Ivy Pochoda: "Wonder Valley"
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth und Rudolf Hermstein
Ars Vivendi, Cadolzburg 2019
400 Seiten, 18 Euro
Nackt auf dem Highway
02:59 Minuten
Ein nackter Mann joggt durch den Berufsverkehr von L.A. – die Medien lassen nicht lange auf sich warten. Und auch ein Anwalt folgt dem Mann spontan. "Wonder Valley" erzählt von Menschen, die auf der Flucht sind – vor ihrem Leben und vor sich selbst.
Morgens, in Los Angeles, mitten im Berufsverkehr: Ein mehr oder minder nackter Mann, Jogger, sehr gut gebaut. Er läuft und läuft und läuft, durch den Stau, umkurvt die stehenden Autos im stockenden Verkehr auf der fünfspurigen Straße.
Die einen schimpfen ihm hinterher aus ihren Autos, andere feiern ihn, manche filmen, bald wird der Nackte ein Ereignis sein, in den sozialen Medien, schließlich auch in den Fernsehnachrichten. Und im Leben des einen oder anderen Menschen aus dem Stau. Dem von Tony zum Beispiel, einem verkrachten Anwalt aus der Vorstadt, der, einem Impuls folgend, seinen Mittelklassewagen stehen lässt und dem nackten Mann einfach folgt.
Ein Netzwerk von Lebensgeschichten
Dieser brillant geschriebene und dramatisierte Prolog ist der Kristallisationspunkt diverser Handlungsstränge, denen Ivy Pochoda in ihrem Roman "Wonder Valley" exzellent geplottet folgt. Ein Knotenpunkt in einem Netzwerk von Lebensgeschichten, die einander auf zwei zeitlichen Ebenen mal mehr, mal weniger dicht berühren und beeinflussen.
Pochoda erzählt von einem halben Dutzend "Helden" und "Heldinnen", die eines eint: Sie alle sind auf der Flucht, vor ihrem Leben, vor der Gesellschaft, vor sich selbst. Die meisten auch vor den Behörden. Allen voran die Studentin Britt, die vor einem Verbrechen wegläuft, von dem sie im Grunde weder weiß, ob sie es begangen hat – noch, ob es überhaupt eines war. Sie flieht auch vor der Schuld, die sie möglicherweise auf sich geladen hat. Ihre Sühne ist, Schlimmeres zu vermeiden.
Dazu müsste sie allerdings des Joggers habhaft werden, den wiederum auch andere suchen. Aber der nackte Mann ist längst über alle Berge, als sie die Nachrichten sieht – möglicherweise.
Filmisch erzählt
"Wonder Valley" ist Ivy Pochodas dritter Roman; der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde. Die Geschichte wird aus der Topographie der Handlungsorte entwickelt; die Autorin erzählt im Breitwandformat mit vielen filmischen Anleihen, die aus Helicopter- oder Drohnenperspektive aufs Geschehen schauen; sehr elegant changiert sie dabei zwischen Distanz und Nähe, und es ist erstaunlich, wie nahe sie ihren Protagonisten und Protagonistinnen mit ihrem Zoom zu kommen vermag.
Ob "Wonder Valley" ein regelrechter Krimi ist oder nicht, darüber kann man trefflich streiten. Ivy Pochoda operiert dort, wo es am Interessantesten ist, in den Grenzgefilden des Genres. Da, wo Fälle letztlich vielleicht nicht immer ordnungsgemäß aufgelöst werden, dafür aber jede Menge über Täter und Opfer zu erfahren ist: Über die Prägungen und Konsequenzen, die mit einem Verbrechen, auch einem vermeintlichen, ein halbes Leben lang einher gehen können – oder auch nicht.
Ob "Wonder Valley" ein regelrechter Krimi ist oder nicht, darüber kann man trefflich streiten. Ivy Pochoda operiert dort, wo es am Interessantesten ist, in den Grenzgefilden des Genres. Da, wo Fälle letztlich vielleicht nicht immer ordnungsgemäß aufgelöst werden, dafür aber jede Menge über Täter und Opfer zu erfahren ist: Über die Prägungen und Konsequenzen, die mit einem Verbrechen, auch einem vermeintlichen, ein halbes Leben lang einher gehen können – oder auch nicht.
Erstsendedatum: 21.06.2019