Wir sind absolut bereit zu regieren. Wenn uns die Italiener die Möglichkeit geben zu regieren, auf der Basis gemeinsamer Ideen eines Mitte-Rechts-Bündnisses, dann garantieren wir, dass wir auch diese Verantwortung übernehmen werden.
Mussolini reloaded
Mussolini als Tattoo: Proteste der rechtsextremen politischen Bewegung Forza Nuova im Zentrum von Rom. © picture alliance / zumapress / Danilo Balducci
Wie die Rechten Italien erobern
22:13 Minuten
100 Jahre nach dem Beginn des Faschismus sind die Rechten in Italien wieder auf dem Vormarsch. Sie stützen sich dabei auf die verbreitete Ansicht in der Bevölkerung, unter Mussolini sei „nicht alles schlecht gewesen“. Wie konnte es soweit kommen?
Italien im Mai 2021. Duce-Duce, Führer-Führer-Rufe in Predappio. Auf dem dortigen Friedhof wird die Krypta Benito Mussolinis auf Wunsch der Familie wiedereröffnet.
Mehr als 1000 Menschen sind gekommen in den Heimatort des ehemaligen Diktators in der Romagna. Fast alle tragen schwarze Hemden, in Italien ein Erkennungszeichen der Faschisten.
Die Mussolini-Anhänger, von Polizei begleitet, ziehen in einem Gedenkmarsch durch die kleine Gemeinde.
„Kamerad Mussolini“ rufen sie zu Hunderten. Viele Arme werden dabei gestreckt zum sogenannten Römischen Gruß, ähnlich dem Hitlergruß in Deutschland. Laut Gesetz ist das in Italien verboten. Die Staatsanwaltschaft wird später ermitteln, Urteile liegen auch ein Jahr danach noch nicht vor.
Neofaschistische Partei ist stärkste Kraft
Szenenwechsel, Juni 2022. Im italienischen Fernsehen wird über den aktuellen politischen Umfragetrend berichtet.
"Wenn heute gewählt würde, kämen die 'Brüder Italiens' auf 22,6 Prozent – ihr theoretisch-virtuelles historisches Allzeithoch."
Der Fernsehsender La7 ist mit dieser Prognose nicht alleine. Auch fast alle anderen Meinungsforschungsinstitute melden Spitzenwerte für die Partei Fratelli d’Italia, die "Brüder Italiens".
Damit ist 100 Jahre nach dem Marsch auf Rom, mit dem Mussolini die Macht in Italien an sich riss, eine Partei mit neofaschistischen Wurzeln stärkste politische Kraft im Land.
Pressekonferenz in der Parteizentrale der "Brüder Italiens" in der Via della Scrofa im Zentrum Roms. Gerade sind die Stimmen bei den Kommunalwahlen ausgezählt worden, an denen sich fast zehn Millionen Italienerinnen und Italiener in rund 1000 Städten und Gemeinden beteiligen konnten.
Salvini war gestern, Meloni ist heute
Die "Brüder Italiens" zählen zu den Siegern, sind mit Abstand stärkste Partei der italienischen Rechten geworden, weit vor der "Lega" Matteo Salvinis. Parteiführerin Giorgia Meloni sitzt vor einem Pulk an Mikrofonen an einem langen, Blau bezogenen Tisch, hinter sich eine blaue Stellwand, auf der dutzendfach das Symbol ihrer Partei prangt.
Journalisten fragen Meloni, ob sie und ihre "Brüder Italiens" auch bereit seien, die Regierung zu übernehmen bei einem möglichen Erfolg in den Parlamentswahlen im nächsten Frühjahr. Sie zögert nicht:
Die Führerin einer Rechtsaußenpartei als nächste Ministerpräsidentin Italiens? Aufgrund der aktuellen Umfragen nicht abwegig.
Was die Frage aufwirft, nicht nur weil sich die Machtergreifung Mussolinis jetzt zum 100. Mal jährt: Wie halten es Meloni und ihre Partei mit dem Faschismus? Sie reagiert darauf regelmäßig genervt.
"Ich habe nichts, für das ich mich entschuldigen müsste in meinem Leben. Aber in zwei von drei Fernsehdiskussionen soll ich über Geschichte und nicht über aktuelle Politik reden. Das finde ich nicht richtig."
Die ehemalige Jugendministerin unter Silvio Berlusconi drücke sich seit Jahren vor einer klaren Verurteilung des Faschismus, kritisieren beispielsweise die Sozialdemokraten des PD.
Und weisen darauf hin, dass im Parteisymbol der Brüder Italiens die grün-weiß-rote Flamme lodert, die in der Symbolik der italienischen Rechten für die ewige Flamme auf dem Grab Mussolinis steht.
Warnung vor dem "Schwarzen Mann" ist sinnlos
Konfrontiert mit diesen und ähnlichen Vorwürfen geht Giorgia Meloni gerne in die Offensive, auch in der Pressekonferenz nach den Kommunalwahlen.
"Ich habe gesehen, dass die Demokratische Partei wieder die Geschichte der Nicht-Vorzeigbaren hervorgeholt hat. Ich verstehe gut, dass sie besorgt ist angesichts des Anwachsens der Brüder Italiens.
Aber ich habe den Eindruck, dass dieses ständige Warnen vor dem 'Schwarzen Mann' in der Vergangenheit nicht funktioniert hat – und auch künftig nicht funktionieren wird. Wir sollten ernsthaft über die Probleme dieses Landes diskutieren, denn gewisse Dummheiten schlucken die Menschen nicht mehr."
Giorgia Meloni ist – nicht nur bei den Wählern der Rechten – mittlerweile deutlich beliebter als Lega-Chef Salvini. Die rhetorisch gewandte 45-Jährige verpackt ihre radikalen Parolen geschickter als der polternde Salvini, wirkt selbstbewusst und verbindlich, hat dadurch auch bürgerlich-konservative Wählerschichten erobert.
"Rebellion gegen Antifaschismus"
Aber eine klare Verurteilung der faschistischen Diktatur? Die gibt es von ihr nicht. Stattdessen schreibt Meloni in ihrer in Italien viel gelesenen Biografie:
"Wir sind Kinder unserer Geschichte. Unserer ganzen Geschichte. Wie für alle anderen Nationen ist unser Weg, den wir zurückgelegt haben, komplex, sehr viel komplizierter, als viele es erzählen wollen. Ich weiß, dass ich hier ein vermintes Feld betrete. Aber ich habe keine Angst zum wiederholten Mal zu unterstreichen, dass ich nicht den Kult des Faschismus habe.
Auf der anderen Seite kenne ich jeden Namen und jede Geschichte der jungen Menschen, die Anfang der 70er-Jahre auf dem Altar des Antifaschismus geopfert wurden. Manchmal nur, weil sie einen Schulaufsatz geschrieben haben, wurden sie von ihren politischen Gegnern zum Tode verurteilt. Diese Gewalt hat in mir eine entschlossene Rebellion gegen den politischen Antifaschismus hervorgerufen."
Nicht der Faschismus ist für die Führerin der Brüder Italiens das Problem, sondern der Antifaschismus. Geprägt sei sie, betont Meloni, von den politischen Auseinandersetzungen der 70er-Jahre, als die Konflikte zwischen Links- und Rechtsradikalen in Italien häufig blutig verliefen.
Jüngste Ministerin unter Berlusconi
Als 15-Jährige sei sie dann in die Jugendorganisation des neofaschistischen MSI eingetreten, als, so ihre Erzählung, Geste der Rebellion gegen die damals kulturell dominierende Linke. Später war die gebürtige Römerin in der MSI-Nachfolgepartei Alleanza Nazionale aktiv, wurde dort an die Spitze des Studentenverbands gewählt.
Mit 31 stieg sie unter Ministerpräsident Berlusconi zur jüngsten Ministerin in der Geschichte der Italienischen Republik auf. Ihre Anhänger loben Melonis politische Standhaftigkeit. Das Bild einer Frau, die ihren politischen Prinzipien treu bleibt und ihr Fähnchen nicht nach dem Wind hängt, ist Teil des von ihr gepflegten Images.
Emanuele Toscano, Professor für politische Soziologie an der Fernuniversität Guglielmo Marconi, forscht seit Jahren zur italienischen Rechten. Die Person Meloni, sagt er, sei ein Grund, warum die "Brüder Italiens" Salvinis Lega als führende Partei der italienischen Rechten abgelöst haben.
"Salvini ist eine Person, die einen Tag dies und den nächsten Tag etwas anderes sagt. Während Giorgia Meloni versteht, sich selbst und die Sache, für die sie eintritt, sehr viel glaubwürdiger zu verkaufen. Das hat mit dazu beigetragen, Stimmen von der Lega an die 'Brüder Italiens' abfließen zu lassen."
Faschistische Wurzeln nie abgeschnitten
Stimmen an eine Partei, die ihre Nabelschnur zur faschistischen Tradition nie abgeschnitten hat. Und der Symbole wichtig sind. Außer dem Parteiemblem, in dem die Flamme von Mussolinis Grab lodert, ist da auch der Sitz der "Brüder Italiens".
Meloni wollte mit ihrer Partei unbedingt wieder zurück in die Via della Scorfa 39, eine Adresse von emotionaler Bedeutung für die italienische Rechte. Hier war fast fünf Jahrzehnte lang die Parteizentrale des neofaschistischen "MSI", geführt von Giorgio Almirante, einem ehemaligen Kabinettsmitglied Mussolinis. Hier residierte auch die Nachfolgepartei, die "Nationale Allianz" Gianfranco Finis. Und hier sitzen jetzt ebenfalls, auf Melonis Initiative, die "Brüder Italiens".
Inhaltlich, sagt Rechten-Forscher Toscano, hat die Meloni-Partei ihre Positionen in den vergangenen Jahren kaum verändert.
"Der italienische Fall ist besonders interessant aus der Sicht eines Forschers – aber aus der Sicht der Bürger besonders beunruhigend. Denn ihre faschistischen Wurzeln haben die 'Brüder Italiens' nie ganz abgeschnitten. Obwohl sie eine Kraft der extremen Rechten bleiben, wachsen sie immer weiter."
Dabei profitieren die "Brüder Italiens" auch davon, sagt Toscano, dass sie ihre Oppositionsrolle gegen die Regierung Draghi quasi exklusiv haben und so die Unzufriedenen aller Richtungen hinter sich scharen können. Anders als Salvinis Lega hat es Meloni abgelehnt, in der breiten Draghi-Koalition mitzumachen.
Verlierer der Globalisierung ansprechen
In der Pandemie wurden die "Brüder Italiens" so auch erste Anlaufadresse für Gegner der Anti-Covid-Politik. Aber, mahnt Soziologieprofessor Toscano, man dürfe nicht nur auf die Tagespolitik schauen. Der Aufschwung der "Brüder Italiens" – und zuvor der "Lega" – habe tieferliegende Gründe.
"Der Erfolg der 'Lega Nord' und der 'Brüder Italiens' in der italienischen Gesellschaft erklärt sich auch durch ihre Fähigkeit, die Verlierer der Globalisierung anzusprechen. Also die sozialen Klassen, die durch die ökonomische Krise Anfang dieses Jahrtausends betroffen waren und dann auch durch die spätere Pandemie. Krisen in Sachen Arbeit, in Sachen Werte. Die 'Lega' und die 'Brüder Italiens' haben die Fähigkeit gehabt, vereinfachende Antworten auf diese Situation zu geben."
Stichwort Problem der Migration, Schutz der italienischen Werte. Dies sind vorgetäuschte Antworten. Sie haben aber verfangen innerhalb der italienischen Gesellschaft bei denen, die diese Krisen besonders stark zu spüren bekommen haben.
Sozial Schwache für sich gewinnen
Toscano meint, die Mitte-Links-Kräfte, wie beispielsweise die SPD-Schwesterpartei PD hätten in den vergangenen Jahren in Italien die Fähigkeit eingebüßt, die sozial schwächsten Schichten der Bevölkerung anzusprechen – dieses politische Feld hätten nun die Rechtsparteien besetzt.
Zur Frage, ob die "Brüder Italiens" eine faschistische oder neofaschistische Partei sind, sagt Toscano:
"Wenn wir unter Faschismus eine Position verstehen, die nationalistisch ist, nicht allen die gleichen Rechte zugestehen will – was die Basis der Demokratie ist –, dann muss man die 'Brüder Italiens' als faschistisch einstufen, wenn man ihre Positionen sieht zum Beispiel zur Migration, zu Bürgerrechten, zur Diversität.
Viele mit faschistischen Sympathien identifizieren sich mit den 'Brüdern Italiens', die zu einigen Themen Positionen vertreten, die sich schwer mit der Demokratie vereinbaren lassen."
Bei den Brüdern Italiens ist man zu dieser Frage wenig gesprächsbereit. Ein Interview zum Thema Faschismus? Nein! Mehr als ein halbes Dutzend Anfragen bei der Jugendorganisation der Partei, Nationale Jugend, blieben unbeantwortet oder wurden abgelehnt. Bei Ortsgruppen, aber auch in der Zentrale in Rom.
Gesprächsfreudiger sind sie in Predappio. Die Heimatgemeinde Mussolinis und umliegende Orte sind Wallfahrts- und Kultstätte für Rechtsextreme, Alt- und Neofaschisten. Es gibt da zum Beispiel das „Haus der Erinnerungen“, wie es offiziell heißt.
"Der Führer war einer der Großen"
Wer durch die hochgesicherten Eisentore schreitet, zur Linken und zur Rechten begrüßt von italienischen Fahnen und überlebensgroßen Adlerstatuen, begibt sich auf eine Zeitreise 100 Jahre zurück. In dem mit vielen hohen Bäumen bewachsenen kleinen Park hinter dem Eisentor steht eine Villa. Sie hat Mussolini 1923 als damals junger Machthaber für seine Familie bauen lassen. Im Jahr 2000 hat die Mussolini-Villa der aus der Lombardei stammende Unternehmer Domenico Morosini gekauft, zusammen mit seiner Frau. Er sagt zur Begrüßung:
"Ich bin der Hüter. Wir sind die Hüter der italienischen Geschichte."
Beim Rundgang durch die Villa, die als privates Museum deklariert ist, macht der 82-Jährige kein Geheimnis daraus, dass er ein Mussolini-Bewunderer ist.
"Ich liebe die Geschichte. Und ich mag die großen Männer. Und der Führer war einer der Großen. Mussolini ist seiner Zeit geistig 100 Jahre vorausgewesen. Auf der Welt gab es nur einen wirklichen Führer. Wenn er sich 1940 aus der Politik zurückgezogen hätte, wäre er der angesehenste Mann der Welt gewesen."
Bitte nicht schlecht über Mussolini reden
Aber was ist damit, dass Mussolini die Demokratie abgeschafft hat, politische Gegner verfolgen und einsperren ließ, einen blutigen Kolonialkrieg führte, Rassengesetze erließ und an der Seite Hitlers in den Krieg eingestiegen ist? Darüber möchte Morosini nicht so gerne reden.
"Ich ruhe mich jetzt ein bisschen aus, denn sonst rege ich mich auf, wenn ich höre, dass schlecht über den Führer geredet wird."
Zu sehen gibt es in Morosinis „Haus der Erinnerungen“ über zwei Stockwerke verteilt faschistische Devotionalien wie Mussolini-Büsten, Reliefs und Bilder, Fahnen, Standarten und Uniformen sowie die nach Aussagen Morosinis weitgehend original erhaltene Einrichtung inklusive Mussolinis Schreibtisch und Ehebett.
Ein Museum darf so etwas
Das alles kann gezeigt und ausgestellt werden, weil die Villa Mussolini offiziell ein „Museum“ ist – und daher Geschichte zeige.
Was Mussolini-Fan Morosini ausstellt, fällt nicht unter das sogenannte Scelba-Gesetz. Dieses Gesetz aus dem Jahr 1952 verbietet eine Verherrlichung des Faschismus und Bestrebungen zum Wiederaufbau einer faschistischen Partei in Italien. Theoretisch. Praktisch legen italienische Gerichte den Begriff der Geschichte und das Recht, diese zu zeigen, sehr großzügig aus.
Was auch Francesco Minutillo seine Ausstellung am Ortseingang von Predappio ermöglicht. Über die politische Einstellung des Ausstellungsmachers muss auch hier niemand lange rätseln.
Vor dem Eingang wehen weither sichtbar italienische Fahnen mit dem Savoyer-Wappen in der Mitte, der Landesfahne in der Zeit des Faschismus. Daneben ein großes Bild vom faschistischen Marsch auf Rom.
Viele Mussolini-Nostalgiker in Italien
Drinnen bekommt man unter anderem eine Ahnung davon, wie groß die Gruppe der Mussolini-Nostalgiker in Italien ist. Fast 200 Objekte sind ausgestellt, alle stehen sonst in privaten Wohnzimmern, erzählt Ausstellungsmacher Minutillo. Er hat die Brüder Italiens mitgegründet, ist mittlerweile im Streit ausgetreten. Jetzt, sagt er, möchte er statt Politik lieber Kultur machen.
"Es gibt in Italien eine blühende Sammlerleidenschaft für alles, was mit den 20 Jahren des Faschismus zu tun hat. Auch diese Büste von Mussolini hier aus Bronze ist von einem Privatsammler. Sie ist im Rahmen dieser Ausstellung zu sehen und danach wird sie wieder, sagen wir so, im Privaten versteckt."
Einen halben Meter hoch ist die Mussolini-Bronzebüste am Anfang der Ausstellung, später in verschiedenen Zimmern gibt es weitere Mussolini-Büsten, Orden, Helme, Waffen, lebensgroße Puppen in faschistischen Uniformen. Alles aus privaten Sammlungen.
100 Jahre nach dem faschistischen Marsch auf Rom zu sehen, für alle, die es wollen.
"Ich bin empört und entsetzt"
30 Minuten im Auto den Berg runter sitzt Miro Gori in der Innenstadt von Forlì und schüttelt mit dem Kopf.
"Ich bin entsetzt und empört, was soll ich Ihnen sagen. Erst vor Kurzem ist meine Tochter aus Predappio zurückgekommen und sagte: 'Papa, Papa, zwei Glatzköpfe mit schwarzem Hemd haben da den römischen Gruß gemacht. Ich habe Angst bekommen und bin weggelaufen.'
Was soll ich dazu sagen? Ich bin empört und entsetzt."
Miro Gori kommt aus einer Familie von Partisanen, die gegen Mussolini und die deutschen Besatzer gekämpft haben. In Forlì steht er an der Spitze der ANPI, der nationalen Vereinigung der Partisanen. Sie setzt sich dafür ein, dass die Verbrechen des Faschismus nicht in Vergessenheit geraten.
"Ich halte Vorträge zu diesem Thema an verschiedenen Orten. Und der Titel ist: Eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Diese Vergangenheit, die nicht vergeht, ist in Italien der Faschismus. Wenn Sie mir erlauben: Ihr in Deutschland seid eure Nazi-Vergangenheit besser angegangen. Uns dagegen ist es nicht gelungen, unsere Vergangenheit angemessen aufzuarbeiten."
Das habe bereits direkt nach dem Krieg begonnen, erzählt Gori, mit einer Amnestie. Verantwortlich war ausgerechnet der damalige Führer der kommunistischen Partei, Palmiro Togliatti.
Amnestie als Freifahrtschein für Faschisten
In der Regierung der nationalen Einheit schlug Togliatti als Justizminister 1946 eine allgemeine Amnestie für Kriegsverbrecher, Faschisten und Nazi-Kollaborateure vor. Mit fatalen Folgen, sagt Gori.
"Alle, die in der faschistischen Republik von Salò dabei waren, haben profitiert. Auch Folterer, Mörder, italienische SS-Mitglieder, die teilweise schlimmer waren als die Deutschen. Sie wurden festgenommen, es gab Prozesse gegen sie – und dann kam kurz darauf die Amnestie von Togliatti, gefolgt von anderen Amnestien. Praktisch sind dann all diese Mörder am Ende freigekommen."
Die politische Hoffnung war, dass die Amnestie im Nachkriegs-Italien einen Neuanfang in Versöhnung ermöglicht. Nach den letzten Jahren des Krieges, in denen italienische Partisanen und italienische Faschisten aufeinander geschossen haben.
Faktisch wurde die Amnestie ein Freifahrtschein für viele faschistische Führungskräfte, die problemlos in die öffentliche Verwaltung, den Polizei- und Justizapparat der neugegründeten Republik wechselten. Eine Aufarbeitung kollektiver Schuld an der faschistischen Diktatur hat in Italien nicht stattgefunden.
"Mussolini hat ja auch Gutes gemacht"
Linke reden lieber über den Befreiungskampf der Partisanen. Während Bildungsexperten beklagen, im Geschichtsunterricht der Schulen würde die Zeit des Faschismus zu kurz behandelt.
Auch die Justiz ist nicht immer hilfreich. Mit sich teilweise widersprechenden Urteilen und langer Verfahrensdauer bremst sie die Bereitschaft, Faschismus-verherrlichende Taten anzuzeigen.
Und dann, sagt Gori, sei da noch ein grundsätzliches Problem. Die im Land immer noch weit verbreitete Ansicht, unter Mussolini sei nicht alles schlecht gewesen.
Die Faschisten hätten die Pontinischen Sümpfe trockengelegt, Italiens autonome Versorgung mit Lebensmitteln gesichert, ein landesweites Bildungssystem eingeführt, in Rekordzeit neue Städte gebaut.
Wenn die Leute sagen: Mussolini hat ja auch Gutes gemacht, er war nicht so schlimm wie die Nazis – dann versteht man das Klima im Land.
"Heute gibt es extremistische Faschisten, ja, aber es gibt vor allem auch jenen Teil der Gesellschaft, der sagt: Ach komm, wenn Mussolini nicht 1938 die Rassengesetze erlassen hätte, wäre er weniger schlimm als Hitler gewesen. Gegen diese Erzählung, es sei alles nicht so schlimm gewesen, kommt man in Italien nicht an. Es gibt immer noch Leute, die denken, dass unter Mussolini die Züge pünktlich fuhren. Das kann doch nicht unser Ernst sein!", so Miro Gori weiter.
"Das kannte man vorher nur von der Mafia"
Dass mit rechtsextremistischen Tendenzen nicht zu spaßen ist, weiß Paolo Berizzi. Der Journalist sitzt in seinem Haus in Bergamo. Wie immer, von Polizisten bewacht, rund um die Uhr, 24 Stunden lang.
Berizzi berichtet seit mehr als einem Jahrzehnt für die Tageszeitung La Repubblica über die rechte Szene in Italien. Die Rechtsextremisten haben ihn wegen seiner Reporterarbeit zum Feind erklärt.
"Es gibt Einschüchterungen und Drohungen seit Jahren. Das begann stufenweise. Mit Beleidigungen, mit Versuchen, meine Arbeit zu diskreditieren. Dann haben sie irgendwann begonnen, mein Arbeits- und Wohnumfeld anzugreifen.
Mein Auto, mein Zuhause. Veranstaltungen, auf denen ich meine Bücher vorgestellt habe, sind von neofaschistischen Gruppen gestürmt worden. Aktuell laufen wegen Drohungen gegen mich 16 Strafverfahren in ganz Italien, dabei geht es auch um Morddrohungen. Die Einschüchterung durch neofaschistische und neonazistische Gruppen in Italien hat ein Niveau erreicht, das bis vor einigen Jahren nur die Mafia kannte."
Zu viel Toleranz gegenüber Neofaschismus
In Varese hat vor einigen Wochen eine Gruppe von Neofaschisten namens 12 raggi, 12 Strahlen, ihren Hass auf den kritischen Journalisten öffentlich zur Schau gestellt, als Berizzi unter anderem auf Einladung des Bürgermeisters in der 80.000 Einwohner-Stadt eine Lesung machte.
"Sie hatten die Stadt mit Transparenten gegen mich geradezu tapeziert und Flugblätter mit meinem Gesicht verteilt. Dann haben sie einen Schauprozess gegen mich auf der Straße durchgeführt, vor Dutzenden ihrer Leute.
Sie haben eine Puppe mit meinem Gesicht befragt und beleidigt und gesagt, ich sei ekelhaft und so weiter. Auf ihrem Telegram-Kanal haben sie es öffentlich gemacht. Das geschieht in Italien im Jahr 2022."
Wieso das möglich ist? In unserem Gespräch via Skype sagt Berizzi:
"Ich glaube, dass es in Italien zu viel Toleranz gibt gegenüber dem wieder auflebenden Neofaschismus. Im Ausland ist man deutlich weniger tolerant. In Deutschland, in Frankreich, in Spanien, sogar in den Ländern im Osten. In Italien haben wir das Paradox, dass es im Land Mussolinis, das den Faschismus erfunden hat, 77 Jahre nach seinem Ende zu viel Toleranz gegenüber diesem Phänomen gibt. Mit dem Ergebnis, dass die Faschisten wieder ihr Haupt erhoben haben."
Rechtsextremismus ist wieder hoffähig
Das immer selbstbewusstere Auftreten gewaltbereiter neofaschistischer Gruppen wie 12 Strahlen, aber auch Casapound oder Forza Nuova einerseits. Und andererseits der Erfolg der rechten Parteien in Rom, zunächst der Lega und jetzt der Brüder Italiens.
Für Berizzi sind diese Entwicklungen zwei Seiten derselben Medaille. Der Rechtsextremismus sei wieder hoffähig.
"Ich glaube, dass der Vorbehalt gegen den Faschismus gefallen ist in weiten Teilen der öffentlichen Meinung. Es hat sich die Botschaft durchgesetzt, dass der Faschismus nicht mehr hässlich und schmutzig und das absolute Übel ist.
Es gibt seit Jahren eine Politik, die Komplizin dieser Entwicklung war. Sowohl die Lega als auch die Brüder Italiens haben mit den Neofaschisten geflirtet und sind mit ihnen Arm in Arm gegangen, haben Allianzen, Beziehungen mit ihnen gebildet. Dadurch haben sie sie enttabuisiert und dieses Phänomen in gewisser Weise legitimiert."
Diese rechtsextremen Gruppen, sagt der unter Polizeischutz stehende Journalist, sähen nicht mehr Salvini, sondern Meloni als ihre wichtigste Partnerin in Rom.
Dass sich Meloni schwertue mit einer Distanzierung vom Faschismus sei aus ihrer Sicht sogar nachvollziehbar. Denn, meint Berizzi, die Chefin der "Brüder Italiens" würde damit einen Teil ihrer Wählerschaft verlieren. Die Überschrift eines Interviews Berizzis im linksliberalen Magazin "Micromega" lautet: Giorgia Meloni, die unterschätzte Gefahr.