Ivan Krastev, "Europadämmerung"
Essay
Suhrkamp, 2017
140 Seiten, 14 Euro
Eine wichtige Analyse der Krise Europas
Die meisten EU-Regierungen können dem Dilemma von Globalisierung und gleichzeitiger nationaler Souveränität nicht entrinnen. Für den Autor Ivan Krastev ist dies eine Hauptursache für die Krise der Demokratie. Sein Essay "Europadämmerung" sei eine erhellende Analyse, meint unser Kritiker.
"Das Ende ist sowohl unvermeidlich als auch unbeabsichtigt." Diese Erkenntnis aus dem schleichenden Zerfall multiethnischer Großreiche, wie dem Habsburger Vielvölkerstaat nach Ende des ersten Weltkriegs oder dem Zusammenbruch der Sowjetunion, prägt auch den Blick auf das Europa von Ivan Krastev, einem der führenden politischen Intellektuellen Osteuropas.
Erlebt nicht Europa derzeit auch einen solchen Moment, in dem die EU geradezu schlafwandlerisch – eben unbeabsichtigt und unvermeidlich – zerfällt? Flüchtlingskrise, unbewältigte Euro-Krise und vor allem eine von Populisten benutzte Krise der Demokratie besonders in Osteuropa seien die untrüglichen Zeichen für eine solche Zerfallserscheinung Europas.
Die Funktionsfähigkeit der Demokratie leidet
Eine Ursache für die Krise der Demokratie in der EU macht Krastev darin aus, dass die meisten EU-Regierungen dem Dilemma von Globalisierung und gleichzeitiger nationaler Souveränität nicht entrinnen. So sind sie zwar für freien und globalen Handel; sie möchten dann aber gleichzeitig in Krisen wieder zu einer nationalen Kontrolle der Wirtschaft zurückkehren.
Darunter leidet am Ende die Funktionsfähigkeit der Demokratie in Europa. Sie löst in den Augen der Bürger deren Probleme nicht. Das Beispiel Griechenlands zeige, wie der Wähler zwar Regierungen auswechseln kann, aber nicht die Macht hat, die viel schädlichere Wirtschaftspolitik zuändern. Denn die hänge von makroökonomischen Entscheidungen ab, wie Haushaltsdefizit und Staatsschuldenquote, die durch Brüssel faktisch dem Bereich des griechischen Wählers entzogen sei.
Das mitteleuropäische Paradoxon
Die Wende zu einer illiberalen Demokratie in Osteuropa, in Polen und in Ungarn, erklärt Krastev mit einem "mitteleuropäischen Paradoxon". Die EU wird von diesen Regierungen und ihren Wählern als ein politisches und soziales Sicherheitsnetz verstanden. Sie gehen davon aus, dass Brüssel ihre verantwortungslosen politischen Parteien und Politiker schon bremsen werde. Sie unterstützen dann aus Wut und Enttäuschung eine politische Elite, der es an echtem Engagement für liberale Werte mangelt.
Die Wut osteuropäischer Wähler speist sich aus einer europaweiten Frustration: an der Demokratie und ihren Eliten. In den Augen dieser Wähler sind Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und politischer Kompromiss für die Eliten nur ein Vorwand, den Willen der Mehrheit nicht umzusetzen. Insofern verdeutlicht Krastev in seinem Essay ein europaweites Phänomen rechtspopulistischer Demokratiekritik, das nur in Osteuropa seine besondere Zuspitzung erfährt.
Ausrede der politischen Elite
Politischer Liberalismus, der den Wertekanon der EU einst prägte, ist so als Ausrede der politischen Elite verkommen, den "wahren" Volkswillen zu ignorieren, so Krastev. Seine pessimistische Beschreibung der politischen Krise vor allem Osteuropas, dessen Stimme im paneuropäischen Demokratiediskurs zu oft vernachlässigt wird, ist ein wichtiger Beitrag zur gesamteuropäischen Krisenanalyse. Sie lässt einen nachdenklichen Leser zurück, der nach Auswegen fragt.