Meinung
Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ist eine gute Zeit, um eine Pause zu machen und zur Ruhe zu kommen. © picture alliance / Zoonar / Anton Starikov
Zwischen den Jahren: Zeit zum Innehalten

In der Übergangszeit zum neuen Jahr neigen viele dazu, sich ehrgeizige Ziele zu setzen. Meistens scheitern die Neujahrsvorsätze. Dennoch sei es sinnvoll, die Zeit des Dazwischen zum Innehalten zu nutzen, meint die Religionsphilosophin Gesine Palmer.
„Zwischen den Jahren“: So nennt die deutsche Sprache diese Tage mit widersinniger Präzision, eine Zeit, die es nicht gibt, zugleich eben drum ein wohltuendes Übermaß an Zeit. Das alte Jahr endete mit den letzten Feiertagen, ein neues Arbeitsjahr hat noch nicht begonnen, und so hat man mit etwas Glück ein paar Tage wirklich undefinierter Zeit: Nicht wirklich Arbeit, nicht wirklich Urlaub, und auch die oft unersättlichen Forderungen der Religionen machen eine Pause und lassen der Seele zwischen Weihnachten und Neujahr eine kleine Baumelzeit.
Erwartet wird keine vollgültige Urlaubserholung, nur dass man sich ein bisschen sammele und sich vorlege, was denn im Neuen Jahr bitte anders werden solle. Denn so sind wir ja hier: wir planen gern, arbeiten gern Pläne ab, und setzen uns, damit es auch was wird, Fristen, innerhalb derer ein Vorsatz erfüllt werden soll.
Erwartet wird keine vollgültige Urlaubserholung, nur dass man sich ein bisschen sammele und sich vorlege, was denn im Neuen Jahr bitte anders werden solle. Denn so sind wir ja hier: wir planen gern, arbeiten gern Pläne ab, und setzen uns, damit es auch was wird, Fristen, innerhalb derer ein Vorsatz erfüllt werden soll.
Zeit zum Innehalten
Zugleich wissen wir bei manchen Plänen und Vorsätzen, dass sie vermutlich nicht Punkt für Punkt erledigt werden, weil immer etwas dazwischenkommt. Zeiteinschnitte, in denen alte Pläne als erledigt oder untauglich abgehakt und neue mit frischem Mut gemacht werden können, kommen uns da gerade recht.
Freilich, manche Unterbrechungen des bis anhin für normal gehaltenen Lebens sind einfach nur katastrophisch und traumatisch. Der israelische Publizist David Witzthum schrieb, dass am 7. Oktober die Uhren stehen blieben. Dieses Innehalten nach schrecklichen Ereignissen ist eine seelische Naturreaktion, die wir besser beachten. Zwar müssen gerade nach Katastrophen alle für irgendetwas Verantwortlichen weiter handeln. Aber für sich selbst sollte ein jeder wirklich traumatisierte Mensch wissen, dass er in einer schwierigen Ausnahmeverfassung ist.
Zeit für die Arbeit mit seelischen Verletzungen
Unter sogenannten normalen Verhältnissen – also innerhalb einer zivilisierten Ordnung, in der Menschen sich Zeit lassen dürfen für die bewusste Arbeit mit ihren seelischen Verletzungen – würden wir Traumatisierten immer sagen: Du musst erst noch deine Erfahrung verarbeiten, bevor du wieder an die Schalthebel hochwirksamer Maschinerien gehen kannst. In zivilisierten Verhältnissen werden sich traumatisierte Menschen selbst dieses Erst-Noch zubilligen.
Aber was, wenn diese zivilisierte Ordnung, in der Menschen so eine Verantwortung für sich und andere entwickeln können, selbst in Frage gestellt wird und unter gewalttätige Attacke gerät? Gerade dann müssen wir kollektiv schnell und klar reagieren. Gerade dann aber auch für jede Einzelseele Zeit schaffen, in der sie das Alte verarbeiten und sich neu sortieren kann.
Zeit für Aufschub
Kreativere Lösungen, neue Wege, werden am ehesten in Zwischenzeiten, im Zögern, im Aufschub gefunden. Nicht zufällig ist der Aufschub ein zentraler Topos in dem über Jahrhunderte fortgesetzten Gespräch jüdischer Gelehrter über die Messianische Zeit.
Einer von ihnen, Franz Kafka, schrieb 1921, er könne sich „einen anderen Abraham denken, der […] die Forderung des Opfers sofort, bereitwillig wie ein Kellner, zu erfüllen bereit wäre, der das Opfer aber doch nicht zustandebrächte, weil er von zuhause nicht fort kann, er ist unentbehrlich, die Wirtschaft benötigt ihn, immer fort ist noch etwas anzuordnen, das Haus ist nicht fertig, aber ohne daß sein Haus fertig ist, ohne diesen Rückhalt kann er nicht fort…“
Wir dürfen sicher bei einer Weisheit des Aufschubs und des Erst-Noch allein nicht stehen bleiben. Aber zwischen den Jahren ist eine gute Zeit zu überlegen, wie wir wirklich umgehen wollen mit Angriffen auf eine Ordnung, die jeder Einzelseele eine Würde und also undefinierte Zeiten zubilligt.