schritt macht und sich dem Antrag auf Anerkennung anschließt, oder?
Strenger: Nein, überhaupt nicht.
Karkowsky: Was hat es dann für Folgen, wenn die Palästinenser kommende Woche, sagen wir, vor nahezu drei Vierteln der UN-Mitgliedsstaaten anerkannt werden?
Strenger: Ich sage Ihnen zuerst, was meine große Befürchtung ist. Meine große Befürchtung ist, dass mit der jetzigen Regierung gar nichts passieren wird. Und es ist deswegen eine Befürchtung, weil Abu Mazen, also der Präsident der palästinensischen Autorität und Salam Fayyad, der Ministerpräsident, sind nicht sehr populär in palästinensischen Kreisen. Wenn es sich dann rausstellen wird, dass diese Anerkennung de facto nichts ändert, dann befürchte ich sehr, dass die sehr gemäßigte Führung, die im Moment die Westbank führt, in die Enge getrieben werden könnte, und ich hoffe wirklich enorm, dass es nicht zu weiteren Gewalttaten kommen wird.
Karkowsky: Wäre eine solche Anerkennung, egal in welchem Maße sie stattfinden würde vor der UN, wäre das auch eine Rechtfertigung militanter Palästinenser, nun erst recht militant vorzugehen gegen Israel?
Strenger: Nur dann, wenn sie keine Resultate bringt. Vorläufig hat ja die palästinensische Führung sehr darauf – ist sehr darauf erpicht, dass Proteste rein friedlich, gewaltlos sein sollten. Das Problem ist, dass der Nahe Osten ein Pulverfass ist. Und wenn da jemand nur eine brennende Zigarette irgendwo wegwirft, kann das alles in die Luft gehen, und ich bin mir nicht darüber im Klaren, wie viel Kontrolle die palästinensische Führung hat. Und ich muss auch ganz ehrlich sagen, ich glaube auch nicht, dass die israelische Regierung sehr viel Kontrolle vor allem über die extremeren Siedler hat, die vielleicht sogar Interesse haben könnten, hier Unruhe zu stiften. Deswegen bin ich ziemlich beunruhigt über die nahe Zukunft.
Karkowsky: Yehuda Bauer sagt in der "Süddeutschen", dass seine – und damit auch Ihre – Meinung eine Minderheitenmeinung ist in Israel. Nun sehen wir fast täglich in Tel Aviv diese Unmengen an Demonstranten. Da geht es ja um ganz andere Dinge. Da geht es um das Soziale, um steigende Mieten, dass man die Lebenshaltungskosten sich nicht mehr leisten kann. Wie stark wird denn diese Frage eigentlich, also die mögliche Anerkennung eines Palästinenserstaates in Israel diskutiert?
Strenger: Schauen Sie, ich kenne die Führung dieser Proteste und Demonstrationen gut. Viele von ihnen waren Studenten von mir. Ich kann noch sagen, dass die meisten von ihnen links orientiert sind und an sich sehr für einen palästinensischen Staat wären. Sie haben die – ich glaube, weise – Entscheidung gemacht, die brisanten politischen Themen nicht in diese Proteste hineinzubringen, um für einmal in Israel einen Konsensus über wichtige Fragen erreichen zu können – etwas, was wir seit vielen Jahren nicht mehr erlebt haben.
Karkowsky: Und die israelischen Wähler, stehen die wirklich mehrheitlich noch hinter dieser konservativen Regierung Netanjahu?
Strenger: Ich glaube, dass die Mehrzahl der israelischen Wähler nicht ideologisch motiviert ist. Die Mehrzahl wählen nach rechts aus Angst. Ich glaube, dass, wenn der Durchschnittswähler – wenn es so was gibt, ich würde sagen, so ungefähr um die 60 Prozent der israelischen Wählerschaft –, wenn sie einen Weg sehen würden, der zur Zwei-Staaten-Lösung führen kann, ohne dass noch mal was furchtbares passiert, dann würden sie wahrscheinlich etwas mehr ins Zentrum wählen. Das Problem ist, dass sie im Moment auch, natürlich auch von den Rechtspolitikern, immer wieder verängstigt werden, und das bildet dann einen gewissen Teufelskreis zwischen der Angst, die zum Teil – ich muss das sehr betonen – gerechtfertigt ist. Das ist nicht einfach Paranoia, ich meine, Hisbollah hat angegriffen, Hamas hat angegriffen, und was natürlich die Wähler auch sehr bedrückt, ist, also, wir sind aus dem Gaza-Streifen raus, und die Angriffe sind weitergegangen. Und diese Angst müsste von einer Führungsfigur beruhigt werden, und das ist, was leider die heutige Regierung nicht tut.
Karkowsky: Carlo Strenger ist Professor für Psychologie an der Tel-Aviv-Universität, Autor, Blogger, Kommentator bei "Haaretz". Im Oktober erscheint von ihm bei Suhrkamp das Buch "Israel – Einführung in ein schwieriges Land". Danke für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.