Wie das Radeln in Istanbul zum Protest wird
Radfahren in Istanbul – das ist wohl lebensgefährlich. Doch es finden sich immer mehr Gleichgesinnte zusammen. Für sie ist das Radeln auch Ausdruck des politischen und wirtschaftlichen Protest: Und so stürzen sie sich mutig in den Autostrom.
Das Fahrrad fährt nicht. Es steht. Schön steht es da – in der Wintersonne, die sich wie Frühling anfühlt. Rot, Weiß und Chrom. Retro. Vor einer bröckelnden Backsteinmauer im Hafenviertel von Karaköy. Hipstergegend. Neben schwarz gekleideten Menschen die auf ihren handgefilterten Kaffee warten. Kaum besser in Szene zu setzen.
"Keine seriöse Option (lacht). Es gibt so einen Trend, also: Fixies und schöne Rennräder. Aber die sind aus Unterhaltungsgründen da. Zum Hinstellen, ja.
Alex, geboren in Griechenland, hat seit ein paar Jahren einen Fahrradladen in Istanbul und weiß: Mit hübschen Hipsterrädern kommt man in Berlin vielleicht zur nächsten Eisdiele. In Istanbul aber eher unter die Räder.
"Das größte Problem ist, dass wir für Autofahrer nicht existieren, sozusagen. Das könnte eine Fliege sein oder ein Fahrrad, das spielt keine Rolle (lacht). Das ist etwas übertrieben, vielleicht…
Als alltägliches Transportmittel wenig attraktiv
Etwas. Aber es kommt der gefährlichen Realität sehr nahe! Und es gibt mehr Gründe, die Fahrradfahren als alltägliches Transportmittel wenig attraktiv machen. Der Zustand der Straßen kann schon Autofahrern das Fürchten lehren - Gullis, Risse und Löcher können Radler zu Fall bringen.
Und dann ist da noch die Topographie der Stadt. Die Hügel: Manche Steigungen sind schon zu Fuß eine sportliche Leistung. Mit dem Rad kaum zu schaffen. Dort, wo Alex seinen Fahrradladen hat, ist das etwas besser. In einer ruhigen Ecke auf der asiatischen Seite der Stadt. Hier gibt es sogar eine Handvoll: Radwege.
"Jaaa…also…theoretisch: ja. Also es werden Radwege gebaut. Oder geplant. Aber nicht immer so gut geplant. Es gibt ein sehr schönes Beispiel auf der Bagdat Caddesi, einer der größten Straßen hier auf der asiatischen Seite. Sehr schöner Radweg! Innerhalb einer Nacht gebaut und am nächsten Tag, Abend, hat man angefangen den abzubauen. Man sagte es gab so viele Autofahrer, die darüber sauer geworden sind (lacht)."
Dennoch: hier gibt es eine kilometerlange Uferpromenade mit Radweg. Auf dem man immer öfter auch Fahrer entdeckt. Eher die Sportfraktion: Wochenende, teure Rennmaschine, Helm und Funktionskleidung. Aber immerhin. Vielleicht könnte das etwas das Image des Rades verbessern.
"Bis vor ein paar Jahren war es so, dass man arm war – und eben deswegen Fahrrad fuhr. Denn man hatte kein Geld fürs Auto. Es gibt eine solche Mentalität immer noch: Wenn Du Fahrrad fährst, bist Du vielleicht arm oder was."
Murat gehört zu einem Fahrradkollektiv
Doch es gibt einen kaum messbaren Bruchteil der 15 Millionen Menschen hier, für die das Fahrrad mehr ist als Ausdruck von Armut, als Anschauungs- oder Sportobjekt – oder als Mittel zum Milchholen mangels motorisierter Alternative. Murat zum Beispiel – der wunderbare Sätze über seine Liebe, das Rad, von sich gibt.
"Ich denke nach und die besten Ideen kommen: auf der Toilette oder auf dem Fahrrad."
Ich bin über Murat im Internet gestolpert. Wer er dort Fahrradfotos aus Istanbul verbreitet und Teil eines Fahrradkollektivs ist – der muss eine besondere Beziehung zum Zweirad haben, dachte ich. Und in der Tat, es ist so:
"Es ist - meine Identität. Wenn Du in diesem depressiven Land, dieser depressiven Stadt lebst, musst Du Dich ausdrücken, etwas äußern. Ich drücke mich mit meinem Rad aus.
"Du darfst keine Angst haben"
Sagt er lächelnd und steht da. Groß und aufrecht auf dem Taksim-Platz. Neben seinem Rad. Ein junger bärtiger Mann, Mitte zwanzig, voller Energie. Um den Hals baumelt ein silberner Fahrradanhänger Ein Räumpanzer der Polizei, auf dem Taksim nicht ungewöhnlich, fährt auf ihn zu. Wir weichen aus. In den Gezi-Park.
"Wenn Du in Istanbul Fahrrad fährst, ist das nicht nur fahren sondern auch protestieren. Politischer und wirtschaftlicher Protest. Ok: Du hast viel Geld für ein Auto und Benzin? Aber ich habe dieses Rad und fahre umsonst und: schneller als Du!"
Und so fährt beziehungsweise protestiert er täglich durch diese Stadt. Ohne Helm,
"Ich vergesse meine Angst beim Fahren. Du darfst keine Angst haben."
Eine kritische Masse - auch in Istanbul
Murat sagt, dass er auch missionieren, andere vom Rad überzeugen will. Er will keine Radwege – Geldverschwendung – lieber will er sich den Platz auf der Straße teilen. Shared Space. Ein frommer Wunsch in dieser Stadt.
Aber um ein bisschen sichtbarer zu werden, um aus dem Randgruppenstatus herauszukommen, dafür stürzen er und andere überzeugte Radfahrer sich ein, zwei Mal im Monat in der Gruppe mitten in den Verkehr. Als kritische Masse. Nach internationalem Radfahrervorbild. Critical Mass nennt es sich.
Hier sind es dieses Mal vielleicht 40, 50 junge Radfahrer, die auf eine mehrspurige, volle Straße fahren. Kurz fürchte ich, gleich kommt der Knall, rast ein Auto in die Masse. Aber es geht gut. Für einen Moment unterbrechen die Radfahrer friedlich den stetig mäandernden Autostrom in Istanbul. Wer weiß wann ihre Zeit anbricht.