Israels Mittelschicht "fühlt sich marginalisiert"
Es sind vor allem junge Menschen, die derzeit gegen die Politik Netanjahus protestieren. Der Jerusalemer Professor für Politikwissenschaften Shlomo Avineri sieht die Demonstrationen in der "Abschaffung" des Wohlfahrtsstaates in Israel begründet und weniger im Friedensprozess mit den Palästinensern.
Hanns Ostermann: Was in Israel vor rund vier Wochen als Studentenprotest begonnen hat, ist längst zu einer landesweiten Protestbewegung geworden. Rund 300.000 Menschen waren es zuletzt, die ihren Frust, ihre Enttäuschung auf die Straße getragen haben. Unbezahlbare Wohnungen und zu hohe Steuern sind es vor allem, die Hunderttausende wütend machen. Und so werden sie auch heute wieder auf die Straße gehen, um die Regierung Netanjahu zum Einlenken zu bewegen. Wer steht hinter den Protesten und wie groß sind die Aussichten, dass sich etwas ändert? Am Telefon von Deutschlandradio Kultur ist Professor Shlomo Avineri, Politologe und Historiker an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Guten Morgen, Herr Avineri!
Shlomo Avineri: Guten Morgen!
Ostermann: Wer ist der Motor der Proteste – ist das für Sie relativ klar?
Avineri: Die Frage ist nicht, wer ist der Motor, sondern was ist der Motor. Der Motor ist eigentlich die Prozesse der ziemlich wilden Privatisierung der israelischen Gesellschaft oder der israelischen Wirtschaft in den letzten Jahren und die Abschaffung des Wohlfahrtsstaates, das [Anmerkung der Redaktion: der] immer in Israel zentral war zum nationalen Konsens. Unter der Regierung Netanjahu, auch in der Regierung vor Netanjahu, wurde dieser sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat abgemacht, vieles wurde privatisiert, nicht nur Industrie, sondern auch Dienstleistungen. Vieles wurde andererseits investiert in bestimmten Sektoren wie die Siedler, die Ultraorthodoxen. Und was Sie jetzt sehen, ist nicht ein Sektor der israelischen Gesellschaft, sondern eigentlich die Hauptsäule der israelischen Gesellschaft: Menschen in den 20er-Jahren und 30er-Jahren, verhältnismäßig gut gebildet, nicht arbeitslos, aber sie leiden unter der Tatsache, dass die Dienstleistungen nicht mehr da sind, wie sie vor zehn oder 15 Jahren waren, und dass durch die Privatisierung die soziale und wirtschaftliche Kluft zwischen der obersten Schicht und der Mittelschicht viel weiter geworden ist, als sie jemals in der Geschichte dieses Landes war.
Ostermann: Sie haben das eben schon angedeutet, deshalb sind möglicherweise auch wenige Siedler oder Religiöse unter den Demonstranten, weil möglicherweise der Staat sie in der Vergangenheit ausreichend unterstützt hat?
Avineri: Genau das ist der Fall. Diese Gruppen wurden von dem Staat subventioniert, aus politischen Gründen, die verständlich sind, aber sie sind auch politische Gründe. Und auf der anderen Seite wurde diese Hauptsäule der israelischen Gesellschaft, die arbeitet, die ihre Steuern zahlt, die Militärdienst leistet, die selber Dienst leistet und die wirtschaftlicherweise und auch wissenschaftlicherweise diesen Staat auf ihrem Rücken hält, die fühlt sich jetzt marginalisiert.
Ostermann: Menschen, die viel arbeiten, in Lohn und Brot stehen, haben nicht genug Geld, um davon leben zu können. Vielleicht haben Sie einfach mal, Herr Professor Avineri, konkrete Beispiele, unter welchen Bedingungen jetzt sehr, sehr viele Israeli leben müssen.
Avineri: Es ist nicht, dass die Menschen ums Brot gekommen sind, aber sie glauben, dass sie, die Leute, die verhältnismäßig gut verdienen, haben doch große Schwierigkeiten, Eigentumswohnungen zu schaffen oder sogar die Miete zu zahlen, die in Israel verhältnismäßig hoch ist. Sie müssen heute für bestimmte Dienstleistungen wie Erziehung und Schulwesen und auch soziale Dienstleistungen zahlen, was vorher nicht der Fall war. Und der Grund dafür ist, dass die anderen Gruppen, wie die Siedler, die Ultraorthodoxen, höchst [Anmerkung der Redaktion: extrem] von dem Staat subventioniert sind.
Ostermann: Warum sorgt diese Tendenz, die Sie gerade beschrieben haben, nicht oder nur kaum für einen Zulauf im linken politischen Spektrum?
Avineri: Links in Israel heute ist nicht nur sozial oder wirtschaftlich, sondern links und rechts in Israel heißt heute politisch Probleme der Palästinenser, Probleme der Friedensverhandlungen und so weiter, sodass Sie unter den Demonstranten heute meistens Leute von dem Zentrum um die Linken haben, aber auch Leute, die für den Likud gestimmt haben, die ideologisch vielleicht die Position von Netanjahu politisch weiter unterstützen, aber die sind doch heute marginalisiert, weil sie nicht mehr subventioniert sind wie die Siedler und die Ultraorthodoxen.
Ostermann: Wagen Sie eine Prognose, wie dieser Stresstest für die Demokratie in Israel endet, denn bislang scheint Premier Netanjahu keine passenden Antworten zu haben – die 1600 neuen Wohnungen in Ost-Jerusalem sind es doch wohl nicht?
Avineri: Das gehört eigentlich nicht zu dieser Debatte. Ich glaube, was da geschieht, ist schwer vorauszusagen. Politischerweise ist die parlamentarische Arithmetik aufseiten der Netanjahus. Es gibt heute im jetzigen Parlament keine andere mögliche Regierung. Aber die Tatsache ist, dass diese Demonstrationen schon eigentlich den politischen Diskurs im Lande geändert haben. Und das sieht man sogar … Man kann sagen, das ist nur taktisch, aber die Tatsache ist, dass Netanjahu und seine Finanzminister sich so ausgedrückt haben in einer Sprache, die sie vor zwei Monaten nicht benutzt haben. Bis vor zwei Monaten war ein Thatscher-artiger Kapitalismus der Gott der israelischen Regierung. Heute versteht man schon, dass Solidarität, soziale Gerechtigkeit in den Diskurs zurückgekommen sind, und das ist schon ein großer Erfolg. Wie sich das Land politisch ausarbeiten will, ist zurzeit nicht zu wissen, aber ich glaube, dass wir zu diesem wilden Kapitalismus, für den Netanjahu schon jahrelang der maßgebende Sprecher war, dieser wilde Kapitalismus wurde jetzt irgendwie angetastet.
Ostermann: Was bedeutet die derzeitige Entwicklung Israels für den Friedensprozess im Nahen Osten?
Avineri: Sehr wenig. Wir stehen im Friedensprozess vor einer Mauer, weil die Positionen nicht nur von dieser israelischen Regierung, sondern auch von einer viel gemäßigteren israelischen Regierung, für die Olmert-Regierung, die Kluft zwischen den gemäßigten Israelis und den gemäßigten Palästinensern zu tief ist zu überbrücken. Darüber soll man sich keine Illusionen machen. So wie im Kosovo oder in Bosnien und in Zypern solche nationalen Konflikte nicht einfach lösbar sind, das ist auch bei uns der Fall. Man kann Netanjahu kritisieren, man kann die Palästinenser kritisieren, aber grundsätzlich ist die Kluft zu tief, um diese heute zu überbrücken durch einen Friedensprozess, der innerhalb ein oder zwei Jahren zu einem final Status bringen wird. Wir brauchen wie auf Zypern und Kosovo Geduld, langsam durch Teilabkommen, durch einseitige Schritte und durch, was man im Jargon nennt Konfliktmanagement, zu einer besseren Situation zu kommen. Ich glaube, es ist eine vollkommene Illusion zu glauben, dass heute eine, nicht nur diese Regierung, sondern eine gemäßigte israelische Regierung mit den Palästinensern zu einem Abkommen kommen kann.
Ostermann: Vor den heutigen Massenprotesten in Israel Professor Shlomo Avineri, Politologe und Historiker an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Avineri: Besten Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Shlomo Avineri: Guten Morgen!
Ostermann: Wer ist der Motor der Proteste – ist das für Sie relativ klar?
Avineri: Die Frage ist nicht, wer ist der Motor, sondern was ist der Motor. Der Motor ist eigentlich die Prozesse der ziemlich wilden Privatisierung der israelischen Gesellschaft oder der israelischen Wirtschaft in den letzten Jahren und die Abschaffung des Wohlfahrtsstaates, das [Anmerkung der Redaktion: der] immer in Israel zentral war zum nationalen Konsens. Unter der Regierung Netanjahu, auch in der Regierung vor Netanjahu, wurde dieser sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat abgemacht, vieles wurde privatisiert, nicht nur Industrie, sondern auch Dienstleistungen. Vieles wurde andererseits investiert in bestimmten Sektoren wie die Siedler, die Ultraorthodoxen. Und was Sie jetzt sehen, ist nicht ein Sektor der israelischen Gesellschaft, sondern eigentlich die Hauptsäule der israelischen Gesellschaft: Menschen in den 20er-Jahren und 30er-Jahren, verhältnismäßig gut gebildet, nicht arbeitslos, aber sie leiden unter der Tatsache, dass die Dienstleistungen nicht mehr da sind, wie sie vor zehn oder 15 Jahren waren, und dass durch die Privatisierung die soziale und wirtschaftliche Kluft zwischen der obersten Schicht und der Mittelschicht viel weiter geworden ist, als sie jemals in der Geschichte dieses Landes war.
Ostermann: Sie haben das eben schon angedeutet, deshalb sind möglicherweise auch wenige Siedler oder Religiöse unter den Demonstranten, weil möglicherweise der Staat sie in der Vergangenheit ausreichend unterstützt hat?
Avineri: Genau das ist der Fall. Diese Gruppen wurden von dem Staat subventioniert, aus politischen Gründen, die verständlich sind, aber sie sind auch politische Gründe. Und auf der anderen Seite wurde diese Hauptsäule der israelischen Gesellschaft, die arbeitet, die ihre Steuern zahlt, die Militärdienst leistet, die selber Dienst leistet und die wirtschaftlicherweise und auch wissenschaftlicherweise diesen Staat auf ihrem Rücken hält, die fühlt sich jetzt marginalisiert.
Ostermann: Menschen, die viel arbeiten, in Lohn und Brot stehen, haben nicht genug Geld, um davon leben zu können. Vielleicht haben Sie einfach mal, Herr Professor Avineri, konkrete Beispiele, unter welchen Bedingungen jetzt sehr, sehr viele Israeli leben müssen.
Avineri: Es ist nicht, dass die Menschen ums Brot gekommen sind, aber sie glauben, dass sie, die Leute, die verhältnismäßig gut verdienen, haben doch große Schwierigkeiten, Eigentumswohnungen zu schaffen oder sogar die Miete zu zahlen, die in Israel verhältnismäßig hoch ist. Sie müssen heute für bestimmte Dienstleistungen wie Erziehung und Schulwesen und auch soziale Dienstleistungen zahlen, was vorher nicht der Fall war. Und der Grund dafür ist, dass die anderen Gruppen, wie die Siedler, die Ultraorthodoxen, höchst [Anmerkung der Redaktion: extrem] von dem Staat subventioniert sind.
Ostermann: Warum sorgt diese Tendenz, die Sie gerade beschrieben haben, nicht oder nur kaum für einen Zulauf im linken politischen Spektrum?
Avineri: Links in Israel heute ist nicht nur sozial oder wirtschaftlich, sondern links und rechts in Israel heißt heute politisch Probleme der Palästinenser, Probleme der Friedensverhandlungen und so weiter, sodass Sie unter den Demonstranten heute meistens Leute von dem Zentrum um die Linken haben, aber auch Leute, die für den Likud gestimmt haben, die ideologisch vielleicht die Position von Netanjahu politisch weiter unterstützen, aber die sind doch heute marginalisiert, weil sie nicht mehr subventioniert sind wie die Siedler und die Ultraorthodoxen.
Ostermann: Wagen Sie eine Prognose, wie dieser Stresstest für die Demokratie in Israel endet, denn bislang scheint Premier Netanjahu keine passenden Antworten zu haben – die 1600 neuen Wohnungen in Ost-Jerusalem sind es doch wohl nicht?
Avineri: Das gehört eigentlich nicht zu dieser Debatte. Ich glaube, was da geschieht, ist schwer vorauszusagen. Politischerweise ist die parlamentarische Arithmetik aufseiten der Netanjahus. Es gibt heute im jetzigen Parlament keine andere mögliche Regierung. Aber die Tatsache ist, dass diese Demonstrationen schon eigentlich den politischen Diskurs im Lande geändert haben. Und das sieht man sogar … Man kann sagen, das ist nur taktisch, aber die Tatsache ist, dass Netanjahu und seine Finanzminister sich so ausgedrückt haben in einer Sprache, die sie vor zwei Monaten nicht benutzt haben. Bis vor zwei Monaten war ein Thatscher-artiger Kapitalismus der Gott der israelischen Regierung. Heute versteht man schon, dass Solidarität, soziale Gerechtigkeit in den Diskurs zurückgekommen sind, und das ist schon ein großer Erfolg. Wie sich das Land politisch ausarbeiten will, ist zurzeit nicht zu wissen, aber ich glaube, dass wir zu diesem wilden Kapitalismus, für den Netanjahu schon jahrelang der maßgebende Sprecher war, dieser wilde Kapitalismus wurde jetzt irgendwie angetastet.
Ostermann: Was bedeutet die derzeitige Entwicklung Israels für den Friedensprozess im Nahen Osten?
Avineri: Sehr wenig. Wir stehen im Friedensprozess vor einer Mauer, weil die Positionen nicht nur von dieser israelischen Regierung, sondern auch von einer viel gemäßigteren israelischen Regierung, für die Olmert-Regierung, die Kluft zwischen den gemäßigten Israelis und den gemäßigten Palästinensern zu tief ist zu überbrücken. Darüber soll man sich keine Illusionen machen. So wie im Kosovo oder in Bosnien und in Zypern solche nationalen Konflikte nicht einfach lösbar sind, das ist auch bei uns der Fall. Man kann Netanjahu kritisieren, man kann die Palästinenser kritisieren, aber grundsätzlich ist die Kluft zu tief, um diese heute zu überbrücken durch einen Friedensprozess, der innerhalb ein oder zwei Jahren zu einem final Status bringen wird. Wir brauchen wie auf Zypern und Kosovo Geduld, langsam durch Teilabkommen, durch einseitige Schritte und durch, was man im Jargon nennt Konfliktmanagement, zu einer besseren Situation zu kommen. Ich glaube, es ist eine vollkommene Illusion zu glauben, dass heute eine, nicht nur diese Regierung, sondern eine gemäßigte israelische Regierung mit den Palästinensern zu einem Abkommen kommen kann.
Ostermann: Vor den heutigen Massenprotesten in Israel Professor Shlomo Avineri, Politologe und Historiker an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Avineri: Besten Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.