Ivan Krastev/Stephen Holmes: "Das Licht, das erlosch"
Ullstein, Berlin 2019
368 Seiten, 26 Euro
Warum der Liberalismus nicht mehr als Vorbild erstrahlt
06:44 Minuten
Ist der liberale Westen am Ende? Zwei Intellektuelle von beiden Seiten des früheren Eisernen Vorhangs legen eine verblüffende Analyse vor: Fühlt sich Osteuropa gedemütigt, gerade weil Westeuropa immer ein strahlendes Vorbild war?
Der Liberalismus galt lange als strahlendes Vorbild für postkommunistische Länder, die nach 1989 nach Politikmodellen suchten, an denen sie sich orientieren konnten. Damit ist es jetzt vorbei. Das Licht ist erloschen, zumindest nach Ansicht der Autoren Krastev und Holmes, die auf zwei verschiedenen Seiten des eisernen Vorhangs geboren wurden. Von diesen unterschiedlichen Perspektiven ausgehend, haben sie eine Erklärung dafür entwickelt, warum autoritäre Systeme überall auf dem Vormarsch sind.
Die zentrale Idee ihres Buches ist, dass Länder wie Ungarn und Polen seit 1989 versucht hätten, das westliche Modell des Liberalismus zu kopieren. Deutschland hatte ja gezeigt, dass das funktionieren kann: es galt lange quasi als Vorzeige-Beispiel, als Beleg dafür, dass das Supermodell des Liberalismus sich überall umsetzen lässt.
Dieses Nachahmen der anderen sei aber auf Dauer nicht attraktiv. Die Rolle, immer nur eine schlechte Kopie zu sein, beschreiben Krastev und Holmes als demütigend: Wenn das Original subjektiv nie wirklich erreicht werden kann und die westlichen, liberalen Länder quasi von oben herab den anderen den Weg weisen.
Osteuropa als ewiger Zweiter
Bei vielen verschiedenen Erklärungsversuchen für die populistischen und autoritären Entwicklungen unserer Zeit, scheint es oft, als ob ein Faktor beleuchtet würde, während alle anderen Ursachen im Dunkeln bleiben. Anders ist es bei diesem Buch. Es beansprucht nicht, die Abkehr vom Liberalismus in Gänze zu erklären und doch überzeugt es durch eine klare Theorie, die mehr Erklärungspotential hat als das übliche Stochern im Dunkeln.
Die Autoren zeigen, dass das Imitieren und Imitiert-Werden vielen politischen Situation zugrunde liegt. Sie schälen die oberflächlicheren Machtspiele ab und legen eine brodelnde Dynamik offen, bei der man sich wundern kann, dass sie nicht vorher zahlreichen Denkern aufgefallen ist. Auch wenn wenig Zahlen und Studien auftauchen, schaffen es die Autoren durch Verweise auf Reden und historische Zusammenhänge Belege für ihre Theorie zu finden, die scheinbar universell anwendbar ist. Ein unverzichtbarer Denkanstoß.
Neben Ungarn und Polen geht es in ihrem Buch auch um Russland und China. In allen diesen Ländern finden die Autoren Spielarten des Moments des Imitierens. So sei Russland unter Putin dazu übergegangen, Nachahmung als Vergeltung zu betreiben: die eigene aggressive Geopolitik mit den Interventionen der USA zu rechtfertigen.
Die Heuchelei des Westens, der vorgibt, sein beliebtes System zu verbreiten aber eigentlich geopolitische Interessen verfolgt, ist den Autoren zufolge so etwas wie eine Obsession von Putin.
Die USA wollen kein Vorbild mehr sein
Mit dieser Heuchelei sei es jetzt vorbei. Das Zeitalter der Nachahmung liege hinter uns. Und das auch durch einen radikalen Bruch mit dieser Logik von Seiten des Westens. Denn unter Trump müssten die USA keine "strahlende Stadt auf dem Hügel" mehr sein. "Führen durch Vorbild" sei für Trump reine Zeitverschwendung, schreiben die Autoren.
Aber ist es nun wirklich aus und vorbei mit dem Liberalismus? Auch in Osteuropa gibt es Beispiele, die zeigen, dass der Liberalismus noch nicht gänzlich seinen Reiz verloren hat, wie die Wahl der sozialliberalen Politikerin Zuzana Čaputová in der Slowakei.
Das Buch offenbart das riesige intellektuelle Hinterland der beiden Autoren und überzeugt durch ein konsequentes Narrativ mit einer guten Idee, die viel erklärt und das für sehr unterschiedliche Länder. Das überraschend optimistische Ende lässt dann doch noch hoffen, dass das Licht des Liberalismus nicht für alle Zeit erloschen ist.