"Wir haben unsere moralische Würde verloren"
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Mit seinen Werken protestiert Joshua Sobol gegen Israels Besetzung der Palästinensergebiete. In Berlin probt der Dramatiker und Autor derzeit das Stück "Miller gegen Miller", das im Oktober auf die Bühne kommt.
"Ich, Alice Miller, erkläre hiermit in Gegenwart meines Sohnes, dass ich bei klarem Bewusstsein bin. Ich möchte meinem Leben ein Ende setzen, weil die medizinische Behandlung gescheitert ist und die Metastasen weiter in mir wuchern."
Alice Miller, eine polnische Holocaust-Überlebende, emigrierte nach dem Krieg in die Schweiz und arbeitete dort als Psychologin. Nun, mit 87 Jahren und sterbenskrank, verabschiedet sie sich von ihrem Sohn Martin.
"Wenn es etwas gibt, das du mir sagen möchtest, ist dies der Moment."
"Warum habt ihr das ganze Leben lang gestritten, du und Vater? Warum hast du ihn auf den Tod gehasst? Warum hasst du mich?", fragt er.
Seelischer Schmerz und verdrängte Schuld
Wie sind in Berlin-Charlottenburg, in der Wohnung der Schauspielerin Gabrielle Scharnitzky: Textprobe für das Theaterstück "Miller gegen Miller", das im Herbst auf die Bühne kommt. Scharnitzky übt zusammen mit ihrem Kollegen Mathieu Carrière und dem israelischen Autor und Dramatiker Joshua Sobol. Das Stück handelt von seelischem Schmerz und verdrängter Schuld: den Traumata der NS-Zeit.
"Es hat damit zu tun, nochmal zu verstehen, was eine faschistische Diktatur den Menschen antut. Man kann sich davon nicht befreien. Die zweite und auch die dritte Generation leiden darunter. Man kommt mit dieser Vergangenheit nicht zurecht."
Joshua Sobol sitzt auf einem Sofa, mit Laptop auf dem Schoß, und überarbeitet still seinen Bühnentext. Der 81-Jährige, stämmig gebaut mit kleinem Bauch, scheint in sich zu ruhen. Dabei ist er ein Rebell – ein "Outsider", wie er selbst sagt. Seit Jahrzehnten provoziert der Schriftsteller mit dem weißen Sean-Connery-Bart Israels Machthaber, indem er unaufhörlich die Besetzung der Palästinensergebiete kritisiert.
"Wenn man ein anderes Volk besetzt hat, wirkt das auf das Leben des Besetzers sehr stark. Wir haben unsere moralische Würde verloren."
Das Land aus dem Sumpf der Korruption ziehen
Die israelische Gesellschaft hat ihre Ideale zum großen Teil aufgegeben, es herrschen Zynismus und Betrug – diese Botschaft vermittelt auch Sobols jüngstes Buch "Der große Wind der Zeit". Der Roman, der kürzlich auf Deutsch erschienen ist, handelt von einer Verhörspezialistin der israelischen Armee, die ihren Job aufgibt, um sich auf die Suche nach der verdrängten Wahrheit ihrer Familie zu machen. Ein Gleichnis für das gesamte Land, sagt Sobol.
"Wir hatten eine korrupte Regierung und einen korrupten Premierminister. Eine Bande von zynischen Typen. Jetzt haben wir vielleicht eine Chance – durch die neue Regierung, die neue Koalition –, das Land aus dem Sumpf der Korruption herauszubekommen."
Sobol hat selbst gegen die rechte Netanjahu-Regierung auf der Straße demonstriert und hofft nun auf ein Ende der Siedlungspolitik.
Die Siedler hat der Dramatiker schon immer gern aufs Korn genommen. So kam es 1988 zu einem Eklat, als Sobol – damals künstlerischer Leiter des Theaters Haifa – sein Stück "Das Jerusalem-Syndrom" im Nationaltheater von Tel Aviv aufführte. Radikale Siedler, die sich von dem Stück angegriffen fühlten, demonstrierten dagegen - mit diffamierenden Flugblättern.
"Dort stand 'Sobol-Syndrom = SS'. Als wir angefangen haben, dort zu spielen, haben sie schon angefangen zu brüllen. Es kam zu einer Schlägerei im Theater. Dann hat jemand eine Lärmgranate geworfen, und sie ist explodiert", erinnert sich Sobol. "Es war ein totales Chaos."
"Die Mehrheit wird Ja zum Frieden sagen"
Sobols Arbeitgeber, die Stadtverwaltung von Haifa, wollte weiteren Ärger vermeiden und verlangte von ihm, künftig nur noch unpolitische Stücke aufzuführen. Sobol kündigte verärgert und provozierte als freier Künstler weiter.
Im Jahr 2003, während der zweiten Intifada, brachte der Dramatiker in Tel Aviv das Stück "Augenzeuge" auf die Bühne. Es zieht indirekt Parallelen zwischen Deserteuren der deutschen Wehrmacht und Deserteuren der israelischen Armee.
"Damals gab es in Israel eine Menge von Soldaten, Offiziere auch, Piloten, die gesagt haben: Wir dienen nicht mehr in den eroberten Gebieten. Wenn es zu einer Repression von Zivilisten kommt, wollen wir damit nichts zu tun haben. Dann habe ich dieses Stück geschrieben, und man hat die Metapher verstanden."
Letztendlich glaubt Joshua Sobol allerdings an das Gute in seinem Volk. Beflügelt durch den jüngsten Regierungswechsel, hofft er nun auf eine Aussöhnung der Israelis mit ihren Nachbarn: "Wenn es eine Möglichkeit zum Friedenschließen mit den Palästinensern gibt, wird die Mehrheit Ja zum Frieden sagen."