Israelischer Historiker hält Günter Grass für "pathetisch" und "egozentrisch"
Es gebe in Israel seit längerer Zeit eine rege Diskussion darüber, ob das Land den Iran angreifen solle oder nicht, sagte der israelische Historiker und Journalist Tom Segev. Er finde es deshalb pathetisch, dass ein deutscher Schriftsteller da auf einmal "sein Schweigen brechen" müsse.
Andreas Müller: Israel gefährdet den Weltfrieden, das ist, grob gesagt, die Aussage des Gedichts "Was gesagt werden muss" von Günter Grass. Außerdem sei, wer den Staat Israel kritisiere, sogleich dem Vorwurf ausgesetzt, ein Antisemit zu sein. Über den Text und über diese Aussagen werden wir gleich in Jerusalem mit Tom Segev sprechen.
In Jerusalem begrüße ich jetzt den Historiker und Journalisten Tom Segev, schönen guten Tag!
Tom Segev: Guten Tag Ihnen auch!
Müller: Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Dieter Graumann sagte, dieses Stück des Nobelpreisträgers sei kein literarisches Gedicht, sondern - Zitat - "mehr ein Hasspamphlet". Was meinen Sie?
Segev: Also, es gibt in Israel seit längerer Zeit eine sehr rege Diskussion über die Frage, ob Israel Iran angreifen soll oder nicht, ob es überhaupt möglich ist, ob es moralisch vertretbar ist, ob es nützlich ist. Diese Diskussion ist wirklich sehr, sehr im Zentrum der Diskussion. Und deshalb fand ich es ein bisschen pathetisch, dass da ein deutscher Schriftsteller sein Schweigen brechen muss, wie wenn irgendwer über das israelische Atomprojekt jemals geschwiegen hätte. Es gibt unzählige Bücher darüber, wenn Sie ins Internet einsteigen, dann sehen Sie Hunderte von, Tausende von Menschen, die darüber diskutieren. Also, deshalb ... Ich fand es auch ein bisschen egozentrisch. Wissen Sie, wie wenn ... Bis ich mein Schweigen nicht breche, hat das noch niemand gesagt.
Er sagt wirklich nichts, was niemand anders noch gesagt hat. Es gibt in Israel einen früheren Mossad-Chef namens Dagan, er ist kürzlich aus dem Dienst ausgetreten. Acht Jahre lang war er Mossad-Chef. Es gibt also wohl wenig Menschen auf der Welt, die so viel wissen können wie er über den Iran. Und er ist auch der Meinung, dass Israel Iran auf keinen Fall angreifen darf. Es hat übrigens noch niemand von ihm behauptet, dass er ein Antisemit sei, weil er diese Auffassung hat. Obama hat diese Auffassung und ist auch kein Antisemit. Also, für mich ist es so, dass ich lieber Literatur von Günter Grass lese und Atomanalysen von einem früheren Mossad-Chef.
Müller: Der sich vielleicht ein bisschen damit auskennt. Es hat aber in Deutschland wirklich gewaltige Reaktionen gegeben, heftige Reaktionen. Der Publizist Ralf Giordano nannte das Gedicht einen - Zitat - "Anschlag auf Israels Existenz", er ist zutiefst erschüttert. Jemand wie CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sagte - Zitat -, "ich bin über die Tonlage, über die Ausrichtung dieses Gedichtes entsetzt", es verkenne völlig die Situation, dass ein nach Atomwaffen greifender Iran das Existenzrecht Israels bestreite, den Holocaust leugne und sich internationaler Kontrolle seiner Kernenergiekonzepte verweigere. Na ja, und der Publizist Henryk M. Broder nannte Grass in einem Beitrag für die "Welt Online" - ich habe es eben schon gesagt - den Prototypen eines gepflegten Antisemiten, der es mit den Juden gut meint. Also, das ist schon eine heftige, sehr heftige Reaktion, was denken Sie über solche Äußerungen?
Segev: Ja, also, ich habe manchmal das Gefühl, wenn ich so Äußerungen von Günter Grass lese, ich habe ja auch kürzlich mit ihm ein Interview, langes Interview gemacht. Ich habe manchmal den Eindruck, dass er das Bedürfnis hat, zu Unrecht angegriffen zu werden. Und das passiert ihm jetzt wieder. Aber wirklich zu Unrecht ... Er ist kein Antisemit, er ist nicht antiisraelisch, er ist auf keinen Fall gegen Israel in irgendeiner Weise. Er kritisiert die Politik der israelischen Regierung. Es hat sich noch in keinem Land jemand gefunden, der die israelische Regierung heftiger kritisiert als Israelis selber, und die sind auch nicht antisemitisch und sind auch nicht antiisraelisch. Im Gegenteil ist es oft so, dass Kritik an Israel ein Zeichen von Freundschaft und Unterstützung sein kann.
Aber in diesem Fall ist es wirklich auch so, dass Günter Grass Iran und Israel gleichsetzt. Dabei ist es so, dass erstens ein atombewaffneter Iran überhaupt kein israelisches Problem ist, oder nicht ein ausschließlich israelisches Problem, sondern ein Problem für die ganze Welt, einschließlich die Menschen, die da in Lübeck wohnen oder in der Umgebung wie Herr Grass selber. Aber es ist auch so, dass Israel noch von keinem Land gesagt hat, dass es aus der Welt geschafft werden muss, etwa wie es der Präsident Ahmadinedschad Tag für Tag wiederholt. Also, es ist wirklich auf keine Art zu vergleichen. Und ich würde nicht sagen, dass ich zutiefst erschüttert bin, ich würde nur sagen, dass es schade ist, dass Herr Grass die letzten Tintentropfen so verschwendet, statt noch einen schönen Roman damit zu schreiben.
Müller: Aber ist da nicht etwas dran, wenn ein Intellektueller wie Grass davor warnt, dass im Nahen Osten ein Nuklearkrieg beginnen könnte? Auch wenn das jetzt vielleicht nicht ...
Segev: ... ja, aber warum Grass ...
Müller: ... besonders gut formuliert wurde?
Segev: Ja, aber das tut doch jeder Mensch! Es ist möglich, dass ein Nuklearkrieg ausbricht, ja. Leider ist das der Fall. Aber das können Sie in jeder Zeitung lesen, was hat das damit zu tun, dass der Herr Grass sein Schweigen bricht? Ich glaube, er kokettiert ein bisschen jetzt mit dem SS-Schweigen, was er schließlich dann mal gebrochen hat mit großem Erfolg, und vielleicht jetzt noch mal den Erfolg wiederholen will. Ich weiß es wirklich nicht, was ihn jetzt bewegt hat ...
Müller: ... würden Sie so weit gehen, dass das vielleicht ein PR-Gag sogar sein könnte?
Segev: Was bitte?
Müller: Würden Sie vielleicht sogar so weit gehen und sagen, dass es ein PR-Gag ist? Weil, er hat eine gewaltige Aufmerksamkeit ...
Segev: ... ja, ich glaube, er kokettiert ein bisschen damit. Es ist ja wirklich egozentrisch, eitel, zu behaupten, bevor er sein Schweigen nicht bricht, hat noch niemand auf der Welt oder sogar in Deutschland davor gewarnt, dass ein Nuklearkrieg ausbrechen kann, dass das israelische Atomwerk nicht ... Atomprojekt nicht berechtigt ist, was Israel für Waffen hat oder nicht hat. Jeder Mensch meint zu wissen, was wir für Waffen haben oder nicht haben, jeder Mensch hat eine Meinung darüber, aber nein, bis Günter Grass, der große Günter Grass sein Schweigen nicht bricht ... Also, ich finde es pathetisch, wirklich ... Es ist nicht antisemitisch, es ist nicht antiisraelisch, es ist einfach eben, wie gesagt, ein falscher Gebrauch für seine letzten Tropfen seiner Tinte.
Müller: Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben, "Was gesagt werden muss", über dieses und mehr spreche ich mit dem Historiker und Journalisten Tom Segev. Gibt es denn eigentlich Reaktionen in Israel auf diesen Text?
Segev: Na ja, vorläufig höchstens auf dem Internet, aber nicht sehr viele. Nicht sehr viele und nicht sehr interessante. Wie zu erwarten.
Müller: Wie zu erwarten, sagen Sie!
Segev: Na ja, diese Internet-Reaktionen sind immer eben, wie zu erwarten.
Müller: Ist er kein Thema mehr in Israel oder war er das vielleicht nie?
Segev: Was ist kein Thema mehr?
Müller: Ist Grass und seine Äußerungen gar kein Thema mehr in Israel?
Segev: Ich glaube nicht, dass es so viel Aufregung erregt wie in Deutschland. Ich glaube, viele Länder haben so Schriftsteller, die als moralische Autorität angesehen werden, obwohl sie eigentlich nicht so viel wissen. Ich frage mich manchmal, wer ... Sagen wir, der israelische Amos Oz, wie oft unterhält der sich eigentlich mit dem Netanjahu dann, dass er in der Lage ist, so große, so klare Meinungen zu haben? Und so dachte ich auch vom Günter Grass, wann hat der sich eigentlich zum letzten Mal mit Herrn Ahmadinedschad unterhalten, damit er genau so wissen kann, wie es eigentlich steht mit dem iranischen Atom? Also ... Deshalb glaube ich, dass die Reaktionen in Israel bestimmt nicht so heftig sein werden.
Müller: Eins noch: Grass sagt ja in seinem Gedicht sinngemäß, er habe auch deshalb so lange geschwiegen, weil er den Vorwurf des Antisemitismus fürchte. Muss diesen Vorwurf fürchten, wer Israel kritisiert?
Segev: Bestimmt nicht, bestimmt nicht. Auch nicht in Deutschland, schon lange nicht mehr jedenfalls. Ich glaube, das ist auch ein Thema, das schon vor vielen, vielen Jahren mal ... Sie haben schon Henryk Broder erwähnt, der Henryk Broder war mal in einer solchen Diskussion, stand mal im Zentrum von einer solchen Diskussion, darf man in Deutschland Israel kritisieren. Ja, man darf in Deutschland Israel kritisieren! Sehr viel von Kritik an der Politik der israelischen Regierung, zum Beispiel die Politik der Unterdrückung der Palästinenser, ist sehr wünschenswert, weil Menschenrechte immer nur vom Ausland, durch Kritik vom Ausland verteidigt werden können.
Es ist so, dass ... Manchmal hört man, Israel hat kein Recht zu bestehen, oder Holocaust-Leugner oder so. Mit solchen habe ich keinen Dialog, es ist unwichtig, was ich ihnen sage. Aber der Günter Grass gehört nicht zu denen, es ist völlig legitim, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren. Man hört in Deutschland viel Kritik, man hört in Deutschland sehr, sehr, sehr viel Unterstützung für alles Israelische. Also, ich glaube, dass es in Deutschland auch zu Israel eine freie Diskussion gibt. Niemand muss befürchten, Antisemit genannt zu werden oder irgendetwas. Auf jeden Fall, von Israel werden solche Stimmen, glaube ich, nicht kommen, weil man in Israel alles selber sagt.
Müller: "Was gesagt werden muss" heißt ein heute veröffentlichtes Gedicht von Günter Grass, in dem unter anderem behauptet wird, Israel gefährde den Weltfrieden. Darüber sprach ich mit dem Historiker und Journalisten Tom Segev.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
In Jerusalem begrüße ich jetzt den Historiker und Journalisten Tom Segev, schönen guten Tag!
Tom Segev: Guten Tag Ihnen auch!
Müller: Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Dieter Graumann sagte, dieses Stück des Nobelpreisträgers sei kein literarisches Gedicht, sondern - Zitat - "mehr ein Hasspamphlet". Was meinen Sie?
Segev: Also, es gibt in Israel seit längerer Zeit eine sehr rege Diskussion über die Frage, ob Israel Iran angreifen soll oder nicht, ob es überhaupt möglich ist, ob es moralisch vertretbar ist, ob es nützlich ist. Diese Diskussion ist wirklich sehr, sehr im Zentrum der Diskussion. Und deshalb fand ich es ein bisschen pathetisch, dass da ein deutscher Schriftsteller sein Schweigen brechen muss, wie wenn irgendwer über das israelische Atomprojekt jemals geschwiegen hätte. Es gibt unzählige Bücher darüber, wenn Sie ins Internet einsteigen, dann sehen Sie Hunderte von, Tausende von Menschen, die darüber diskutieren. Also, deshalb ... Ich fand es auch ein bisschen egozentrisch. Wissen Sie, wie wenn ... Bis ich mein Schweigen nicht breche, hat das noch niemand gesagt.
Er sagt wirklich nichts, was niemand anders noch gesagt hat. Es gibt in Israel einen früheren Mossad-Chef namens Dagan, er ist kürzlich aus dem Dienst ausgetreten. Acht Jahre lang war er Mossad-Chef. Es gibt also wohl wenig Menschen auf der Welt, die so viel wissen können wie er über den Iran. Und er ist auch der Meinung, dass Israel Iran auf keinen Fall angreifen darf. Es hat übrigens noch niemand von ihm behauptet, dass er ein Antisemit sei, weil er diese Auffassung hat. Obama hat diese Auffassung und ist auch kein Antisemit. Also, für mich ist es so, dass ich lieber Literatur von Günter Grass lese und Atomanalysen von einem früheren Mossad-Chef.
Müller: Der sich vielleicht ein bisschen damit auskennt. Es hat aber in Deutschland wirklich gewaltige Reaktionen gegeben, heftige Reaktionen. Der Publizist Ralf Giordano nannte das Gedicht einen - Zitat - "Anschlag auf Israels Existenz", er ist zutiefst erschüttert. Jemand wie CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sagte - Zitat -, "ich bin über die Tonlage, über die Ausrichtung dieses Gedichtes entsetzt", es verkenne völlig die Situation, dass ein nach Atomwaffen greifender Iran das Existenzrecht Israels bestreite, den Holocaust leugne und sich internationaler Kontrolle seiner Kernenergiekonzepte verweigere. Na ja, und der Publizist Henryk M. Broder nannte Grass in einem Beitrag für die "Welt Online" - ich habe es eben schon gesagt - den Prototypen eines gepflegten Antisemiten, der es mit den Juden gut meint. Also, das ist schon eine heftige, sehr heftige Reaktion, was denken Sie über solche Äußerungen?
Segev: Ja, also, ich habe manchmal das Gefühl, wenn ich so Äußerungen von Günter Grass lese, ich habe ja auch kürzlich mit ihm ein Interview, langes Interview gemacht. Ich habe manchmal den Eindruck, dass er das Bedürfnis hat, zu Unrecht angegriffen zu werden. Und das passiert ihm jetzt wieder. Aber wirklich zu Unrecht ... Er ist kein Antisemit, er ist nicht antiisraelisch, er ist auf keinen Fall gegen Israel in irgendeiner Weise. Er kritisiert die Politik der israelischen Regierung. Es hat sich noch in keinem Land jemand gefunden, der die israelische Regierung heftiger kritisiert als Israelis selber, und die sind auch nicht antisemitisch und sind auch nicht antiisraelisch. Im Gegenteil ist es oft so, dass Kritik an Israel ein Zeichen von Freundschaft und Unterstützung sein kann.
Aber in diesem Fall ist es wirklich auch so, dass Günter Grass Iran und Israel gleichsetzt. Dabei ist es so, dass erstens ein atombewaffneter Iran überhaupt kein israelisches Problem ist, oder nicht ein ausschließlich israelisches Problem, sondern ein Problem für die ganze Welt, einschließlich die Menschen, die da in Lübeck wohnen oder in der Umgebung wie Herr Grass selber. Aber es ist auch so, dass Israel noch von keinem Land gesagt hat, dass es aus der Welt geschafft werden muss, etwa wie es der Präsident Ahmadinedschad Tag für Tag wiederholt. Also, es ist wirklich auf keine Art zu vergleichen. Und ich würde nicht sagen, dass ich zutiefst erschüttert bin, ich würde nur sagen, dass es schade ist, dass Herr Grass die letzten Tintentropfen so verschwendet, statt noch einen schönen Roman damit zu schreiben.
Müller: Aber ist da nicht etwas dran, wenn ein Intellektueller wie Grass davor warnt, dass im Nahen Osten ein Nuklearkrieg beginnen könnte? Auch wenn das jetzt vielleicht nicht ...
Segev: ... ja, aber warum Grass ...
Müller: ... besonders gut formuliert wurde?
Segev: Ja, aber das tut doch jeder Mensch! Es ist möglich, dass ein Nuklearkrieg ausbricht, ja. Leider ist das der Fall. Aber das können Sie in jeder Zeitung lesen, was hat das damit zu tun, dass der Herr Grass sein Schweigen bricht? Ich glaube, er kokettiert ein bisschen jetzt mit dem SS-Schweigen, was er schließlich dann mal gebrochen hat mit großem Erfolg, und vielleicht jetzt noch mal den Erfolg wiederholen will. Ich weiß es wirklich nicht, was ihn jetzt bewegt hat ...
Müller: ... würden Sie so weit gehen, dass das vielleicht ein PR-Gag sogar sein könnte?
Segev: Was bitte?
Müller: Würden Sie vielleicht sogar so weit gehen und sagen, dass es ein PR-Gag ist? Weil, er hat eine gewaltige Aufmerksamkeit ...
Segev: ... ja, ich glaube, er kokettiert ein bisschen damit. Es ist ja wirklich egozentrisch, eitel, zu behaupten, bevor er sein Schweigen nicht bricht, hat noch niemand auf der Welt oder sogar in Deutschland davor gewarnt, dass ein Nuklearkrieg ausbrechen kann, dass das israelische Atomwerk nicht ... Atomprojekt nicht berechtigt ist, was Israel für Waffen hat oder nicht hat. Jeder Mensch meint zu wissen, was wir für Waffen haben oder nicht haben, jeder Mensch hat eine Meinung darüber, aber nein, bis Günter Grass, der große Günter Grass sein Schweigen nicht bricht ... Also, ich finde es pathetisch, wirklich ... Es ist nicht antisemitisch, es ist nicht antiisraelisch, es ist einfach eben, wie gesagt, ein falscher Gebrauch für seine letzten Tropfen seiner Tinte.
Müller: Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben, "Was gesagt werden muss", über dieses und mehr spreche ich mit dem Historiker und Journalisten Tom Segev. Gibt es denn eigentlich Reaktionen in Israel auf diesen Text?
Segev: Na ja, vorläufig höchstens auf dem Internet, aber nicht sehr viele. Nicht sehr viele und nicht sehr interessante. Wie zu erwarten.
Müller: Wie zu erwarten, sagen Sie!
Segev: Na ja, diese Internet-Reaktionen sind immer eben, wie zu erwarten.
Müller: Ist er kein Thema mehr in Israel oder war er das vielleicht nie?
Segev: Was ist kein Thema mehr?
Müller: Ist Grass und seine Äußerungen gar kein Thema mehr in Israel?
Segev: Ich glaube nicht, dass es so viel Aufregung erregt wie in Deutschland. Ich glaube, viele Länder haben so Schriftsteller, die als moralische Autorität angesehen werden, obwohl sie eigentlich nicht so viel wissen. Ich frage mich manchmal, wer ... Sagen wir, der israelische Amos Oz, wie oft unterhält der sich eigentlich mit dem Netanjahu dann, dass er in der Lage ist, so große, so klare Meinungen zu haben? Und so dachte ich auch vom Günter Grass, wann hat der sich eigentlich zum letzten Mal mit Herrn Ahmadinedschad unterhalten, damit er genau so wissen kann, wie es eigentlich steht mit dem iranischen Atom? Also ... Deshalb glaube ich, dass die Reaktionen in Israel bestimmt nicht so heftig sein werden.
Müller: Eins noch: Grass sagt ja in seinem Gedicht sinngemäß, er habe auch deshalb so lange geschwiegen, weil er den Vorwurf des Antisemitismus fürchte. Muss diesen Vorwurf fürchten, wer Israel kritisiert?
Segev: Bestimmt nicht, bestimmt nicht. Auch nicht in Deutschland, schon lange nicht mehr jedenfalls. Ich glaube, das ist auch ein Thema, das schon vor vielen, vielen Jahren mal ... Sie haben schon Henryk Broder erwähnt, der Henryk Broder war mal in einer solchen Diskussion, stand mal im Zentrum von einer solchen Diskussion, darf man in Deutschland Israel kritisieren. Ja, man darf in Deutschland Israel kritisieren! Sehr viel von Kritik an der Politik der israelischen Regierung, zum Beispiel die Politik der Unterdrückung der Palästinenser, ist sehr wünschenswert, weil Menschenrechte immer nur vom Ausland, durch Kritik vom Ausland verteidigt werden können.
Es ist so, dass ... Manchmal hört man, Israel hat kein Recht zu bestehen, oder Holocaust-Leugner oder so. Mit solchen habe ich keinen Dialog, es ist unwichtig, was ich ihnen sage. Aber der Günter Grass gehört nicht zu denen, es ist völlig legitim, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren. Man hört in Deutschland viel Kritik, man hört in Deutschland sehr, sehr, sehr viel Unterstützung für alles Israelische. Also, ich glaube, dass es in Deutschland auch zu Israel eine freie Diskussion gibt. Niemand muss befürchten, Antisemit genannt zu werden oder irgendetwas. Auf jeden Fall, von Israel werden solche Stimmen, glaube ich, nicht kommen, weil man in Israel alles selber sagt.
Müller: "Was gesagt werden muss" heißt ein heute veröffentlichtes Gedicht von Günter Grass, in dem unter anderem behauptet wird, Israel gefährde den Weltfrieden. Darüber sprach ich mit dem Historiker und Journalisten Tom Segev.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.