Ist das Legale auch legitim?

Von Alexander Schuller |
Was ist der Staat? Wer ist das Volk? Was ist das Gesetz? Um diese Fragen - die Triade von Legalität, Legitimität und Opportunität – geht es immer wieder, von Konfuzius bis Christus, von Karl Marx bis Carl Schmitt. Wie bringt man diese drei Ansprüche in Einklang?
Die RAF begründete ihren Krieg gegen die Bonner Republik mit einem Legitimitätsanspruch, einer nur vage formulierten Gesellschaftstheorie, die sich als marxistisch verstand. Nie wurde klar, im Namen welcher Legitimität sie handelte. Ponto, Herrhausen, Buback sind Opfer einer Opportunität, die ihre Legitimation nie zu fassen in der Lage war. Wenn Habermas recht gehabt haben sollte, handelte es sich um jene geheimnisvolle linke "Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt", die sündige Liebe zum Faschismus. Dieser Faschismusvorwurf offenbart tatsächlich eine historische Erbsünde. Er erinnert an die Nürnberger Gesetze und die Moskauer Prozesse, die zwar legal, aber – so sehen wir das heute – nicht legitim waren. Führende kommunistische Intellektuelle wie Louis Aragon, Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger, Ernst Fischer rechtfertigten damals die Moskauer Prozesse, während sie zugleich den Nationalsozialismus verurteilten.

Das Erdbeben im europäischen Bewusstsein des 20. Jahrhunderts kulminierte in Stalin und Hitler. Utopische Legitimitätsansprüche und der Verzicht auf Legalität zugunsten eines Konzepts von totalitärer Opportunität charakterisieren deren politische Bewegungen. Solche Verbindung schafft zwar ein hohes Maß an operativer Handlungsfreiheit, erzwingt aber einen florierenden Personenkult. So wird der 'heilige Führer', ob mit eckigem oder mit rundem Schnurrbart, zur Inkarnation der Legitimation. Und damit rekurriert die radikale Moderne auf ein zutiefst archaisches Modell, auf die Monarchie. Im Norden Koreas ist sie noch heute zu besichtigen.

Aber der Konflikt zwischen Legalität und Legitimität wird nicht immer blutig und nicht nur im Totalitarismus ausgetragen. Die rechtlich hervorragend verfasste Weimarer Republik etwa ging an einem galoppierenden Legitimitätsschwund zugrunde. Dabei kam damals zweierlei zusammen, genauer gesagt fielen zunehmend auseinander: das Demokratie-Verständnis des Volkes und der Herrschaftsanspruch der Partei-Funktionäre. Weder das Bürgertum noch die Arbeiterschaft fühlten sich in jenem Staat zu Hause. Erstaunt sehen wir jetzt, dass sich unsere Berliner Republik in einem ähnlichen Zustand befindet. Nach Mutlangen, Dutschke und RAF stand nicht zu erwarten, dass sich auch das Bürgertum von diesem Staat verabschieden könnte. 'Stuttgart 21' aber ist ein Signal, ein erster Schritt zur ideologischen Übereinstimmung und vielleicht auch politischen Aktionseinheit von ratlosem Bürgertum und rastloser Jugend.

Im ARD-Deutschlandtrend heißt es: "Die Herzen der meisten Deutschen haben die Demonstranten durch die seit Wochen anhaltenden Proteste und Demonstrationen gewonnen. 76 Prozent geben an, Sympathie für die Menschen zu haben, die gegen "Stuttgart 21" demonstrieren. Umgekehrt ist es nur eine Minderheit, die die Entscheidung von Angela Merkel gutheißt, sich offen für "Stuttgart 21" einzusetzen. Die Mehrheit von 59 Prozent findet Merkels Schritt nicht gut."

Politiker wie Mappus, Merkel und Barroso berufen sich auf die Rechtmäßigkeit von Verfahren, auf Legalität. Sie wollen nicht verstehen, dass es nicht um Mängel in unserem Rechtssystem, also um Legalität geht, sondern um Legitimität. Weder die EU-Politiker noch unsere Systemparteien noch unsere von jenen bestellten Verfassungsrichter haben erkannt, dass die Deutschen und viele andere europäische Völker längst begonnen haben, existenzielle Fragen stellen: Wer sind wir? Dürfen wir entscheiden, wer wir sein wollen? Gehört uns unsere Heimat? Haben wir noch das Sagen im eigenen Land? Die Antworten darauf lassen sich nicht umsetzen in einer Diktatur der Parteien und der Brüsseler Bürokraten.

Alexander Schuller ist Soziologe, Publizist und Professor in Berlin. Er hatte Forschungsprofessuren in den USA (Princeton, Harvard) und ist Mitherausgeber von 'Paragrana' (Akademie-Verlag). In seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen befasst er sich mit Fragen der Anthropologie und der Bildungs-, Medizin-, Geschichts- und Alltagssoziologie. Er arbeitet als Rundfunk-Autor sowie für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften wie Merkur und Universitas.
Alexander Schuller
Alexander Schuller© privat