Ivana Sajko: "Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod"
© Voland & Quist
Von Kroatiens Küste nach Berlin
05:47 Minuten
Ivana Sajko
Jeder Aufbruch ist ein kleiner TodVoland & Quist, Berlin 2022180 Seiten
24,00 Euro
Ein Autor reist durch sein Land. Es ist von Flucht und Vertreibung gezeichnet, genauso wie er selbst. Die Kroatin Ivana Sajko erzählt – hochpolitisch und tief privat – von Biografien, die über europäische Landesgrenzen hinausgehen.
Ivana Sajko interessiert sich nicht für Nebensachen. Ihr Thema ist die existenzielle Not. Ohne Umschweife beschreibt sie in ihren Büchern die Folgen von Flucht und Vertreibung, die großen Dramen des 20. und 21. Jahrhunderts.
Das Gefühl, am Abgrund zu leben, ist in ihren Romanen zu einem Dauerzustand geworden. Und die Erinnerungen an einen gefahrlosen Alltag verblassen: „Ich habe vergessen, wie man reist, … verzeiht, … wie lange man stehen und einfach zurückschauen kann … wann die Tränen kommen …“.
Verlorene Heimat, verlöschende Liebe
Ivana Sajko wurde 1975 in Zagreb geboren, hat Theaterstücke und Romane geschrieben und lebt in Berlin. Zwei Geschichten laufen in ihrem Werk parallel und sind ineinander verwoben: die einer verlöschenden Liebe und die uralte Geschichte vom Verlust der Heimat.
In Ivana Sajkos 2017 erschienenem „Liebesroman“, der mit dem Preis vom Haus der Kulturen der Welt ausgezeichnet wurde, beschäftigte sie das Schreiben selbst und die Unterordnung der Fiktion unter die Realität, neben der Unmöglichkeit der Liebe.
Politische Lebensreise durch Kroatien
Der Ich-Erzähler des neuen Romans “Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod“ ist ein Schriftsteller, der von einer kroatischen Küstenstadt im Zug nach Berlin unterwegs ist, vorbei an Peripherien, Lagerhallen und Ästen, in denen Plastiktüten wie Fledermäuse hängen.
Der Erzähler schreibt in Mäandern, in aufeinanderfolgenden Erzählschlingen und durchlebt – fahrend von A nach B – die Etappen einer politischen Lebensreise. Sie reicht vom ländlich-armen Kroatien, den politischen Umwälzungen und der Loslösung von Jugoslawien bis zum Balkankrieg in den frühen 90er-Jahren.
Wie in den Netzen der Fischer verfängt sich in den Erinnerungen kleines und sperriges Strandgut. Die Vergangenheit des Erzählers bindet Ivana Sajko als Bewusstseinsstrom in die vor- und zurückgespulte Biografie ein.
Europäische Biografien
Das eigentliche, alles Verbindende des Romans ist das Thema der Entfremdung. Fremd sein, ein Fremdling, den nichts bindet, der sich vielleicht deshalb in seine Tagebücher zurückzieht oder als weitere Fluchtmöglichkeit den eigenen Körper nutzt. Ivana Sajko nennt den Körper „die Hütte“. Der einzige Ort, an dem sich der Erzähler beheimatet fühlt.
Es ist ein Roman über die Geschichte Europas. Wenn man Europa als das übergeordnete Ganze betrachtet, und das tut die Autorin, dann ordnet sich der Tod der Eltern und der Tod der Liebe diesem großen Ganzen unter: Jeder Mensch sein eigenes Schicksal und seine persönlichen Erfahrungen mitgenommen über die Grenze und in das fremde Land mit seiner fremden Sprache.
Privat und hochpolitisch
Kroatien ist seit 2013 Mitglied der EU und führte am 1. Januar 2023 den Euro ein. Dieser dichte Text trifft unmittelbar auf unsere politische Gegenwart. Ivana Sajkos Roman ist allgemein politisch und tief privat. Er berührt mit archaischer Wucht die Grundmauern unserer heutigen, von Kriegen umstellten Existenz.