Laura Garavini ist Senatorin im italienischen Parlament. Sie hat mehrere Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet und besitzt neben der italienischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie schloss ihr Studium der Politischen Wissenschaften und Soziologie in Bologna und Rom mit einem Master im Management europäischer Gemeinschaftsprojekte ab. Von 2008 bis 2018 saß sie für die sozialdemokratische Partito Democratico (PD) in der Abgeordnetenkammer des italienischen Parlaments. In ihrer ersten Legislaturperiode gehörte sie auch dem Ausschuss für Europäische Angelegenheiten und dem Komitee für Auslandsitaliener an. Seit 2018 ist sie Mitglied der Senatskammer im Parlament in Rom. Im Herbst 2019 verließ Garavini die PD und schloss sich der neugegründeten Italia Viva an, einer Partei der politischen Mitte des ehemaligen Regierungschefs Matteo Renzi. Sie ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende.
"Man hätte sich mehr Solidarität von den Nachbarn gewünscht"
29:33 Minuten
Die Deutsch-Italienierin Laura Garavini beklagt die zögerliche Unterstützung vor allem Deutschlands in der Coronakrise. Das habe eine "Welle von Verbitterung" und "teilweise Hass" gegen die Deutschen ausgelöst – Steilvorlage für Nationalisten.
Glaubt man den jüngsten Meinungsumfragen in Italien, dann steht es um die deutsch-italienische Beziehungskiste alles andere als gut. Anfang April gaben 70 Prozent der Italiener an, sie hätten ein schlechtes Bild von Deutschland. 45 Prozent sagten sogar, Deutschland sei "ein Feind". Es gibt im Internet reihenweise Wutvideos in Richtung der deutschen Nachbarn. Diese "Verbitterung" grenze schon an "Hass", bestätigt die Senatorin der Partei Italia Viva im italienischen Parlament, Laura Garavini.
Keine Hilfe, als die Not am größten war
Das habe damit zu tun, dass ein sehr "negatives Deutschlandbild" entstanden sei, als es einen vorübergehenden Exportstopp der Deutschen für dringend benötigte Instrumente und Schutzkleidung für das besonders hart von der Corona-Pandemie getroffene Italien gab - ausgerechnet in der Phase der größten Not also. Die später geleistete Hilfe Deutschlands habe dieses negative Bild nicht mehr überschreiben können.
Zudem, so Garavini, kämen aus Deutschland immer wieder "unglückliche Töne", auch im Zusammenhang etwa mit dem Stichwort Euro-Bonds, also der gemeinsamen Verschuldung der Euro-Staaten zur Finanzierung der Staatsaushalte. Sie "leide sehr darunter", dass bestimmte Vorurteile so "unglücklicherweise" immer wieder hochkämen.
Nationalisten nutzen die Gelegenheit zu Attacken auf die EU
Man solle Populisten und Anti-Europäern keinen Anlass liefern, gegen die EU zu hetzen, meint Garavini. Daher sei es so wichtig, dass Europa Instrumente zur Selbsthilfe zur Verfügung stelle in der akuten Situation, die die gesamte Union treffe.
Niemandem in Europa würde es nützen, wenn einzelne Länder wirtschaftlich zusammenbrächen. So sei Italien etwa ein wichtiger Absatzmarkt für den deutschen Export, betont die Politikerin der politischen Mitte.
Krise als Brennglas für hausgemachte Probleme
In der aktuellen Situation zeige sich aber auch, dass es in Italien eine Reihe hausgemachter Probleme gebe, die es dringend anzugehen gelte. Als Beispiele nannte Garavini die Organisierte Kriminalität, Korruption und eine ineffektive Bürokratie.
Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Frau Garavini, "Fase due", die Phase zwei des Lockdowns in der Coronakrise, hat in Italien am Montag begonnen. Die Abflachung der Kurve von neuen Ansteckungen macht es möglich. Nach zweimonatigem, sehr hartem landesweitem Lockdown können die Menschen sich wieder etwas näher kommen, haben ein bisschen mehr Bewegungsfreiheit. Wie funktioniert das denn? In den Köpfen sind wahrscheinlich viele doch noch in der "Fase uno"?
Garavini: Ja, zunächst mal freuen sich die Italiener über die "Fase due" und über das bisschen mehr an Freiheit, an Möglichkeiten und auch darüber, dass seit dieser Woche fast 4,5 Millionen Menschen wieder arbeiten dürfen. Ähnlich wie in Deutschland gibt es Diskussionen darüber, ob es zu viele oder zu wenig Öffnungen gibt. Solche Diskussionen gibt es auch innerhalb unserer Regierungskoalition.
Ich persönlich glaube, dass man in Italien schon mehr Öffnungen erlauben müsste. Wir haben ja in Italien wesentlich strengere Regeln gehabt als in Deutschland. Ich denke, gerade Friseure, Restaurants, Bars, die immer noch zu sind, oder auch Schulen, Universitäten könnten langsam wieder öffnen – natürlich mit den entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen. Aber die Infektionsrate – also dieser berühmte R-Faktor – ist in Italien mittlerweile fast genauso niedrig wie in Deutschland. Ich denke, es wäre nicht schlecht, wenn man eben ein bisschen mehr Läden ermöglichen könnte aufzumachen.
Deutschlandfunk Kultur: Dieser R-Faktor, muss man nochmal ganz kurz erklären, das heißt, wie viele Menschen von einem Infizierten neu angesteckt werden. Das, was Sie sagen, Frau Garavini, geht ja in die Richtung, was die Unternehmen in Italien auch sagen: Sie werfen der Regierung Conte vor, dass das alles zu langsam geht. Es sind wieder ein paar Strände offen. Man darf sich wieder ein bisschen zu Fuß oder zu Fahrrad in der eigenen Region bewegen – aber auch nur dort. Begegnungen zwischen Verwandten und Paaren sind wieder erlaubt, aber mit Mundschutz. Und Take-away in den Restaurants gibt’s wieder. Die Schulen bleiben allerdings bis September zu. Aber wenn man weiß, wie viele infiziert sind und wie viel auch gestorben sind, dann ist doch auch klar, dass man sehr vorsichtig vorgeht. Niemand möchte – wahrscheinlich, auch ein Regierungschef Conte nicht – diese Verantwortung auf sich nehmen, mit ansehen zu müssen, wie eine zweite Welle schwappt.
Garavini: Aber wir dürfen auch nicht das Land aus anderen Gründen sterben lassen. Das heißt, man muss natürlich die Sicherheitsmaßnahmen anwenden, aber man darf nicht das Land einfach ständig stilllegen. Denn das würde bedeuten, dass viele kleine und mittlere Betriebe es nicht schaffen würden, wieder aktiv zu werden. In manchen Gegenden war alles sogar schon drei Monate stillgelegt. Und drei Monate ohne Einnahmen sind einfach zu viel, um die Krise zu überleben.
Deutschlandfunk Kultur: Der Tourismus ist für Italien besonders wichtig, vor allen Dingen auch aus Deutschland. Die Touristen sind nicht immer geliebt, aber sie sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Aber gerade, dass sie schnell zurückkommen, ist doch sehr unwahrscheinlich. Denn da steckt das allergrößte Risiko, wenn man sich die Pandemie anguckt, dass Bewegung, Mobilität den Virus eben auch wieder zurückbringt.
Garavini: Wie gesagt: Es müssen alle Sicherheitsmaßnahmen angewendet werden. Es geht auch darum, eine gewisse Kultur bei den Menschen zu entwickeln. Das heißt, man muss leider anfangen, mit dem Coronavirus mit zu leben: Solange keine Impfungen entwickelt sind, muss man einfach damit umgehen, dass man mit dem Coronavirus leben muss. Aber man muss eben auch in den Betrieben wieder zu arbeiten anfangen, denn es ist einfach dauerhaft nicht denkbar, dass gerade auch in Gegenden, wo gar keine Ansteckungsgefahr existiert – und es sind mittlerweile mehrere Regionen Italiens, Gott sei Dank – dass alles stillgelegt bleibt.
Viele Fehler wurden begangen
Deutschlandfunk Kultur: Das sind sehr ähnliche Diskussionen, die wir in Deutschland zu Recht auch führen. In Italien ist es so, dass ausgerechnet in der Lombardei, also einer der reichsten Regionen – des Landes sowieso, aber letztendlich auch einer der reichsten Regionen Europas – besonders viele Infizierte, aber auch besonders viele Tote waren. Hat jetzt auch mit der "Fase due", also mit der zweiten Phase der Lockerungen, gleichzeitig auch eine Phase der innenpolitischen Schuldzuweisungen in Italien begonnen, wer für diese Situation verantwortlich ist?
Garavini: Soweit sind wir noch nicht. Wir als politische Kraft Italia Viva verlangen aber beispielsweise schon seit Wochen, dass eine genaue Untersuchung – auch im Parlament – stattfinden soll, weil wir der Meinung sind, dass in der Tat viele Fehler begangen worden sind. Es kann nicht sein, dass die Sterberate so groß ist und wesentlich größer ist als in anderen Ländern, beispielsweise in Deutschland. Natürlich ist in Italien als erstes Land die Infektion aufgetreten, so dass wir unglücklicherweise nicht die Erfahrung anderer Ländern nutzen konnten, um die Verbreitung des Virus zu beschränken. Nichtsdestotrotz denken wir, es ist schon notwendig, dass sich eben die Verantwortlichen für die ganzen Probleme verantworten müssen.
Deutschlandfunk Kultur: Auf alle Fälle hat die Zustimmung für Ministerpräsident Conte zugenommen: 71 Prozent sind einverstanden mit dem, was er da tut. Man müsste sich auch mal vorstellen: Wenn diese ganze Situation mit einem Regierungschef Berlusconi, einem Populisten, stattgefunden hätte, dann wäre noch die Frage, wie die Zustimmung zu den Maßnahmen gewesen wäre. Aber es gibt halt auch viel Kritik. Und manch einer sagt, dass diese Situation im Moment wie eine Art Vergrößerungsglas ist für existierende Probleme in Italien jenseits dieser Coronapandemie ist: Der schwache Staat, die desolate Haushaltslage, ein relativ schlechtes Gesundheitssystem, viel Korruption, Misswirtschaft – all diese Punkte waren ja schon vorher da.
Garavini: Es ist klar, dass in einer Phase der Krise die Probleme, die schon da waren, noch größer erscheinen. Auf der einen Seite hat man in dieser Notlage eine Welle der Solidarität in der Gesellschaft erlebt. Auf der anderen Seite ist es schon schmerzhaft zu sehen, dass viele Menschen immer noch Schwierigkeiten haben, beispielsweise das Kurzarbeitergeld zu kriegen. Das heißt, das ist auch ein großes Problem, das schon vorhanden war, dass die Bürokratie auch in dieser eben schwierigen Phase noch an Umfang gewonnen hat. Das ist für die Politik eine Ermahnung, denn gerade solche Probleme müssen wir versuchen jetzt ernsthaft anzupacken.
Krisen vergrößern oft bestehende Probleme
Deutschlandfunk Kultur: Glauben Sie, dass diese Krise – manchmal ist eine Krise ja auch eine Chance – das vielleicht unterstützen kann, dass diese Probleme angesprochen werden? Sie selber kümmern sich seit vielen Jahren zum Beispiel um so etwas wie Korruption und Misswirtschaft. Aber es ist nichts wirklich durchgreifend passiert. Die Probleme sind ja immer noch da.
Garavini: Es ist gerade unser Anliegen, solche Probleme zuerst anzusprechen und auch zu lösen. Leider ist es so, wenn es schon Probleme gibt und so eine schwierige Phase entsteht, dann ist die Gefahr, dass die Probleme noch größer werden, natürlich da. Von unserer Seite, das heißt, als Italia Viva, sind wir bemüht, gerade solche Probleme anzusprechen und auch zu lösen. Denn gerade, wenn so viele öffentliche Gelder im Spiel sind, ist die Gefahr, dass die Organisierte Kriminalität auf der einen Seite und die Korruptionsfälle auf der anderen Seite zunehmen. Aber als wir in der Regierung waren, haben wir gezeigt, dass auch wichtige große öffentliche Projekte, wie beispielsweise EXPO oder der Wiederaufbau der Pompeji-Ausgrabungen, möglich sind, dank öffentlicher Gelder – aber auch mit gezielten Maßnahmen gegen Korruption, gegen Organisierte Kriminalität. Genau das sind jetzt unsere Vorschläge an die Regierung.
Deutschlandfunk Kultur: Die Wirtschaftskraft, so sagt die EU-Kommission, wird in Italien 2020 mindestens um neun Prozent schrumpfen. Die Arbeitslosigkeit dagegen wird steigen. Die war schon vorher hoch, 2019 bei zehn Prozent. Jetzt, schätzt man, wird sie bei knapp unter zwölf Prozent liegen. Wer kann politisch im Lande bei Ihnen von solchen Entwicklungen profitieren?
Garavini: Wir müssen sehen, dass die Bürger davon profitieren. Und wir müssen sehen, dass die Wirtschaft nicht zusammenbricht. Das heißt, es geht darum, jetzt massive Investitionen vorzusehen, damit wir den Familien nahe stehen; damit wir den Bürgern, den Menschen nahe stehen; dass möglich ist, dass keiner wegen des Coronavirus seinen Job verliert. Gerade deswegen müssen wir aber den Betrieben helfen, damit die Wirtschaft nicht einfach zusammenbricht.
Deutschlandfunk Kultur: Aber Italien hat nicht so wahnsinnig viel Geld. 25 Milliarden ist das jüngste Hilfspaket, was geschnürt wurde. Aber natürlich sind die Haushaltsbedingungen sehr viel enger, ist das Geld sehr viel knapper als in Deutschland. Die Schulden wachsen enorm. Meine Frage war aber: Kann die Regierung, wenn sie das löst, davon profitieren? Oder ist nicht vielmehr die Gefahr, dass die Rechten, zum Beispiel die Lega eines Matteo Salvini, von diesen Entwicklungen profitiert? Der hat zwar jetzt mehrere Prozentpunkte mit seiner Partei verloren, aber bei einer Wahl würden sie trotzdem momentan vorn liegen.
Garavini: Das ist noch die Frage, denn die Populisten – also gerade Matteo Salvini und die Lega sind in den Umfragen in diesen Tagen und Wochen abgestürzt, weil ihr Hauptthema "Flüchtlinge und Migration" derzeit überhaupt keine Rolle spielt. Salvini ist auch in den vergangenen Wochen kaum in den Nachrichtensendungen aufgetaucht, weil im Moment anderes im Land interessiert als die Polemik der Nationalisten und der Souveränisten. Und das ist auch gut so.
Aber natürlich nutzen sie immer jede Möglichkeit, um ihre populistische Propaganda zu verbreiten und auch gegen Europa zu hetzen. Gerade auch in der Phase mit der Auseinandersetzung über Euro-Bonds, Coronabonds und Ähnlichem haben die Nationalisten natürlich jede Gelegenheit genutzt, Europa immer wieder anzugreifen.
Verbitterung und Hass gegen Deutschland
Deutschlandfunk Kultur: Zu dem Thema möchte ich gleich noch mehr mit Ihnen sprechen, Frau Garavini – aber erst einmal zum deutsch-italienischen Verhältnis. In Deutschland ist vielleicht manch einem erst durch die Bilder aus Norditalien das ganze Ausmaß der Krise bewusst geworden. Glaubt man den jüngsten Meinungsumfragen in Italien, dann steht es um die deutsch-italienische Beziehungskiste alles andere als gut. Anfang April sagten 70 Prozent der Italiener, sie hätten ein schlechtes Bild von Deutschland. 45 Prozent sagten sogar, Deutschland sei ein Feind. Es gibt im Internet reihenweise Wutvideos in Richtung Germania. Warum diese Wut und dieser Hass auf Deutschland?
Garavini: Ja, in den letzten Wochen hat es in der Tat eine neue Welle von Verbitterung gegenüber Deutschland in Italien gegeben. Teilweise kann man auch von Hass sprechen. Ich denke, die Probleme mit diesem negativen Deutschlandbild haben angefangen, als in den ersten Wochen der Coronakrise in Deutschland verboten wurde, Mundschutzmasken, Beatmungsgeräte oder ähnliche Instrumente nach Italien zu exportieren. Gerade dann, als die Not groß war, wäre es natürlich wichtig gewesen, solche Instrumente zu bekommen. Gerade da hätten man sich gewünscht, mit der Solidarität von Nachbarländern rechnen zu können.
Deutschlandfunk Kultur: Auf der anderen Seite ist natürlich bei den politisch Verantwortlichen in Italien auch zu kritisieren, dass sie die Hilfsleistungen, Hilfsgüter aus allen möglichen Ländern minutenlang aufzählen, Deutschland dabei aber vergessen. Zugegeben, es gab dieses Exportverbot für Schutzkleidung am Anfang der Krise, aber inzwischen sind Coronapatienten aus Italien aufgenommen worden. Es sind sieben Tonnen Hilfsgüter aus Deutschland geschickt worden. Das wird aber in den Medien und auch von der Politik gerne vergessen.
Garavini: Ja, in der Tat, weil die Populisten mit dieser ersten Reaktion leichtes Spiel hatten, Deutschland anzugreifen und zu kritisieren. Dass hinterher die Exportverbote aufgehoben worden sind oder die Hilfen kamen – eben erkrankte Patienten in deutsche Krankenhäuser aufgenommen worden sind –das hat kaum jemand gemerkt. Und an den Deutschen ist einfach das Bild geblieben als diejenigen, die im Notfall egoistisch gehandelt haben.
"Unglückliche Töne" aus Deutschland
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt aber doch auch, dass es an irgendetwas andockt, was noch immer oder wieder in Italien gegenüber dem nördlichen Nachbarn an Ressentiments da sein muss. 75 Jahre nach Weltkriegsende scheint es so, als ob die Deutschen in Italien gerne nach wie vor als eher arrogant, als sich überlegen fühlend ankommen, als geizig. Dockt das an die Euro-Krise an oder an alte Nachkriegsvorbehalte oder an die Flüchtlingskrise? Es kann ja eigentlich nicht nur diese aktuelle Geschichte gewesen sein.
Garavini: Ja. Leider ist es so, dass selbst im Finanzbereich unglückliche Töne zu hören waren – Stichwort Ablehnung Eurobonds – so dass in der Tat solche Vorurteile unglücklicherweise immer wieder hochkommen. Ich leide auch sehr darunter.
Deutschlandfunk Kultur: Könnten Corona und die Folgen auch endgültig den Boden bereiten für noch mehr Macht und Einfluss von Kräften, die gegen Europa Stimmung machen, die also erklärte Anti-Europäer sind?
Garavini: Wir müssen eben daran arbeiten, dass das nicht der Fall ist. Europa hat in den letzten Wochen sehr wichtige Entscheidungen getroffen. Das sind alles wichtige Schritte, die den einzelnen Ländern helfen, die Krise zu überwinden. Wir hatten uns jahrelang dafür eingesetzt und es ist auch sehr gut, dass Europa jetzt aufgrund der Krise solche Maßnahmen endlich vorgesehen hat. Ich denke, gerade solche Leistungen seitens Europas muss uns auch Gründe geben und Themen geben, um damit die Populisten, die Nationalisten, die Anti-Europäer zu bekämpfen.
Deutschlandfunk Kultur: Aber es sind ja auch in der italienischen Regierung nicht alle Pro-Europäer. Man denke nur an Außenminister Di Maio von der Fünf-Sterne-Bewegung. Es muss also schon auch etwas mit dem Narrativ, mit der Art des Umgangs, mit der Art der medialen Aufbereitung des Themas zu tun haben, dass die Italiener plötzlich nicht mehr glühende Verfechter der europäischen Einigung sind. Eine viel zitierte jüngste Umfrage in Italien sagt, dass 67 Prozent – 67 Prozent! – der befragten Italiener sagen, dass die Mitgliedschaft in der EU ein Nachteil ist.
Garavini: Ja, leider kommt es immer wieder vor. Von der Seite der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega werden andere Länder außerhalb Europas immer wieder eher hochgejubelt – beispielsweise China, Russland. Es ist eine richtige Propagandaerzählung gepflegt worden, auch in diesen Wochen, gerade was Hilfe anbelangt gegen den Coronavirus. Das sind natürlich ziemlich gefährliche Töne, die Europa nicht helfen, die Europa nicht dienen.
Nichtsdestotrotz ist es ganz wichtig, es immer wieder zu betonen: Wenn es Europa nicht gäbe, wäre Italien beispielsweise, aber auch andere europäische Länder wahrscheinlich schon Pleite gegangen. Und das wäre ein Drama.
EU und Deutschland als Sündenbock
Deutschlandfunk Kultur: Deutschland ist ein Schwergewicht in der EU. Das trifft sich vielleicht auch wieder mit den deutsch-italienischen Beziehungen. Könnte man sagen, dass Deutschland, weil es ja nicht nur Schwergewicht ist, sondern von vielen auch als dominierend in der Union empfunden wird, dass das so ein bisschen als Sündenbock herhalten muss dafür, dass auch die EU vielleicht etwas lange gebraucht hat, bis sie im Zusammenhang mit dieser Pandemie – geschweige denn im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise – Italien tatsächlich zur Seite zu stehen?
Garavini: Ja, leider wird Europa in der Tat als Sündenbock ausgenutzt und leider nicht nur von der Seite der Lega, also der Nationalisten, sondern auch von der Seite des Premierministers Conte. Das ist etwas, was mich besonders kränkt, weil das genau das Gegenteil ist von dem, was man braucht. Gerade angesichts der Maßnahmen, die in diesen Wochen getroffen worden sind, hätte ich mir gewünscht, dass besonders unterstrichen wird, wie gut Europa für Italien und für andere Länder dabei ist, den Coronavirus zu bekämpfen. Und im Gegenteil sind auch in diesen Wochen immer wieder Vorwürfe gekommen, die Europa eben nicht helfen und die auch die Stimmung in der Bevölkerung, einfach nicht-proeuropäische Haltungen, unterstützen.
Deutschlandfunk Kultur: Es ist schwer nachzuvollziehen, warum das auf so fruchtbaren Boden in der Bevölkerung fällt. In der Tat hat die EU vielleicht – wie es immer ist, wenn die Gemeinschaft von 27 Ländern, sich auf etwas einigen muss – relativ langsam reagiert. Das Hilfspaket wurde erst Ende Mai beschlossen. Aber es geht ja immerhin um Milliarden. Italien wird davon profitieren. Es gibt Kreditlinien, die Italien abrufen könnte. Es gibt Unterstützung, Liquiditätshilfen. Es wird eine Arbeitslosenrückversicherung geben. Der Haushalt der EU soll aufgestockt werden. Die Regeln für die Staatsbeihilfen gegenüber Unternehmen sind gelockert worden. Die Haushaltsregeln – also wieviel Schulden gemacht werden dürfen – sind gelockert worden. Trotzdem stürzt sich das gesamte Land auf diese Diskussion der sogenannten Coronabonds – also der Möglichkeit, dass die EU-Staaten gemeinsam sich finanzieren.
Garavini: Die Einführung von Coronabonds würde bedeuten, dass man europäische Garantien vorsehen würde, um europäische Investitionen zu ermöglichen. Das würde bedeuten, dass es für ein Land wie Italien günstigere Kredite gäbe. Wir könnten günstigere Kredite kriegen, denn aufgrund der Tatsache, dass Eurobonds europäische Garantien hätten, wären die Zinsen wesentlich günstiger, und der eigene Schuldenberg würde nicht zusätzlich steigen. Es wäre also eine wichtige solidarische Maßnahme, die uns gerade in so einer schwierigen Situation sehr helfen würde. Es würde dazu beitragen, dass sich die finanziellen Probleme Italiens auch für die kommenden Generationen nicht weiter erhöhen. Denn es sind Kredite. Das heißt, die zukünftigen Generationen müssen dann die Kosten solcher Investitionen bezahlen. Und wenn Europa, die Europäische Union, mithilft, europäische Garantien durch den europäischen Stabilitätsmechanismus für diese Kredite vorzusehen, würde es für das einzelne Land günstiger sein, die Schulden zu bezahlen.
Deutschlandfunk Kultur: Aber auf der anderen Seite leistet das ja indirekt schon die Europäische Zentralbank. Die hat für fast 400 Milliarden italienische Staatsanleihen aufgekauft. Das ist rund ein Sechstel der italienischen Schulden. Und das ist deshalb möglich, weil eben auf die Kreditwürdigkeit der starken Länder in der Union gebaut werden kann, um die schwächeren zu finanzieren. Das geht vielleicht sogar über das Mandat der EZB hinaus. Aber da passiert doch genau das Solidarische schon.
Garavini: Ja, aber das sind monetaristische Hilfen. Es sind aber auch finanzielle Hilfen notwendig. Gerade deswegen ist es sehr positiv, dass der Europäische Rat auf einen Wiederaufbau-Fonds geeinigt hat. Ich hoffe, er wird schon im Laufe des Jahres entstehen können. Und sie werden einen sehr langen Zeitraum vorsehen – das hoffe ich – um zurückbezahlt zu werden, damit es einfacher ist für die einzelnen Länder, Investitionen zu ermöglichen, ohne die eigenen Schulden zu belasten. Wir bräuchten europäische Instrumente, die den einzelnen Ländern ermöglichen, ihrer Wirtschaft zur Seite zu stehen, damit sie nicht zusammenbricht.
Coronabonds als Instrument gegen wirtschaftlichen Kollaps?
Deutschlandfunk Kultur: Ich muss nochmal mit einem Satz zurückkommen zu diesen Corona-Bonds, die ja als Eurobonds schon lange in der Diskussion sind. Da sind ja nicht nur die Deutschen dagegen, dass man sich sozusagen gemeinsam verschuldet, sondern auch die Niederländer. Kann man denn nicht ein bisschen das Argument nachvollziehen – Solidarität hin oder her – dass den eigenen Bürgern in den Niederlanden, in Deutschland beispielsweise, viel zugemutet wurde, um den eigenen Haushalt in Ordnung zu halten und dass man jetzt praktisch dafür – in Anführungsstrichen – "bestraft" wird, indem man andere unterstützen soll, die sich eben nicht so strikt an eine sehr konsequente Haushaltsführung gehalten haben?
Garavini: Zuerst haben wir mit einer Krise zu tun, die alle Länder betrifft. Ich möchte einfach nur daran erinnern: Deutschland, Dank der Tatsache, dass die Schuldenberge nicht so hoch sind wie in anderen Ländern, wie beispielsweise in Italien, hat 200 Milliarden neue Schulden vorgesehen. Wir sind dabei, 55 Milliarden neue Schulden vorzusehen, um dafür zu sorgen, dass die Betriebe, dass die Wirtschaft, dass die Familien, dass das ganze System nicht zusammenbricht.
Deutschland hat eben Corona nicht so massiv getroffen, weil es schon von der Erfahrung Italiens profitieren konnte. Also, 200 Milliarden gegenüber 55 – da sieht man schon ein bisschen die Größenordnung, die notwendig wäre, dass wir selbst auch so viel investieren würden, um die Lage zu retten. Und kein Einziger hat europaweit Interesse daran, dass ein Land wie Italien zusammenbricht, dass die Wirtschaft in Italien versagt – selbst Deutschland nicht. Wer sollte dann die deutschen Produkte kaufen können? Wer könnte das irgendwie retten, wenn das System in Italien zusammenbrechen würde?
Das heißt, wir brauchen Mittel und wir brauchen Wege, womit wir in der Lage sind, uns selbst zu helfen. Mir geht es gar nicht darum, dass die Holländer, dass die Deutschen unsere Schulden bezahlen. Mir geht es darum, dass Instrumente vorgesehen werden, die uns ermöglichen, uns selbst zu helfen, selbst aus dieser schwierigen Lage, die für alle sehr schwierig ist, dass es uns eben ermöglicht rauszukommen.
Deutschlandfunk Kultur: Es gibt natürlich die Stimmen, Frau Garavini, die sagen, dass es ja bekanntlich wirtschaftliche Schwierigkeiten in Italien schon lange vor der Pandemie gegeben hat und man da in schweren Fahrwassern war; und dass – solange die Bürokratie, die Sie selber schon eben angesprochen und kritisiert haben – solange die Bürokratie nicht eine effektivere wird, solange Korruption nicht durchgreifend bekämpft werden kann, finanzielle Hilfen alleine auch nicht wirklich funktionieren können.
Garavini: Wir sind stark bemüht, die Probleme zu bekämpfen und sogar diese Notlage als Chance zu nutzen, um Probleme, die historisch das Land plagen, zu lösen. Aber jetzt muss man ganz objektiv sehen, dass die Lage – also, nicht nur für Italien, sondern eben für alle EU-Länder sehr problematisch ist. Und man soll jetzt nicht die alten Probleme als Ausrede nutzen, um Italien nicht zur Seite zu stehen oder anderen Ländern nicht zur Seite zu stehen. Denn das könnte katastrophale Folgen haben, nicht nur für uns, sondern auch europaweit.
Deutschlandfunk Kultur: Am 1. Juli, Frau Garavini, wird Deutschland turnusgemäß die Ratspräsidentschaft in der EU übernehmen für ein halbes Jahr. Was erwarten Sie von uns, von den Deutschen?
Garavini: Ich hoffe, die deutsche Ratspräsidentschaft wird dazu beitragen, Europa zusammenzuführen und dazu beitragen, dass Europa sich als wichtiger Akteur begreift, um mitzuhelfen, die Wirtschaft in den einzelnen Ländern anzukurbeln, wodurch man deutlich macht, dass Europa an der Seite der Menschen steht. Das wäre ein wichtiger Beitrag gegen die Europafeindlichkeit in vielen Ländern, die sich in der Krise befinden.
"Jetzt umso mehr fühle ich mich als Europäerin"
Deutschlandfunk Kultur: Zum Schluss vielleicht noch eine ganz persönliche Frage: Wir haben darüber geredet, wie das Verhältnis Deutschland-Italien und das Verhältnis Italien-EU medial oder auch von politisch interessierter Seite aufgearbeitet wird. Wie sehen Sie es denn ganz persönlich? Wie empfinden Sie das deutsch-italienische Verhältnis? Und wie sehr sind Sie nach all dem, was jetzt passiert ist und noch passieren wird, von der europäischen Idee überzeugt?
Garavini: Ich denke, die Pandemie hat uns gezeigt, wie sehr wir voneinander abhängig sind, aber gleichzeitig auch, wie sehr wir voneinander profitieren können. Kein Land – beispielsweise Italien, aber auch andere Länder – hätte ein so starkes Investitionsvermögen, um die Krise zu überwinden, wenn es Europa nicht gäbe. Jetzt umso mehr fühle ich mich als Europäerin. Und ich hoffe, selbst diese Phase der Schwierigkeiten zwischen Italien und Deutschland werden wir schon überwinden, aber jeder muss in der Tat daran arbeiten, auch als Einzelner.
Deutschlandfunk Kultur: Sie fühlen sich also weder von den Nachbarn im Norden, noch von der Union als Italienerin im Stich gelassen?
Garavini: Nein, ganz im Gegenteil. Ich bin Europa sehr dankbar. Ich bin den deutschen Kollegen sehr dankbar, die sich auch in diesen schwierigen Tagen dafür eingesetzt haben, dass Europa doch Maßnahmen trifft, um solche Länder wie Italien noch mehr zu unterstützen. Selbst der deutsche Finanzminister Scholz beispielsweise hat sich stark dafür eingesetzt, dass solche Maßnahmen ergriffen werden, die wir eben genannt haben. Und ich denke, genau die jetzige Schwierigkeit, genau die jetzige Zeit fordert vor allem Solidarität. Und es ist positiv, dass es immer noch viele institutionelle Politiker gibt und Institutionen gibt, die sich dafür einsetzen.