Italien

Gesellschaft ohne Gemeinsinn

Eine Altstadtgasse in Palermo
Palermo gehörte einst zu den europäischen Metropolen. Heute hat die Stadt an Glanz verloren. © picture alliance / ZB
Von Ute-Christine Krupp |
In seiner Geschichte Italiens zeichnet der Journalist Corrado Augias das Bild eines zerrissenen Landes: Während der Süden in Straßenchaos und Müllskandalen untergeht, kümmert sich die wirtschaftliche Elite im Norden nur um sich selbst.
"Italien ist ein Land, das aus Städten besteht. Großen und kleinen, ruhmreichen und berüchtigten, die aber alle unsere Aufmerksamkeit verdienen, vor allem wegen der geballten Ladung an Vergangenheit, die sie bewahren."
Italien ist ein Land mit einem Überschuss an Vergangenheit. Es ist außerdem ein Land, dessen Bewohner sich bis heute schwertun mit Demokratie und Freiheit. Warum ist das so? Der Autor begibt sich auf die Suche nach den Traditionen der italienischen Geschichte, die den Charakter der Einwohner bis heute prägen.
"Traditionen, die schon so lange bewahrt und überliefert werden, dass sie zu einem Teil der kollektiven Identität geworden sind, sich in eine Art zweite Natur verwandelt haben."
Der Journalist Guiseppe Prezzolini behauptete einmal, Italien bestehe aus zwei Hälften:
"Einer europäischen, die ungefähr bis Rom reicht und einer afrikanischen oder balkanischen, von Rom ab südwärts."
Über mehrere Jahrhunderte gehörte Palermo zu den europäischen Metropolen, diese Stadt war lange weitaus glanzvoller als Rom. Heute verbindet man mit Palermo Straßenchaos, Müllskandale und die Mafia. Über Jahrhunderte hinweg, bis heute, blieb die Religion ein wesentlicher Bestandteil des Alltags.
"Palermo, und Sizilien ganz allgemein, haben eine eigene Religiosität, in der die Zurschaustellung von Schmerz und Tod eine große Bedeutung hat. Der Tod ist hier ständig präsent, vielleicht sollte man besser sagen, er ist ein diffuser und konstanter Seelenzustand."
Die Religion als Bestandteil des Alltags
Ein häufig dargestelltes Thema auf Fresken und Mosaiken ist das Jüngste Gericht mit spektakulären und verstörenden Drohkulissen. Textpassagen aus der Bibel sind in Bilder übersetzt, beispielsweise Auszüge aus der Offenbarung des Johannes:
"Der erste Engel blies seine Posaune. Da fielen Hagel und Feuer, die mit Blut vermischt waren, auf das Land. Es verbrannte ein Drittel des Landes, ein Drittel der Bäume und alles grüne Gras. Der zweite Engel blies seine Posaune. Da wurde etwas, das einem großen brennenden Berg glich, ins Meer geworfen. Ein Drittel des Meeres wurde Blut. Und ein Drittel der Geschöpfe, die im Meer leben, kam um und ein Drittel der Schiffe wurde vernichtet."
Angst erzeugen war lange ein Instrument der katholischen Obrigkeit, um die Menschen zu Gehorsam anzuhalten und ihre Leidenschaften einzudämmen. Sie sollten so zu moralischem Handeln veranlasst werden. Nur wenige befassen sich heute noch mit dem Jenseits, und an die Stelle der Bilder mit Schreckensszenarien sind im Alltag bürgerliche Rechte und Pflichten getreten, verbunden mit der Hoffnung, dass alle von sich aus, ohne Androhung von Strafe, in der Lage sind, sich angemessen zu verhalten.
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Cover: "Die Geheimnisse Italiens" von Corrado Augias© Verlag C.H. Beck
In Süditalien ist aber eine tiefe Religiosität und Schicksalsgläubigkeit bis in die heutige Zeit erhalten geblieben. Und neben religiösen Traditionen steht die Familie im Mittelpunkt des Lebens. Die eigene Familie zählt weitaus mehr als die Gemeinschaft. Viele versuchen, persönliche und familiäre Vorteile zu maximieren, die Regeln der Gemeinschaft treten dabei in den Hintergrund. Der Politikwissenschaftler Edward Banfield nannte dieses Phänomen: die moralischen Grundlagen einer zurückgebliebenen Gesellschaft.
"Im Norden dagegen sind eine höhere Intensität und Häufigkeit der sozialen Beziehungen und die Stärke der bürgerlichen Gemeinschaften eine Folge und ein historisch verwurzeltes Erbe der alteingesessenen kommunalen Einrichtungen. Es scheint, als sei man im Norden in weit höherem Maße fähig, das Interesse der Individuen und der Familien mit dem Wohl der Gemeinschaft zu vereinigen."
Im Norden Italiens überwiegen Gegenseitigkeit und Kooperation, im Süden Familienbande und althergebrachte Verhaltensweisen und Werte. Der Autor Roberto Saviano, bekannt geworden mit seinen Büchern über die Mafia, kennt die Gegend um Neapel aus seiner Kindheit.
"Saviano ist selbst in einer Gegend aufgewachsen, in der die Camorra Gesetz ist, in der es der Traum der jungen Männer ist, eine Pistole, Geld, Frauen, ein schnelles Auto und den Tod als echter Mann zu haben, also von irgendjemandem erschossen zu werden."
Neben religiösen und familiären Traditionen dominiert in Italien ein Misstrauen gegenüber der Politik, verbunden mit wenig politischem Engagement. Corrado Augias macht vor allem den Mailänder Industriellen den Vorwurf, sich zu wenig um die politische Modernisierung des Landes gekümmert zu haben. Mailand steht für den wirtschaftlichen Ausschwung Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg, für den hohen Lebensstandard des Landes und vieles andere:
"Das Industriedesign, das den italienischen Stil in der Welt durchsetzte, die Mode, das Essen, die technologischen Innovationen, die Innenarchitektur."
Aber die wirtschaftliche Elite konzentrierte sich auf den Profit, zeigte keine Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung. Der Autor wirft ihnen einen rückwärtsgewandten Charakter vor, damit seien sie mit verantwortlich für die Pannen der Politik und die mangelnde Modernisierung des Landes.
Wirtschaftliche Elite ohne Gemeinsinn
"Die Unternehmerklasse Mailands und der Lombardei hat das öffentliche Leben fast immer gemieden, auch in den Nachkriegsjahren, sie hat sich also systematisch aus der Staatsverwaltung und damit der Interessenvertretung für die Allgemeinheit herausgehalten."
Der Autor zeigt, wie die italienische Mentalität aus der Geschichte des Landes entstanden ist, dabei greift er Momente und Episoden aus der Vergangenheit, vom Mittelalter bis in 21. Jahrhundert, heraus. Es ist eine subjektive Auswahl. Neben vielen Pannen erwähnt er auch einige Lichtgestalten der italienischen Geschichte:
"Die Anwälte, die den Erpressungsversuchen der Mafia nicht erlegen sind; die Politiker, die sich der dunklen Seite der Macht widersetzt haben; die Freiwilligen der Freiheit, die der Folter getrotzt und damit die nationale Würde wiederhergestellt haben. Eine kleine Schar, eine edle Minderheit."
"Die Geheimnisse Italiens" ist ein lesenswertes Buch. Es entwirft eine neue Perspektive auf das Sehnsuchts- und Urlaubsland der Deutschen. Das Italien der Gegenwart wird dabei verständlich, aber auch das leise Bedauern des Autors darüber, dass sich die bürgerliche Freiheit so schwer ganz umsetzen lässt in diesem Land.
"Italien ist ein Land mit einem Höchstmaß an kleinen Freiheiten - der Freiheit, Abfall auf die Straße zu werfen, bei Rot über die Ampel zu fahren, Häuser auf Grundstücke zu bauen, die kein erschlossenes Bauland sind und so weiter. Während sich viele ungeniert, nach Gutdünken und missbräuchlich, diese kleinen Freiheiten nehmen, sind die großen bürgerlichen Freiheiten, die den Individuen die Rechte garantieren, für sehr lange Phasen, bis in unsere Tage, missachtet und sogar mit Füßen getreten worden."

Corrado Augias: Die Geheimnisse Italiens - Roman einer Nation.
Aus dem Italienischen von Sabine Heymann
Verlag C.H. Beck, München 2014
272 Seiten, 19,95 Euro

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