Jagoda Marinić über die Europawahl

"Deutschland hat ein besseres Ergebnis geliefert als gedacht"

10:06 Minuten
Die Schriftstellerin Jagoda Marinić gestikuliert beim Reden
Die Schriftstellerin Jagoda Marinić © imago/ZUMA Press/Sachelle Babbar
Jagoda Marinić im Gespräch mit Dieter Kassel |
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Rechtsgerichtete Parteien haben bei der Europawahl zugelegt, wenn auch nicht in dem Maße, wie von vielen zuvor erwartet. Die Autorin Jagoda Marinić blickt mit Optimismus auf das Ergebnis – und auf die Jugend. "Beunruhigende Tendenzen" gebe es dennoch.
Die Schriftstellerin Jagoda Marinić kann dem Ausgang der Europawahl viel Positives abgewinnen. Nachdem viele vorher von einem Rechtsruck und einer Schicksalwahl gesprochen hatten, liegt aus Marinićs Sicht nun ein Ergebnis vor, "bei dem das Glas sehr voll" sei.
"Es ist in Deutschland ein neuer Politikstil möglich, eine optimistischere Ansprache, ein Weg-von-diesen-alten-Gräben hin zu neuen Lösungen, neuen Angeboten, neuen Diskursen."
Zu verdanken sei das der Jugend: "Das ist wirklich eine großartige Generation, die hier herangewachsen ist." Sie habe sich "maximal politisiert" und gehe – wie früher die 68er-Generation – wieder auf die Straße. Dass die AfD im Osten Deutschlands stärkste beziehungsweise zweitstärkste Kraft geworden ist, führt Marinić zum Teil auf die Abwanderung junger Leute zurück:
"Wenn die Menschen von der Jugend verlassen werden, dann gibt es natürlich auch keine Impulse."

Europas Probleme haben sich nicht in Luft aufgelöst

Es sei eine "beunruhigende Vorstellung für Deutschland", dass die AfD die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen gewinnen könnte, findet die Schriftstellerin. Trotzdem glaubt Marinić:
"Wir sind an einem Punkt, an dem Deutschland insgesamt für diese Europawahl ein wesentlich besseres Ergebnis abgeliefert hat als man dachte. Ich denke, wenn man das nicht falsch liest, sind wir eher an einem Moment, wo man sagen kann: Wir müssen jetzt sehr genau hinsehen, was wir zu tun haben in dem Land. Ja, es gibt beunruhigende Tendenzen, aber die sind eben nicht nur in Sachsen, die sind auch in Italien, die sind auch in Polen, die sind auch in Ungarn, die sind in Großbritannien, die sind in Frankreich. Also Europas Probleme haben sich nicht durch diese Wahl in Luft aufgelöst, aber es zeigt sich, dass sie handhabbarer sind."
(bth)

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Die konservativen Volksparteien, die Sozialdemokraten, die Liberalen, die Grünen und einige andere verfolgen natürlich unterschiedliche Ziele im EU-Parlament. Das wird auch in Zukunft so sein, das ist der Sinn der demokratischen Sache, aber sie alle verfolgen europäische Ziele.
Größer geworden ist nach dieser EU-Wahl allerdings die Anzahl der Abgeordneten, die das nicht tun, die Parteien angehören, die – so sagen die das inzwischen selbst ja alle – "europakritisch" sind. Einige aber haben vorher auch noch ganz offen gesagt vor einigen Jahren, sie seien Gegner der EU.
Über den Vormarsch der Populisten bei dieser Wahl wollen wir jetzt mit Jadoga Marinic reden, sie ist Schriftstellerin, Kolumnistin, unter anderem bei der "Süddeutschen Zeitung" und der "taz". Schönen guten Morgen, Frau Marinic!
Jagoda Marinic: Einen schönen guten Morgen!
Kassel: Stellt sich fast diese typisch deutsche Frage jetzt bei uns beiden, ist das Glas halb voll oder halb leer? Die rechten Parteien haben nicht so viele Stimmen bekommen, wie es viele befürchtet haben, aber sie haben doch zugelegt. Wie sehen Sie es? Ist das für Sie jetzt unter dem Strich eher ein erfreuliches Wahlergebnis, was die Rechten angeht oder nicht?
Marinic: Das neue typisch deutsch ist auf jeden Fall optimistisch, wie man sehen kann. Ich denke, da hat sich etwas gezeigt, was sich bei den Bayernwahlen letztes Jahr auch schon angedeutet hat mit Katharina Schulze: Es ist eigentlich in Deutschland ein neuer Politikstil möglich, eine optimistischere Ansprache, ein Weg von diesen alten Gräben hin zu neuen Lösungen, neuen Angeboten, neuen Diskursen.
Und natürlich finde ich, nach dem, wie wir gebibbert haben und Schicksalswahl und all diese Fragen, die wir uns gestellt haben, wohin führt das, ist das auf jeden Fall ein Ergebnis, bei dem das Glas sehr voll ist.

Eine großartige Generation ist herangewachsen

Kassel: Haben wir dieses Ergebnis in Deutschland, vielleicht sogar in ganz Europa, vor allen Dingen junge Wählerinnen und Wählern zu verdanken?
Marinic: Das ist wirklich eine großartige Generation, die hier herangewachsen ist. Das hat eine US-amerikanische Sängerin damals gesagt, dass sie jetzt die Fackel weitergeben können, diese 60er-Jahre-Bewegungen – Joan Baez war das.
Ich sehe da eine Generation, die sich maximal politisiert hat, die wirklich wieder auf die Straßen geht und der wir viel zu verdanken haben. Ich habe das 2018 im November schon geschrieben in der "New York Times International", dass die große Schere in der deutschen Gesellschaft die zwischen Jung und Alt ist, weil erstens die junge Generation für diese alten Rassismen der alten Nachkriegsgeneration nicht zu haben ist und weil sie zweitens für eine Welt kämpft, in der sie nachhaltig leben kann, in der sie wirklich andere Diskurse führen kann, in der sie nicht mehr zwischen Deutschen und Nichtdeutschen unterscheiden. Für diese Generation stehen wirklich andere Sachen auf der Agenda.
EU-Flaggen bei der Demonstration 'Ein Europa für alle - Deine Stimme gegen den Nationalismus' in Köln vor der Europawahl
"Ich sehe da eine Generation, die sich maximal politisiert hat".© Geisler-Fotopress / picture alliance
Kassel: Aber es gibt auch noch die anderen. Ich finde, man darf das nicht vergessen heute Morgen: In Sachsen und in Brandenburg ist die AfD die stärkste Partei geworden bei diesen EU-Wahlen. In allen ostdeutschen Bundesländern hat sie deutlich zugelegt und ist zweistellig.
Ist das eine Spaltung vielleicht doch nicht Ost-West, sondern weil da ja auch zum Teil tatsächlich weniger junge Menschen wohnen als in anderen Teilen? Ist das eine Jung-Alt-Spaltung, ist das eine Stadt-Land-Spaltung vielleicht auch, die wir da sehen?
Marinic: Ich denke, eine Mischung aus beidem. Es ist jung-alt, weil natürlich die jungen Menschen gegangen sind. Es ist auch Land, und zwar verlassenes Land und nicht entwickeltes Land. Da zeigen sich viele Probleme, und ich denke, wir dürfen jetzt bloß nicht wieder anfangen irgendwie zu belehren und zu schauen. Es gibt, glaube ich, Strukturprobleme in diesem Land, und die haben etwas zu tun damit, wie auch die Bürgerinnen und Bürger Kapazitäten haben, sich mit Europa, Zukunft und all diesen Fragen auseinanderzusetzen.
Wenn die Menschen von der Jugend verlassen werden, dann gibt es da natürlich auch keine Impulse. Ja, da ist ein Problem, aber ich denke, es ist handhabbarer als bei den letzten Wahlen, als das Problem auch ein baden-württembergisches und bayrisches war.

Stärke der AfD im Osten ist beunruhigend

Kassel: Ja, aber trotzdem, wenn wir jetzt mal gucken – also ich sage das jetzt nicht, um Sie zu ärgern, sondern weil ich persönlich beunruhigt bin –, in diesem Herbst sind ja in Brandenburg und Sachsen und auch in Thüringen Landtagswahlen, und wenn man sieht, in Sachsen fast 30 Prozent AfD … Gut, man kann das nicht übertragen, das eine Wahlergebnis auf die kommenden Wahlen, aber das ist doch eine beunruhigende Vorstellung, dass wir vielleicht Bundesländer haben, wo die AfD die stärkste Partei ist.
Marinic: Das ist eine beunruhigende Vorstellung für Deutschland, und trotzdem glaube ich, wir sind an dem Punkt, in dem Deutschland insgesamt für diese Europawahlen ein wesentlich besseres Ergebnis abgeliefert hat als man dachte. Ich denke, wir sind, wenn man das jetzt nicht falsch liest, eher an einem Moment, wo man sagen kann, wir müssen jetzt sehr genau hinsehen, was wir zu tun haben in dem Land.
Ja, es gibt beunruhigende Tendenzen, aber die sind eben nicht nur in Sachsen, die sind auch in Italien, die sind auch in Polen, die sind auch in Ungarn, die sind in Großbritannien, die sind in Frankreich. Also Europas Probleme haben sich nicht durch diese Wahl in Luft aufgelöst, aber es zeigt sich, dass sie handhabbarer sind.
Kassel: Aber gerade wenn wir uns mal angucken, drei der Länder, die Sie gerade genannt haben, sind große wichtige europäische Länder, bei denen die Rechtspopulisten gewonnen haben diese Wahlen. Das haben sie in Italien getan, das hat das Rassemblement National in Frankreich getan und die neue Brexit-Partei in Großbritannien. Einerseits würde ich sagen, in allen drei Fällen hat das innenpolitische Gründe, aber andererseits werden die Vertreter dieser Parteien jetzt auch eine gewisse Macht im EU-Parlament ja haben in Zukunft.

Lehren aus den letzten Jahren ziehen

Marinic: Sie hatten ja auch schon Macht, und sie werden Macht haben, und sie haben eine ganz klare Agenda. Also auch Herr Meuthen hat gestern Nacht noch gesagt, sie wollen einen Politikwechsel. Natürlich wird es jetzt zu befragen sein, welcher genau das ist und wie dem zu begegnen wäre, wenn dem so sei.
Also der Rechtsruck in Europa – und das ist ja das Spannende – ist nicht nur das Problem Südosteuropas und auch nicht nur Nord-Süd-Gefälle, sondern es sind die unterschiedlichsten Länder betroffen. Das heißt, wir haben in dieser EU-Wahl auch zu studieren, was in den letzten Jahren schiefgegangen ist.
Ich meine, Griechenland steht vor Neuwahlen. Italien, Salvini hat nicht so hoch gewonnen, wie wir dachten, aber er hat hoch gewonnen. Das heißt, dass wir Italien damals im Stich gelassen haben, als die ersten Flüchtlinge in Lampedusa waren, das hat in Italien eine Bewegung ausgelöst, die sie bis jetzt nicht in den Griff bekommen.
Schulterschluss der europäischen Rechten: (v.l.) Geert Wilders, Matteo Salvini, Jörg Meuthen und Marine Le Pen im Mai 2019 in Mailand. 
Die europäische Rechte zeigte sich vor der EU-Wahl siegesgewiss, hier: (v.l.) Geert Wilders, Matteo Salvini, Jörg Meuthen und Marine Le Pen. © imago/Daniele Buffa
Wir haben Frankreich und Macron, also Macron hat Le Pen zwar eingedämmt – sie ist nicht gewachsen, sie ist sogar etwas schwächer geworden –, aber er konnte sie nicht besiegen. Da steht der Macron, der ständig Deutschland die Hand reicht, und hat es eben nicht geschafft. Das heißt, Deutschland wird gerade mit diesem Ergebnis auch europaweit verstehen und lernen müssen, wer ist eigentlich diese Führungsrolle, die man von Deutschland erwartet, auch ausfüllen kann in Europa.
Kassel: Nun sind es ja nicht nur Rechtspopulisten und vor allen Dingen nicht nur Rechtsradikale, die auch gewisse Zweifel an Europa haben. Wir haben in unserem Programm mit dem britischen Historiker Ian Kershaw gesprochen vor wenigen Tagen, und der hat gesagt, um diese Zustimmung generell zu Europa wieder zu erhöhen, brauche Europa neue Ziele und neue Werte. Ich persönlich würde ja sagen, Ziele ja, Werte bin ich mir nicht so sicher. Wie sehen Sie es?

Laschet und Gabriel: Keine Antwort auf Zukunftsfragen

Marinic: Ich bin da sehr bei Ihnen. Ich habe mir das Gespräch auch noch mal angehört. Es ist ein wichtiges Gespräch für uns, weil wir verstehen müssen, dass es nicht reicht zu sagen, wir haben hier ein Friedensprojekt geerbt bekommen, wir hatten wunderbare Vorfahren, die haben uns hier alles in die Wiege gelegt, und das müssen wir verwalten und bewahren. Darum kann es einfach nicht gehen.
Gerade die nächsten Generationen, auch die brauchen einen neuen Kampf, und sie haben den jetzt im Klima gefunden. Ich denke, Europa muss tatsächlich sich fragen – und dahingehend war diese Wahl eigentlich nicht sehr europäisch –, welche Rolle es in dieser Welt einnehmen kann und soll. Es ist ein wichtiger Kontinent politisch.
Wir haben uns schon in der EU-Wahl viel auf nationale Fragen beschränkt, aber Ian Kershaw fragt ja auch, wohin soll Europa in den nächsten Jahren führen – in eine Balance zwischen China, USA, Indien, in einer Welt, in der autoritäre Herrscher mächtiger werden, in der liberale Staaten plötzlich nicht mehr, wie die USA, die Führungsrolle für die Demokratien übernehmen möchten.
Im Vordergrund Schülerinnen und Schüler die einen großen Banner mit der Aufschrift "EU Wahl gleich Klimawahl" tragen. Im Hintergrund unzählige Schülerinnen und Schüler mit Transparenten.
Die junge Generation hat vor allem ein Thema: den Kampf gegen den Klimawandel.© picture allinace / dpa / Kay Nietfeld
Europa, gerade mit dieser jungen Generation, hat aber die Chance, vielleicht solche Lücken zu füllen. Also Obama hat ja damals sogar gesagt, dass jetzt einiges auf den Schultern von Merkel bleiben wird, und wir merken, dass das nicht so sein wird. Wir merken, dass es tatsächlich auf den Schultern dieser jungen Generation gelandet ist, die jetzt sagt, findet doch bitte mal zukunftsfähige Konzepte, und die Politik muss endlich auch aufhören, nur in diesen alten Dualismen zu sprechen.
Also, man hat das auch gestern Abend bei Anne Will gesehen. Da sitzen Laschet und ein Gabriel, die haben wirklich keine Antwort mehr auf die Zukunftsfragen, die die nächste Generation beschäftigen. Sie halten das für eine Erschütterung, für einen Affront. Ich glaube, wenn man nach vorne gehen möchte in Europa, dann müssen wir schon über die nächsten Werte und über neue Werte auch reden.

Dieses Europa ist kein elitäres Projekt

Kassel: Ich bin da, um Ihre Formulierung jetzt mal zu wiederholen, wiederum ganz bei Ihnen, aber eines geht mir doch durch den Kopf: Wenn wir reden über diese Rolle Europas in der Welt, auch ein Gegengewicht zu den wirklich Politokraten und vieles andere, das sind ja aber wieder eher diese Elitegedanken, und viele Leute in Europa – in meiner Erfahrung übrigens auch Jüngere – sagen, ja, aber ich habe immer so das Gefühl, abgesehen von Reisefreiheit und in vielen Ländern muss ich kein Geld mehr tauschen, habe ich nichts von Europa. Viele Leute sagen, ich sehe in Europa nicht, dass mir in sozialen Fragen geholfen wird. Ich sehe keine Gerechtigkeitsfortschritte. Glauben Sie, dass sich daran nach dieser Wahl was ändern wird?
Marinic: Also ich sehe das ganz anders als Sie, ich glaube eben überhaupt nicht, dass das ein Eliteproblem ist. Ich glaube im Gegenteil, dass die ganzen europäischen Probleme sich vor allen Dingen in der sozialen Frage zeigen.
Also die Länder, die jetzt nach rechts gehen oder gegangen sind, sind Länder, die massive wirtschaftliche Probleme in breiten Schichten der Bevölkerung haben. Großbritannien, der Rechtsruck, Sie sehen doch jetzt, wie die Menschen, die May kritisieren, ihre Versäumnisse gerade auch in der Sozialpolitik aufzählen. Sie hat wirklich Menschen mit Behinderungen, Menschen in Not, in Armut, sie war da hart wie Thatcher sozusagen.
Dieses Europa ist überhaupt kein elitäres Projekt. Es muss sich kümmern um das Nord-Süd-Gefälle, wir haben ab Slowenien einen Mindestlohn von zwei bis drei Euro. Wie sollen denn die Südeuropäer solidarisch sein mit einem Projekt wie Flüchtlinge aufnehmen, wenn sie selbst für 500 bis 600 Euro im Monat arbeiten? Das sind für mich die Fragen, die vielleicht die junge Generation noch nicht so oft auf dem Schirm hat und wo ich hoffe, dass die jungen Generationen Südeuropas wirklich sich genauso auf die Straße begeben und sagen, Jugendarbeitslosigkeit nein, so schlechte Mindestlöhne nein.
Man sieht vielleicht einen Funken Hoffnung in Spanien, wo es eine Wieder- und Neugeburt der Sozialdemokratie gibt, wo man Podemos zur Seite geschoben hat, um zu sagen, das Linke reicht, wir müssen es nur richtig angehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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