Jacques Ellul: "Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird"
Aus dem Französischen von Christian Drießen
Westend Verlag, Frankfurt a.M. 2021
450 Seiten, 28 Euro
Jacques Elluls „Propaganda“
Propaganda gibt es auch in Demokratien, schreibt Jacques Ellul 1962 - etwa im Fernsehen. Auch in Social-Media-Zeiten ist sein Buch aber ein guter Ratgeber, meint Manuel Gogos. © Getty Images / iStock
Eine Technik, die unser Leben durchdringt
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Vor über 60 Jahren schrieb Jacques Ellul seine Studie „Propaganda“. Er untersucht darin die Entstehung der öffentlichen Meinung im Zeitalter der Massenmedien. Nun ist das Buch neu erschienen. Was sagt es uns heute?
„Politische Umstände waren es, die die Entwicklung der Propaganda bewirkten. Die Propaganda gestaltete sich immer perfekter, wurde subtiler, komplexer und vielförmiger.“
Die Geschichte der Propaganda ist komplex. Der französische Soziologe Jacques Ellul sucht sie in seinem Klassiker „Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird“ von 1962 nachzuzeichnen. Und die Entwicklung, wie Propaganda im 20. Jahrhundert zu einer ausgefeilten Technik der Manipulation wurde: „Ohne die Entdeckungen, die Wissenschaftler in den letzten 50 Jahren etwa in der Soziologie oder Psychologie gemacht haben, gäbe es keine Propaganda.“
Ellul verarbeitet die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs
Bei moderner Propaganda denkt man zunächst und zumeist an den Personenkult um Stalin oder die „Wirkmacht“ des NS-Architekten Albert Speer – eine Art „Schwindelgefühl der Macht“. Tatsächlich besuchte Ellul in den 1930er-Jahren Deutschland, bei einem nationalsozialistischen Gruppentreffen studierte er die einigende Kraft der Propaganda am lebenden Objekt. Später arbeitete er als Dozent für Rechtswissenschaft an verschiedenen französischen Universitäten. 1940 wurde er vom Vichy-Regime entlassen, danach war er in der Résistance aktiv.
In seinem Buch arbeitet er auch diese persönlichen Erfahrungen der Kriegszeit auf: „Die stalinistische Propaganda basierte zu einem Großteil auf Pawlows Theorie der Reflexkonditionierung; die nationalsozialistische Propaganda beruhte in hohem Maße auf Freuds Theorie der Verdrängung und der Libido.“
Den ganzen Menschen beeinflussen
Ellul sucht Kategorien, um das Phänomen Propaganda schärfer zu fassen. Er unterscheidet zwischen „vertikaler“ und „horizontaler“ Propaganda, Propaganda könne „offensichtlich“ oder auch „unterschwellig“ sein: Über 90 Prozent der Filme, die der NS-Propagandaminister Joseph Goebbels produzieren ließ, waren Familiendramen und rührselige Love Storys.
Laut Elluls Analyse ist Propaganda aber nicht bloß das wichtigste Werkzeug totalitärer Herrschaft: Propaganda ist selbst „totalitär“: „Es geht darum, den ganzen und alle Menschen zu erreichen und einzubeziehen. Propaganda versucht, den Menschen durch alle möglichen Zugänge zu erfassen, sowohl durch Gefühle als auch durch Vorstellungen, durch Einwirken auf seine Absichten und seine Bedürfnisse, durch Zugriff auf das Bewusstsein und das Unbewusste, durch Eindringen auf sein privates wie öffentliches Leben.“
Propaganda gibt es auch in Demokratien
Nicht nur in totalitären Staaten, überall sieht Ellul Propaganda am Werk: im Krieg wie im Frieden, in der Politik wie in der Wirtschaft, im Kapitalismus wie im Kommunismus. Selbst in einer Demokratie sei Propaganda notwendig. Etwa in Deutschland nach der Zeit des Nationalsozialismus: „Erziehung hier ist ausdrücklich demokratische Erziehung, das heißt, den Individuen wird beigebracht, was Handeln ist und was es bedeutet, sich als Mitglied einer Demokratie zu verhalten. Es ist dies eine Erziehung zum Staatsbürger.“
Es mag überraschen, dass laut Ellul auch Demokratien nicht frei von Propaganda sind. Dabei beweist die Frage allein, wie erfolgreich Propaganda in westlichen Demokratien bis heute wirksam ist: Man spricht von „Public Relations“ und meint dabei, selbst außerhalb jeder Propaganda zu stehen. Dabei existierte das erste moderne Propagandabüro nicht in Nazideutschland, sondern in England. Im Ersten Weltkrieg gegründet, war die schärfste Waffe des „Wellington House“ die Geheimhaltung der eigenen Existenz.
Entsprechend sind nach Ellul auch Demokratien kritisch zu sehen, immer da, wo sie ihr Wählervolk in die bloße Illusion hüllen, gut informiert zu sein: „Denn offenkundig besteht ein Widerspruch zwischen den Prinzipien der Demokratie, insbesondere ihrem Menschenbild, und den propagandistischen Verfahren.“
Ein Ratgeber für die Gegenwart
Elluls Buch ist umfangreich, in späteren Jahren wurden immer weitere Kapitel hinzugefügt. Nicht jedes davon ist heute von gleichem Interesse. So wirkt etwa sein langer Exkurs über Maos Kulturrevolution etwas wie aus der Zeit gefallen. Aber darin ist er ganz gegenwärtig: Ellul nähert sich dem Phänomen der Propaganda von der Seite der Technik an, dem Aufstieg der Massenmedien, von Radio und Film.
Auch wenn Ellul sein Buch Anfang der 1960er-Jahre abfasste, als das Fernsehen gerade erst zum Leitmedium aufstieg: Gerade in unserer heutigen Erregungs- und Empörungskultur, in Zeiten von
Social Media
, wo Propaganda Perception-Management genannt wird, kann sein Buch zu einem wichtigen Ratgeber werden.
„Je mehr der Einzelne im Bann von Propaganda steht, desto sensibler ist er, nicht für deren Inhalt, sondern für den Anstoß, den sie gibt, für die Erregung, die er dadurch erfährt. Er ist nur, was er durch Propaganda lernt. Er bildet nichts als einen Kanal, in den die Wahrheiten der Propaganda eingeleitet werden und der sie als Überzeugung wieder abfließen lässt.“
Propaganda sehen lernen
Elluls Buch steht in der Tradition großer Klassiker wie „Propaganda“ von Edward Bernays oder „Die öffentliche Meinung“ von Walter Lippmann. Obschon auch diese Autoren eine gewisse Neigung zeigen, überall Propaganda sehen, und den Begriff damit fast entgrenzen: Die Lektüre ihrer Bücher ist essenziell, um Propaganda überhaupt erst sehen zu lernen.
Auch das ist von Ellul zu lernen: Propaganda ist nur eine Technik, weder gut noch böse. Und wir, die Adressaten, haben selbst eine Verantwortung, uns bewusst zu machen, wie Propaganda unser tägliches Leben durchdringt. Nur so kann man ihr auch widerstehen.