"Jahrelang irgendwo unter der Erde"

Moderation: Andreas Müller · 28.02.2013
In "3096 Tage" erzählt Sherry Hormann von der Entführung und dem langen Martyrium der Natascha Kampusch. Im Interview spricht die Regisseurin über die schwierige Recherche im Vorfeld, intime Beziehungen zwischen Täter und Opfer - und die Botschaft, die der Film vermitteln soll.
Frank Meyer: "3096 Tage" heißt der Film über die mehr als acht Jahre dauernde Gefangenschaft von Natascha Kampusch. Der Film war das letzte Projekt, das der Produzent Bernd Eichinger auf den Weg gebracht hat. Während der Arbeit am Drehbuch ist er gestorben. Die Regisseurin Sherry Hormann hat seine Arbeit weitergeführt – ein Gespräch mit ihr hören sie gleich nach einer Einführung in diesen Film von Bernd Sobolla.

Der Produzent Bernd Eichinger wollte, dass die Regisseurin Sherry Hormann diesen Film dreht, weil er ihr die Feinfühligkeit für eine solche Geschichte zugetraut hat – eine Feinfühligkeit, die sie schon bei ihrem Film "Wüstenblume" gezeigt hat. Aber Sherry Hormann hat abgelehnt, und zwar kategorisch, sie wollte diesen Film über den Fall Kampusch nicht machen. Nach dem Tod von Bernd Eichinger hat Sherry Hormann es sich anders überlegt. Mein Kollege Andreas Müller hat sie gefragt, warum.

Sherry Hormann: Die Verantwortung für den Stoff hat schlussendlich dazu geführt, und auch diese emotionalen Momente mit Bernd Eichinger gebe ich zu. Das hat mich sehr geschockt, als er starb, und als Martin Moszkowicz von der Constantin dann auf mich zukam und sagte, Sherry, jetzt spring, und Michael Ballhaus mir sagte, Sherry, du hättest schon längst springen sollen, dachte ich, gut, ich bin Mutter, und ich sehe eine Verantwortung für uns Eltern, und sah in dem Stoff mehr als den Fall Natascha Kampusch, nämlich eine Geschichte über uns. Eine Geschichte auch über das Kind in uns.

Andreas Müller: Diese Geschichte ist, mal so ganz materialistisch gesprochen, zu gut, um sie nicht zu machen. Nun habe ich den Film gesehen und dachte mir: Will ich das wirklich sehen? Es ist der absolute Horror, ein Mädchen streitet sich mit seiner Mutter, kriegt noch eine Backpfeife, geht und als nächstes wacht sie in einem Loch auf und weiß nicht, wo sie ist, was los ist – das ist in den ersten Minuten, ich wäre fast rausgegangen, weil es schierer Horror ist. Wie sind Sie damit klargekommen, auch gerade mit Kindern oder beziehungsweise auch einer jungen Frau so etwas zu drehen?

Hormann: Ich wollte einen Film drehen, der eine Umarmung ans Leben ist, weil ich denke, dass wir uns die Dinge immer erst mal anschauen sollten, bevor wir urteilen, und dass wir uns Realitäten anschauen müssen, um daraus etwas für unser eigenes Leben zu gewinnen. Und ich freue mich sehr, dass Sie nicht rausgegangen sind, weil der Film ja dann einem wirklich diese Kraft mitgibt, und vielleicht auch selber einen so aufwühlt und so durchrüttelt, dass man daraus auch wieder eine Freude für das Leben an sich bezieht. Das ist die Intention des Films.

Müller: Ich glaube, man kann, wenn man ein bisschen Gefühl besitzt, diesen Film auch nur zu Ende gucken, weil man weiß, wie er ausgeht, man weiß, wie die Geschichte ausgeht, und weil Sie nicht einfach nur erzählen, was da passiert ist oder was nach den Berichten Natascha Kampuschs passiert ist, sondern weil es eben noch eine andere Botschaft hat, eben dieser enorme Wille und die Möglichkeit, zu überleben, diese starke Kraft, die dieses Kind hat. Interessant ist ja, dass Natascha Kampusch angefeindet wurde, nachdem sie in die Öffentlichkeit ging. Man ist dann sehr empört, wenn man diese Reaktionen mitbekommt, da wird eine plötzlich beschimpft dafür, dass sie überlebt hat – als ich den Film gesehen habe, habe ich aber dann auch verstanden, was das mit einem machen kann. Also ich sitze da und denke so irgendwann: Ja, nun lauf doch, nun nutz doch die Gelegenheit! Das ist schon sehr, sehr intensiv, was Sie da gemacht haben.

Hormann: Ich nehme das jetzt mal als Kompliment. Keiner von uns kann sich vorstellen, was es bedeutet, acht Jahre nur eine Bezugsperson im Leben zu haben, acht Jahre nur einem Menschen gegenüber zu stehen, keine Familie, keine Freunde, keine Außenwelt. Die einzige Kommunikation ist ein Mann, der ist sehr viel älter als man selbst, den kennt man, seitdem man zehn Jahre alt ist, und der andere Kontakt zur Außenwelt ist noch das Radio. Sonst ist da nichts. Jahrelang kein Tageslicht, jahrelang irgendwo unter der Erde, nicht wissend, wo man ist, das ist ein so nachhaltiger Effekt auf die Psyche, auf den Körper – wir können nicht beurteilen, was das mit einem macht. Keiner von uns hat das durchlebt, deswegen habe ich mir das wirklich abgewöhnt, das zu verurteilen, zu beurteilen oder gar einzuschätzen, wie Frau Kampusch sich nach der Befreiung gegeben hat.

Eins ist aber sicherlich klar, es entsteht irgendwann der Moment von Angst. Ich glaube, dass in diesen ganzen Jahren ihr Selbstbewusstsein so gebrochen worden ist, auch wenn sie mit Kraft sich dagegen gestemmt hat, aber das erste Mal in Freiheit zu sein, und das erste Mal gar nicht mitbekommen zu haben, dass es keine Deutschmark mehr gibt, oder in dem Fall keinen Schilling, sondern auch eine neue Währung, dass die Autos anders aussehen, dass Kommunikationsformen anders aussehen, das hat sie ja alles nicht mitbekommen. Und wie soll ich mich da plötzlich einfach nur befreien? Da gehe ich doch lieber wieder in den Winkel, wo ich mich sicher fühle.

Müller: Das Ganze ist dann in einer Art und Weise fotografiert, dass wir auch hineingesogen werden in diese Welt der Angst. Michael Ballhaus hat die Kamera gemacht, eine große Herausforderung, kann ich mir vorstellen: Das Verlies, dieses winzige Loch, ist nachgebaut worden, aber auch dieses Haus, diese Spießerhölle, eine dunkle braune Welt mit engen Fluren – das ist eine Kameraarbeit, die sehr intensiv ist zum einen, zum anderen habe ich mir manchmal gedacht, Ballhaus, der ja auch noch für ganz andere Geschichten bekannt ist, wie hat der sich angefreundet, in so einem Setting arbeiten zu müssen?

Hormann: Michael Ballhaus wollte unbedingt die Kamera machen. Wie ich Ihnen eingangs sagte, Michael war auch, als Bernd Eichinger mich damals ansprach, derjenige, der sagte, Sherry, du musst diesen Film drehen. Michael fühlte darin eine große Herausforderung, in dieser Kleinheit zu bleiben, und er liebt den Ansatz der Geschichte, nämlich zu sagen, ein Kind, das nach drei Tagen Gefangenschaft sagt zu dem Täter, gib mir einen Gutenachtkuss, was ist in so einem Satz für ein Mut, und das versucht, sich eine Normalität zu generieren – und Michael Ballhaus, glaube ich, geht sehr aus den Geschichten heraus, weniger aus der Möglichkeit, wieder mal eine 360-Grad-Fahrt zu machen, die hat er, glaube ich, oft genug in seinem Leben gemacht, und er war ein großes Glück für mich als Regisseurin, weil er mich auch in diese Direktheit, er hat mich in eine Haltung gezwungen.

Müller: Sherry Hormann ist bei uns zu Gast, sie hat den Film "3096 Tage" gemacht, über das Martyrium der Natascha Kampusch. Bernd Eichinger hatte sich lange schon mit Natascha Kampusch unterhalten, das haben Sie dann auch wieder getan im Vorfeld dieses Filmes. Wie ist das abgelaufen?

Hormann: Wie ist es abgelaufen – sehr schwierig. Natascha Kampusch hatte sich nun auf Bernd Eichinger irgendwie eingelassen, und nun komme ich plötzlich daher, und sie muss sich auf eine neue Person einlassen. Sie wusste, dass ich "Wüstenblume" gemacht habe, sie wusste also, dass ich verantwortlich mit solchen Geschichten umgehe, und dennoch begegnet einem da größtes Misstrauen, und wir haben uns sehr zaghaft immer wieder gesehen. Und der Höhepunkt für mich war ein siebenstündiges Treffen in einem Hotelzimmer in einem anonymen Raum, wo ich fast nicht mehr die Kraft hatte am Ende, weil ich durfte weder ein Band mitlaufen lassen, noch mitschreiben, sondern es ging wirklich um das pure Gespräch. Und – es ist ein Mensch, die das Recht hat, misstrauisch zu sein.

Müller: Sie hat als Kompensation unter anderem für das erlittene Leid das Haus bekommen, in dem sie so lange gefangen genommen war.

Hormann: Das ist unglaublich, oder?

Müller: Und kaum hatte sie es, bekam sie einen Brief der Stadt Wien mit der Aufforderung, den unrechtmäßig erfolgten Ausbau, nämlich dieses Verlies, zu beseitigen. Also das ist eine bürokratische Perversion – das muss man dann erst mal so registrieren. Sie haben das nun nachgebaut – ich glaube, das steht sogar auch noch, dieses Verlies, am Set …

Hormann: Es steht noch in den Bavaria Studios, ja.

Müller: … in den Bavaria … sie war dann auch da, hat sich das angeguckt. Was war das für eine Situation?

Hormann: Das war eine Situation für sie wie eine Reise zurück, denn da wir alles original nachgebaut haben, hat sie diese Stimmung eingesogen. Für sie war, glaube ich, ein tolles Geschenk, dass unser Hauptdarsteller, Thure Lindhardt, mit ihr Kaffee getrunken hat, und es gab wirklich Kaffee und Kuchen in diesem nachgebauten Haus – auch pervers –, und dann hat sie dem Thure einfach ein Stück Kuchen geklaut. Und das war für sie wie so ein Moment: So, du Täter, dir habe ich es jetzt wieder gezeigt. Also, ich glaube, sie hat es auch irgendwo spielerisch aufgreifen können, denn das möchte ich an der Stelle wirklich noch mal betonen, wir reden immer von Martyrium, und wir reden auch von der Intensität – aber der Film hat auch einen absoluten Hoffnungsschimmer, das ist ganz wichtig, sonst hätte ich diesen Film nicht drehen können.

Müller: Sie sind nahe dran an dieser Geschichte, Natascha Kampusch hat aber auch in ihrem Buch alle immer im Unklaren darüber gelassen, ob es intime Beziehungen gab zu diesem Mann. In Ihrem Film wird das ganz klar gezeigt, es gab so etwas, wenn man das als intime Beziehung – man könnte es auch Vergewaltigung nennen – bezeichnen will. Das hat sie eigentlich nicht gewollt, glaube ich, dass das so gezeigt wird. Ist das richtig, oder war das am Ende doch so, dass sie sagte, na ja, mach doch?

Hormann: Das kann ich mir nicht anmaßen, was sie wirklich gedacht hat. Ich weiß nur, dass Bernd Eichinger auch damals zu mir noch sagte, wir müssen weitergehen als das, was wir bislang kennen. Und ich denke, es ist uns allen klar: Ein Kind, das irgendwann in die Pubertät kommt in diesen Umständen, das eine Frau wird, bei einer Geschichte eines Mannes, der den Irrsinn besitzt, ein achtjähriges Kind auszuspionieren und zu sagen, die mache ich mir zur Frau – macht er sie sich zur Frau, wird er auch irgendwann mit ihr Sex haben, fragt sich nur wann. Als ich wusste, dass er sie nicht als Kind angefasst hat, sondern als reifes Mädchen, da konnte ich dann auch den Schritt gehen, Regie zu führen. Ich hätte keinen Film über einen Päderasten drehen können, sage ich Ihnen ganz ehrlich. Das übersteigt meine Fantasie.

Meyer: Die Regisseurin Sherry Hormann im Gespräch mit Andreas Müller über den Film "3096 Tage" über den Fall Natascha Kampusch. Ab morgen ist dieser Film in unseren Kinos zu sehen.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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