José F. A. Oliver und Mikael Vogel: "zum Bleiben, wie zum Wandern – Hölderlin, theurer Freund. 20 Gedichte und ein verzweifeltes Lied"
Schiler & Mücke, Frankfurt 2020, 64 Seiten, 15 Euro.
Dichterverehrung und Zeitkritik
07:25 Minuten
Auf der Folie des Grenzgängers zwischen Klassik und Romantik loten die Lyriker José F. A. Oliver und Mikael Vogel den bedenklichen Zustand eines innerlich erschütterten Europas aus. Poesie wird für sie zum Gradmesser für Widersprüche und Widerstand.
Hölderlin lebt in dem von ihm selbst einst so geschätzten Format des Gesprächs. Geführt wird es anlässlich seines 250. Geburtstags von den Lyrikern José F. A. Oliver und Mikael Vogel. Was aus deren Annäherungen hervorgeht, kann man als einen poetischen Einblick in Leben und Werk eines Träumers, Außenseiters und vor allem eines unglücklich Liebenden bezeichnen.
Schlaglichtartig treffen wir in den 20 Miniaturen der beiden Gegenwartslyriker auf Brief- und Gedichtzitate, mitunter zu Hölderlins gescheiterter Beziehung zu Susette Gontard, zu seinen Reisen, seiner Vaterlandsliebe sowie seinem Schreiben.
Moderne neue Denkräume
Es ist der geografische und gedanklich unstete Dichter, der in seinen Texten zwischen den Sphären und Welten springt: Wie kein anderer Schriftsteller seiner Epoche brachte er in seinen Texten antike Götter mit christlichen Erlösungsfantasien zusammen, um am Beginn einer ihm bedrohlich erscheinenden Moderne neue Denkräume zu erschaffen.
Ob Ist- und Soll-Zustand, Vergangenheit und Zukunft: Hölderlin löste statische Gegensätze auf und entwickelte eine kunstvolle Dialektik, deren Bewegung sich auch bei Olivers und Vogels Texten wiederfindet. Mal bekundet ihr lyrisches Ich, sich
dorf-
gebürtig / auf
dem weg
ins nie-
mandsland
zu begeben, mal "zuflucht & / flüchtiger w:erden"
gebürtig / auf
dem weg
ins nie-
mandsland
zu begeben, mal "zuflucht & / flüchtiger w:erden"
Immerzu mäandert das Textsubjekt zwischen der Heimatsehnsucht auf der einen und dem Bewusstsein der Entwurzelung auf der anderen Seite. Sicherlich mag sich in der Auseinandersetzung mit der existenziellen Ortlosigkeit Hölderlins auch die Biografie des andalusischstämmigen und im Schwarzwald lebenden Oliver bemerkbar machen. Doch der Band verhandelt weitaus mehr als autobiografische Spiegelungen.
Eine von Verwerfungen erschütterte Gesellschaft
Vielmehr hinterfragt er grundsätzlich das oft beschworene Ideal freier, abendländischer Demokratien. In Paradoxa und Antithesen, Wort- und Satzabbrüchen offenbaren sich die Risse einer offenen, zunehmend von inneren Verwerfungen erschütterten Gesellschaft. Im Zentrum der Gedichte steht die Problematisierung von "hassbotschaften", historischen, sich nunmehr wiederholenden Ausgrenzungsmechanismen sowie die Strategien rechtspopulistischer "Verniedlicher" und Geschichtsleugner.
Um die damit verbundene gesamtgesellschaftliche Wertekrise zu verbildlichen, bedienen sich die Lyriker häufig des Motivfelds der Verletzung. Alles ist "vernarbt" und "w:und / die offizielle politik". Wen verwundert da schon, dass es dem progressiven Weltenbürger "Hölderlin in der Europa-Achterbahn schlecht [wird]"?
Gedichteschreiben ist wie eine Boxkarriere
Erinnerung wachzuhalten, erweist sich als das zentrale Anliegen dieser Gedichte voller Elan und Spannung. Oliver und Vogel entwickeln treffende Bilder für das Wiederentdecken scheinbar verlorener oder vergessener Bilder und Orte. "Den Lethe", den mythischen Fluss des Vergessens, "ge- / Funden inmitten der Schönheit der Risse", heißt es daher in einem Poem.
Sichtlich sind die beiden Gegenwartslyriker vom "Hölderlinausschlag" infiziert. Allen voran dessen starker, schon revolutionärer Anspruch an die Poesie wirkt bei ihnen nach. Sie dient ihnen als Mittel zur Sichtbarmachung, Anklage und zur Selbstbehauptung. "Gedichteschreiben ist wie eine Boxkarriere".
Denn wer Lyrik erzeugt oder liest, so die Botschaft dieser gelingenden Komposition aus Dichterverehrung und Zeitkritik, findet immer einen Halt in Worten. Sie vermitteln die Kraft zum Standpunkt wie gleichsam zum Widerstand.