Die Babyboomer und die demografische Forschung
1964 kamen in Deutschland gut 1,4 Millionen Kinder zur Welt. In diesem Jahr werden die sogenannten Babyboomer 50. Doch was passiert in naher Zukunft, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen?
1964. Mitten im Wirtschaftswunder, in einer Zeit des politischen und wirtschaftlichen Optimismus, werden in den beiden Teilen Deutschlands 1.357.304 Babys geboren. Schon 1965 flacht die Geburtenrate ab und der Babyboom hat seinen Zenit überschritten. Das ist die Vergangenheit - klare Daten und Fakten. Wie aber wird es um die Zukunft der Babyboomer bestellt sein? Werden sie, da immer weniger Kinder zur Welt kommen, als Rentnerberg die sozialen Sicherungssysteme der Gesellschaft sprengen und die Kräfte der jungen und mittleren Generation übersteigen?
Zukunftsszenarien entwickeln und ihre Wahrscheinlichkeit statistisch und theoretisch abklopfen - das ist Aufgabe der demografischen Forschung. Welche Umweltbedingungen, welche sozialen Faktoren beeinflussen Geburtenzahl, Todesraten, Zu- und Abwanderung? Wie sicher, wie unsicher kann eine Prognose die Verhältnisse in 10, 20, 30 oder gar 50 Jahren voraussagen? Kernfragen, die Professor Ernst Kistler, Direktor am Internationalen Institut für Empirische Sozialökonomie, in demografischen Gutachten untersucht.
Kistler: "Früher waren die Prognosen, auch aufgrund einer nicht so ausgebauten Statistik, schlechter, als sie heute sind. Sie sind aber heute noch bei weitem nicht völlig zuverlässig. Wir machen Vorausberechnungen unter diesen und jenen Annahmen - und machen keine Prognosen. Das heißt, Wenn-dann-Annahmen werden getroffen, aber nicht Aussagen, 'So wird es sein'."
Regelmäßig erstellt das Statistische Bundesamt eine "Bevölkerungsvorausberechnung" als Basis für politisches Handeln. Eindeutige Aussagen, wie es um die deutsche Gesellschaft im Jahr 2030 oder 2060 exakt bestellt sein wird, findet man darin nicht, sondern Bündel unterschiedlicher Vorannahmen: Wie viele Kinder könnte eine Frau im Jahr 2030 durchschnittlich bekommen - 1,4 oder 1,6 oder nur 1,2? Wie hoch könnte die Lebenserwartung eines neugeborenen Mädchens im Jahr 2014 sein - 89,2 Jahre oder eher 91,2?
Kistler: "Netto-Zuwanderung null, einhunderttausend, zweihunderttausend, dreihunderttausend. Wer nun Interesse daran hat, eine geringere Bevölkerungszahl vorherzusagen, der wird mit einer Zuwanderung von null rechnen oder von einhunderttausend, wer Realist ist heute, muss zwischen zweihunderttausend, vielleicht sogar dreihunderttausend annehmen für die nächste Zeit."
Demografische Prognosen sind natürlicherweise mit einer Vielzahl an Unsicherheiten behaftet. Da ist einmal die unzureichende Datenbasis: Die letzten umfassenden Volkszählungen fanden im früheren Bundesgebiet 1987 und in der ehemaligen DDR 1981 statt.
Kistler: "Dann gibt es Prognosen zur Entwicklung der Sterblichkeit, die mit einfließen. Da nimmt man Zahlenwerte aus Ländern, die in der Beziehung schon eine stärkere Alterung mitgemacht haben, so als Richtschnur. Und sagt, so wird es bei uns auch kommen. Bei uns werden üblicherweise die japanischen Zahlen immer so als Hintergrund verwendet."
Fakten, Prognosen und Spekulationen
In seiner aktuellen Berechnung beschreibt das Statistische Bundesamt nicht weniger als zwölf unterschiedliche Zukunftsvarianten. Als plausibelstes Szenario favorisieren die meisten Demografen derzeit eine mittlere Variante. Danach werden Mitte des Jahrhunderts deutlich weniger Menschen in Deutschland leben, möglicherweise sogar weniger als 70 Millionen. Die Zahl der Erwerbstätigen könnte auf 38,6 Millionen schrumpfen, also um rund ein Drittel. Und ein Drittel der Bevölkerung wird 65 Jahre sein oder älter. Wird es tatsächlich so kommen? Das kann kein Demograf garantieren. Zu komplex sind die Faktoren, die in solche Berechnungen einfließen, zu groß die Interpretationsspielräume.
Demografische Prognosen schreiben gegenwärtige Trends in die Zukunft fort. Doch was wusste man 1910 von 1960 - und all den Jahren dazwischen? Was konnte man 1964, auf dem Höhepunkt des Babybooms, über das Jahr 2014 wissen? Vieles war kaum zu ahnen: Ende des Wirtschaftsbooms, Geburtenrückgang, Anwerbestopp für ausländische Arbeiter, das Ende des geteilten Landes, die millionenfache Einwanderung von Auslandsdeutschen, der Produktivitätsschub durch Computer in der Arbeitswelt. Bevölkerungsprognosen von 1962 sagten der Bundesrepublik für das Jahr 1985 Geburtenzahlen vorher, die um 80 Prozent zu hoch ausfielen.
Kistler: "Die einzig gesicherte Aussage ist, dass wir langfristig alle tot sind. Es gibt eine Prognose, die ich neulich gesehen habe, bis zum Jahre 3000. Das ist Alchemie! Das ist Unsinn!"
Das Institut für Empirische Sozialökonomie erstellt Forschungsgutachten im Auftrag von Ministerien, Kommunen und Verbänden - zum Beispiel zu der sich verändernden Altersstruktur der Gesellschaft, einem der Forschungsbereiche des Instituts. In populärwissenschaftlichen Darstellungen wird die Debatte um den drohenden Rentnerberg häufig mit allzu einfachen Grafiken unterfüttert - zum Beispiel dem "Tannenbaum", der den idealen Altersaufbau der Gesellschaft beschreiben soll.
Kistler: "Der Tannenbaum entstammt einer tatsächlichen Situation, wie sie um das Jahr 1900 eingetreten ist, mit sehr vielen Jungen und nach oben hin immer weniger mit zunehmendem Alter; so ein richtig schönes, breites, nach oben spitz zugehendes Tannenbäumchen, wie man sich es Weihnachten vorstellt. Fast gleichmäßig, nur durch einige Kriegseinbrüche unterbrochen."
Die Bevölkerungsstruktur hat sich verändert. Heute gibt es unten den dünnen Fuß der nachwachsenden Generation, in der Mitte den breiten Bauch der Babyboomer im besten Alter und oben sieht es auch schon ziemlich breit aus, denn die Lebenserwartung ist in den letzten 100 Jahren um über 30 Jahre gestiegen - dank besserer Medizin, Ernährung und größerem Wohlstand. Wäre es sinnvoll, die Tannenbaum-Situation wieder anzustreben? Viele junge Menschen als tragende Säule der Gesellschaft, und nicht zu viele Alte, deren Unterhalt gestemmt werden muss. Das mag harmlos klingen - ist es aber nicht.
Kistler: "Ideal ist der Tannenbaum deswegen nicht, weil er zwei Dinge im Prinzip voraussetzt. Einerseits entweder eine massive Kinder- und Jugend-Sterblichkeit. Oder aber, und das wäre die Alternative, eine massiv wachsende Bevölkerung."
Die Alterung ist unaufhaltbar
Demografische Berechnungen zeigen: Wollte man die Alterung der deutschen Bevölkerung tatsächlich stoppen, müssten von nun an jährlich 3,4 Millionen Menschen hinzukommen, entweder durch Geburten oder durch Zuwanderung. Die Bevölkerungszahl Deutschlands müsste bis zum Jahr 2050 auf 300 Millionen anwachsen - ein völlig irreales Szenario. Nüchtern betrachtet, lässt sich daraus nur ein Schluss ziehen: Die Gesellschaft ist gut damit beraten, sich auf die veränderte Altersstruktur einzustellen.
Die zunehmende Alterung der Bevölkerung ist unaufhaltbar. Darum nehmen Demografen die verschiedenen Konsequenzen dieser Entwicklung in den Blick. Was bedeutet es für die Arbeitswelt, wenn Menschen bis 65 oder 67 in Büros und Fabriken tätig sind? Diese Frage hat das Institut für Empirische Sozialökonomie in mehreren Gutachten untersucht. Die "Defizit-Hypothese", wonach ältere Menschen automatisch weniger leistungsfähig sind, gilt heute als überholt. Geistig arbeitende Menschen erreichen ihre maximale Leistungsfähigkeit überhaupt erst im höheren Alter, wenn sich ihr volles Erfahrungswissen entfaltet.
Kistler: "Dann hat man das Defizit-Modell abgelöst in der Debatte durch das sogenannte Kompetenz-Modell. Hat auf das Erfahrungswissen und die Kompetenzen der Älteren verwiesen und ist dann in den nächsten Fehler verfallen, indem man sagte, alle werden im Alter leistungsfähig sein."
Mythos Rentnerberg
Doch das ist wenig wahrscheinlich, denn wer körperlich hart arbeitet hat schlechtere Karten - und dazu zählen nicht nur Bauarbeiter, sondern auch Krankenschwestern, Verkäuferinnen, Erzieherinnen. Wie also müssten altenfreundliche Betriebe für die Babyboomer von morgen aussehen? In seinen Gutachten schlägt der Demografie-Forscher eine Reihe von Maßnahmen vor: rechtzeitige Umschulung, Job-Rotation, also der tage- oder wochenweise Wechsel zwischen körperlich leichten und schweren Tätigkeiten, ein flexibles Eintrittsalter in die Rente, das Menschen im Schichtdienst oder mit körperlich schwerer Arbeit einen früheren Renteneintritt gestattet.
Wenn die Babyboomer einmal pensioniert sind, werden ihnen mit Sicherheit weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gegenüberstehen als heutigen Rentnern. Sprengt das zwangsläufig die sozialen Sicherungssysteme? Der demografische Blick in die Vergangenheit hilft, Mythen und Wahrscheinlichkeiten zu unterscheiden: Von 1900 bis zum Jahr 2000 verdreifachte sich der Anteil der Menschen über 64 Jahren, gleichzeitig halbierte sich der Anteil der Jugendlichen. Dennoch stieg der Wohlstand der Alten und Erwerbstätigen - und das trotz kürzerer Arbeitszeiten. Der Grund liegt im technischen Fortschritt, der zu enormen Produktivitätssteigerungen führte. Auch für die Zukunft gehen die meisten Experten von einer Steigerung der Wirtschaftsleistung aus. Hier zeigt sich, dass nicht allein demografische Umstände die Zukunft gestalten, sondern vor allem politische Weichenstellungen: Seit 20 Jahren wandern die Produktivitätszuwächse allein in die Unternehmensgewinne. In den Lohntüten ist davon nichts zu finden - damit fehlt das Geld auch den Rentenkassen.
Kistler: "Solange es nicht gelingt, die Produktivitätszuwächse in diese Richtung zu drängen, das würde heißen, weg von den Gewinnen und hin zu den Löhnen, so lange werden die Beiträge knapper sein, als wenn die Bevölkerung Tannenbaumform hat, das heißt, wenig Alte und viele Junge - das ist ganz klar."
Allerdings kommt ein weiteres Problem hinzu: Ende der 1970er-Jahre begann für einen Teil der Babyboomer ein brüchiger und unsteter Berufsweg mit geringfügiger Beschäftigung, schlecht bezahlten Tätigkeiten, Niedriglohn und Leiharbeit. Wer zu wenig verdient und Zeiten der Arbeitslosigkeit erlebt, kann nur wenig Rentenansprüche erwerben. Das ist der Grund, warum sich die Schere zwischen Arm und Reich für die Babyboomer im Alter weit öffnen wird.
Kistler: "Eine wichtige Voraussetzung wären beispielsweise Mindestlöhne. Eine Einschränkung der immer neuen Formen von atypischer Arbeit, Leiharbeit begrenzen, Werkvertragsarbeit begrenzen. Und darüber hinaus in Bezug auf die Lohnentwicklung auch eine stärkere Allgemeingültigkeit von Tarifverträgen."
Demografie, Interpretation, politische Stellungnahme sind nicht voneinander zu trennen. Darum ist Vorsicht geboten, wenn gravierende gesellschaftliche Weichenstellungen aus scheinbar objektiven Statistiken der Demografie abgeleitet werden, etwa beim Umbau des deutschen Rentensystems. Seit Reichskanzler Otto von Bismarck die staatliche Rentenversicherung installiert hat, hagelt es Kasssandrarufe, die wenigen Jungen könnten die vielen Alten nicht bewältigen - eingetreten ist diese Situation nie. Die Rentenversicherung hat Kriege überstanden und die deutsche Einheit mit der Integration der Ost-Rentner ermöglicht. Doch seit den 90er-Jahren haben Rentenreformen die Versicherung ausgehöhlt - von unvermeidlichen Einschnitten aufgrund der demografischen Lage war die Rede. Damit war die Bahn frei für Angebote zur privaten Altersvorsorge.
Kistler: "Ich halte generell eine private Zusatzabsicherung auf der Ebene eines Kapitalmarkt-fundierten Produktes für einen grundsätzlichen Fehler. Das kann ich machen, wenn ich Roulette oder Lotterie spiele, aber nicht für die Alterssicherung."
Arm im Alter
Eine Untersuchung des Statistischen Bundesamtes belegt, dass Menschen mit geringen Einkommen über so gut wie keine anderen Alterseinkünfte verfügen - weder aus Vermögenseinkommen noch aus betrieblichen oder privaten Versicherungen. Wer arm ist, wird dies laut Statistischem Bundesamt auch in Zukunft mit Angeboten der privaten Altersvorsorge nicht ändern können. In die Irre führt auch das Schlagwort von der Generationengerechtigkeit, denn es vernachlässigt, dass ein Mensch alle Altersstufen durchschreitet. Deshalb kann ein Babyboomer mehrfach von Einbußen betroffen sein: in jungen Jahren durch hohe Beitragssätze, später durch Kürzungen der Rente.
Kistler: "Die Verteilungsgerechtigkeit ist aber der wahre Schlüssel. Verteilung zwischen Arbeit und Kapital, zwischen hohen und niedrigen Einkommen ist ja das, worauf dann die zu verbeitragende Masse an Einkommen sich bezieht und aus der Größe heraus werden die Rentenkassen dann finanziert."
Statt die Kernfrage der Verteilungsgerechtigkeit anzugehen, werden Probleme der Arbeitsmarktpolitik - zu viele Arbeitslose, die der Rentenversicherung als Einzahler nicht zur Verfügung stehen - in demografische Zwangslagen umgedeutet.
Neue Mobilität und Wertewandel
Demografischer Wandel, das heißt nicht nur eine Änderung der Bevölkerungszahl und ihrer Altersstruktur. Viele weitere Phänomene gehören mit hinzu, die zu einem sehr komplexen Zusammenspiel führen und die Gesellschaft massiv verändern werden, zum Beispiel die zunehmend instabilen Partner- und Generationenbeziehungen, Mobilität und Wanderungsbewegungen innerhalb des Landes und weltweit, Wertewandel und neue Geschlechterrollen. Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, gibt im Jubiläumsjahr der Babyboomer das "Kursbuch Babyboomer" heraus.
Nassehi: "Also erstmal bedeutet das quantitativ, dass es wirklich viele waren. 1,4 Millionen Geburten 1964, das ist eine unglaublich große Generation. Es ist dann auch eine Generation, die an sich selber natürlich erfahren hat, dass sie eigentlich sehr stark immer in Massenformen aufgetreten ist."
Nie allein sein, in Massen auftreten - das ist die Grunderfahrung der Kinder aus den geburtenstarken Jahrgängen von Mitte der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre. Über die psychologischen Folgen macht sich der Rechtsanwalt Bernhard von Becker in seinem Buch "Wir Babyboomer" Gedanken:
von Becker: "In der Familie, im Freundeskreis, im Kindergarten, im Sportunterricht, in der Schule, in der Universität, im Wehrdienst - das waren einfach immer riesig große Gruppen -, da ist es, glaube ich, ganz natürlich, dass dann jeder einzelne sich so ein bisschen zurücknehmen muss. Anders ging es ja gar nicht. Das sind Dinge, die haben wir mit der Muttermilch eingesogen."
Nassehi: "Es gibt natürlich Grunderfahrungen, die hängen natürlich mit wirtschaftlichen, mit politischen, mit kulturellen Veränderungen zusammen. Also eine Generation, die in eine sichere ökonomische Zukunft blicken kann, guckt womöglich anders auf sich selbst, als eine, die das nicht kann - und darin unterscheiden sich diese Generationen durchaus."
Zwischen Wohlstand und No Future
Die Eltern der Babyboomer bauen das zweigeteilte Nachkriegsdeutschland auf, tüchtig, fleißig, kriegsgeschädigt und kriegsvergessen. Die Kinder wachsen in der optimistischen Stimmung des Wirtschaftswunders auf - und laufen in all der Aufbaustimmung oftmals nebenher, erinnert sich auch Bernhard von Becker.
von Becker: "Ja, das war eine Freiheit, die ganz eigentümlich war. Im Grunde genommen eine Freiheit im doppelten Sinne. Man war zunächst einmal frei natürlich von materieller Not. Aber dazu kam etwas, was vielleicht noch wichtiger ist: Das ist die Freiheit, ich will mal sagen, von allzu großer Bemutterung und Bevormundung. Und es waren ja immer mehrere; es war also nie so, dass ein Kind irgendwo einsam durch die Straßen lief, wo man sich wirklich Sorgen machen musste, sondern die haben sich selbst organisiert."
Mit ihrem Grund-Optimismus gehen die Babyboomer auch in der Jugend eigene Wege. Während sich die älteren Geschwister der Achtundsechziger-Generation erbitterte kulturelle und ideologische Auseinandersetzungen mit der Kriegsgeneration liefern, beerben die Babyboomer frohgemut die erkämpfte kulturelle Öffnung. Auch die DDR-Jugend erobert sich ihre Bewegungsräume - via Musikkultur und in den debattierenden Kirchenkreisen. Neue Protestformen entstehen im Westen.
Nassehi: "Denken Sie an die 80er-Jahre, in denen so etwas wie alternative Lebensformen, Anti-AKW-Bewegung, Frauenbewegung und solche Dinge entstanden sind. Während die Achtundsechziger eher tatsächlich eine Generation im Kopf war, ist diese Babyboomer-Generation eine eher praktische Generation gewesen, die diese Dinge dann ausprobiert hat."
von Becker: "Wir waren ja so viele, wir mussten schlicht mit anderen in eine Wohngemeinschaft gehen, das war was ganz Normales und damit wurde völlig normal umgegangen."
Pop-Kultur und ein Konsummarkt, der sich zunehmend an Jugendliche richtet, sorgen für neue Prozesse der Individualisierung. Welchem Milieu rechne ich mich zu, welchen Musik- und Kleidungsstil bevorzuge ich und wovon grenze ich mich ab? Mit der Babyboomer-Generation werden das die Themen der Jugend. Und das Gros der Babyboomer genießt vormals undenkbare Bildungsmöglichkeiten, auch die Frauen, auch Kinder aus der Arbeiterschicht. Keine Generation weicht die traditionellen Milieus stärker auf und erfährt mehr sozialen Aufstieg, erklärt der Soziologe Armin Nassehi.
Nassehi: "Das ist fast eine paradoxe Geschichte, einerseits wurde wahrscheinlich nie eine Generation besser auf die Zukunft vorbereitet als die Babyboomer-Generation, andererseits hat sie die wunderbare Sentenz des No Future erfunden."
Ein tiefer Riss zieht sich durch die biografische Erfahrung der Babyboomer. Das Wirtschaftswachstum bricht ab, die Zeiten der Vollbeschäftigung sind vorbei. Die Ölkrise erschüttert den Westen. Das Buch des "Club of Rome" über "Die Grenzen des Wachstums" schlägt ein wie eine Bombe. Plötzlich mutiert die Wachstums- zur Risiko-Gesellschaft.
Das Ende der Sicherheit
von Becker: "Da gab es den sauren Wald, da gab es die Atomraketen, die Pershing-Raketen - und das hat uns erste Sorgenfalten in die Gesichter getrieben, und ja, wie geht man als Generation mit so etwas um?"
Nassehi:"Also an die Technik hat man nicht mehr geglaubt, an die Experten hat man nicht mehr geglaubt, also alles das, was man sich in den 50er- und 60er-Jahren als Sicherheit erarbeitet hat, war auf einmal weg, und man sich eher um so eine Art 'Muddling-Through'-Ideologie braucht - wie kann man tatsächlich noch in einer solchen Welt leben, in der diese Eindeutigkeit nicht mehr möglich sind?"
Durchwurschteln heißt seitdem die Devise. Der Kampf um Studienplätze, schiefe Einstiege in den Berufsalltag, brüchige Karrieren, Teilzeitarbeit, Flexibilisierung - was seit der Babyboomer-Generation zum Alltag des Arbeitslebens gehört, summiert sich gesellschaftlich zur Altersarmut breiter Bevölkerungsschichten. Ihre komplexe Gemengelage - vom Optimismus in den existenziellen Bruch, Einübung von Gemeinschaftsleben und individuelles Durchwurschteln - hat die Babyboomer-Generation aber auch mit psychologischen Eigenschaften ausgestattet, die sich später als segensreich erweisen könnten.
von Becker:"Ich glaube, dass die Boomer als Generation Eigenschaften haben wie: sozial, verantwortungsvoll, kooperativ, auf konsensuale Lösungen aus, sie sind uneitel, sie sind moderat, sie sind gut im Moderieren von Gegensätzen, sie sind wahrscheinlich eher Zweifler als harte Entscheider, es sind eher Pragmatiker als Theoretiker, sind undogmatisch, kritisch, flexibel, stellen sich selbst infrage, sind keine glatten Karrieretypen, sondern brechen immer auch mal aus, das sind so die Eigenschaften."
Können die Babyboomer es schaffen, die Eigenschaften ihrer Jugend als Ressource bis ins Alter zu bewahren? Das untersucht Pasqualina Perrig-Chiello, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern und Leiterin des Nationalen Forschungsprogramms "Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen im gesellschaftlichen Wandel" in der Schweiz. Dort wurden die geburtenstarken Jahrgänge bereits in den 1940er-Jahren geboren, mitten im Krieg - aber der Wirtschaft ging es gut. Nun gelangen die ersten geburtenstarken Jahrgänge bereits ins Rentenalter.
Perrig-Chiello: "Also diese Muster, die die jungen Leute in dieser Aufbruchsstimmung akquiriert haben, die hat sich nachhaltig auch in späteren Lebensphasen gezeigt. Das ist übrigens auch bei früheren Generationen so: Lebensmuster, Lebensstile, die im jungen Erwachsenenalter akquiriert werden, werden in der Regel auch beibehalten."
Undogmatisch und pragmatisch
Laut Lebensspannenforschung verjüngen die Schweizer Babyboomer das Alter. Sie bleiben individualistisch und geistig beweglich und die alte Dreiteilung "Ausbildung - Beruf - Rente" löst sich bei ihnen auf. Von einer "De-Standardisierung der Lebensläufe" spricht die Psychologin.
Perrig-Chiello: "Es gibt Leute, die, wie früher auch, irgendwann mal genug haben von ihrem Beruf, die sehr froh sind, in Rente zu gehen. Dann aber auch eine Gruppe, die sich völlig neu orientiert. Und neue Orientierung ist eines der Stichworte für die Babyboomer."
Die Babyboomer-Generation der Schweiz legte sich im mittleren Alter einen gesunden Lebensstil zu - gute Ernährung, Sport, wenig Rauchen. Alles das wird sie im höheren Alter gesünder machen als frühere Generationen. In einer Langzeitstudie über mehrere Jahrzehnte konnte Pasqualina Perrig-Chiello zeigen, dass die Weichenstellung für ein gesundes und damit auch langes Alter schon sehr früh im Leben beginnt - der Bildungsgrad spielt dabei eine große Rolle. So greifen Psychologie und demografische Vorhersagen ineinander: Die Bildungsexplosion der Babyboomer-Generation steigert ihre Lebenserwartung und lässt die Gesellschaft insgesamt altern. Für die Frauen erweisen sich vor allem die vielbeklagten, sinkenden Geburtenzahlen als lebensverlängernd.
Perrig-Chiello: "Ich möchte aber sagen, dass vor allem bei den Frauen die bessere Gesundheit darauf zurückzuführen ist, dass nicht mehr so viele Geburten erlebt wurden, also die Frauen sind nicht mehr so häufig schwanger und haben nicht so häufig Geburten wie frühere Generationen, weil, das ist ein ganz klarer Prädiktor für Gesundheit. Die vielen Schwangerschaften und Geburten schwächten die Frauen, und das fällt bei dieser Babyboomer-Generation erstmals richtig weg."
In den 70er- und 80er-Jahren gingen Baby-Boomerinnen und Frauen der achtundsechziger Generation mit feministischen Forderungen auf die Straße und setzten einen guten Teil davon gesellschaftlich durch. Auch dieser Bruch mit der Vorgänger-Generation hat demografische Folgen - denn die Frauen profitieren davon mit mehr Gesundheit und einem längeren Leben.
Perrig-Chiello: "Also sie beziehen ihre Identität, ihre Kraft nicht nur aus einer Rolle, wie frühere Generationen, also die Rolle der Mutter und Hausfrau, sondern sie haben mehr Rollen zur Verfügung, wo sie ihre Identität abstützen können - und das widerspiegelt sich in einer besseren Gesundheit als in früheren Generationen."
Beispiel Bielefeld
Demografische Zukunftsszenarien, soziologische Erkenntnisse über die prägenden Erfahrungen von Generationen, psychologische Forschung darüber, in welcher Weise solche Erfahrungen das höhere Alter beeinflussen werden - alles das muss mitbedacht werden, wenn sich Gemeinwesen heute daran machen, den komplexen demografischen Wandel und damit die Zukunft der Babyboomer politisch zu gestalten. Seit 2004 ist Susanne Tatje Demografiebeauftragte der Stadt Bielefeld.
Tatje: "Das geht nicht bei dem Thema immer nur um das Thema Alter. Was heißt das für die Schulen, wenn immer weniger Kinder geboren werden? Wie entwickelt sich so ein Gesundheitssystem, wenn immer weniger Menschen da sind? Was machen wir mit den kommunalen Krankenhäusern?"
Auch die Stadt Bielefeld erstellt Bevölkerungsvorausberechnungen mit verschiedenen Wenn-dann-Szenarien und auch hier favorisiert man eine mittlere Variante. Danach wird die Bevölkerungszahl der Stadt bis zum Jahr 2035 um 2,4 Prozent sinken. Als Susanne Tatje ihr Amt antrat, rechnete man noch mit einem Rückgang von über zwölf Prozent. Unwissenheit und Ängste beherrschten die Debatte.
Tatje: "Ich fand fast ausschließlich oder eigentlich ausschließlich, wenn ich überhaupt Material und Literatur dazu fand, Schreckensbilder wie der Letzte macht das Licht aus, die Städte sterben, schrumpfende Städte, Krieg der Generationen."
Das hat sich in Bielefeld gründlich geändert. Unter dem positiven Motto "Wir werden weniger, wir werden bunter, wir werden älter" hat Susanne Tatje die entscheidenden Akteure der Stadt in Projekte zum demografischen Wandel eingebunden - Stadtverwaltung, Wohnungswirtschaft, Verbände, Hochschulen. Auf vielen Ebenen muss umgedacht und umgeplant werden: von der Stadt- und Quartiersentwicklung bis zur Wohnraumgestaltung. Heute schon baut Bielefeld sämtliche Haltestellen der Stadtbahn aufwendig barrierefrei um und die Stadt hat beschlossen.
Tatje: "Dass städtische Mittel für Bauen und Wohnprojekte nur noch dann vergeben werden, wenn barrierefrei oder barrierearm umgebaut wird. Das heißt, da hat die Stadt Bielefeld beschlossen, dass finanzielle Mittel in diesem Bereich nur noch dann vergeben werden, wenn auch wirklich dieser demografische Faktor, in Anführungszeichen, berücksichtigt wird."
Zahlreiche Studien aus der Altersforschung konnten untermauern, dass ältere Menschen den größten Teil des Tages in ihrer Wohnung und der unmittelbaren Nachbarschaft verbringen. Laut Berliner Altersstudie finden sogar 80 Prozent der Alltagsaktivitäten älterer Menschen zu Hause statt. In der englischsprachigen Forschungslandschaft wird in diesem Zusammenhang vom "Attachment in Place" oder auch dem "Ageing in Place" gesprochen, gemeint ist ein umfassendes Konzept der Bedeutung des Wohnens im Alter. Wie kann eine Kommune für die vielen betagten Babyboomer von morgen lebendige, altersgemischte Stadtviertel schaffen, mit einem vielfältigen kulturellen Leben und Geschäften für den täglichen Bedarf? Die Integration von Migranten, in Bielefeld aktiv gefördert, schafft neue Win-Win-Situationen, zum Beispiel, wenn Menschen mit ausländischen Wurzeln die kleinen, verlassenen Ladengeschäfte neu eröffnen.
Tatje: "Das heißt, das Thema Nahversorgung, fußläufig zu erreichen, ist durch diese Menschen mit Migrationshintergrund, die da ihre Läden aufgemacht haben, wirklich zum Teil auch wirklich optimal garantiert. Und das finde ich auch eine Chance."
Mit der Generation der Babyboomer wird die Gesellschaft insgesamt altern - dank Medizin, gesundem Lebensstil und Wohlstand. Wie die sozialen Verhältnisse in 30 oder 40 Jahren aussehen werden, ist jedoch keine Frage der Demografie - sondern des gesellschaftlichen Ringens um die Zukunft.
Perrig-Chiello: "Vor allem müssen wir eines vor Augen halten, dass diese Babyboomer ihr Schicksal nicht einfach absitzen im Alter, sondern es proaktiv auch in Angriff nehmen. Also diese Generation, die das Alter bunt macht, polyvalent auch und individualisiert."
von Becker: "Weil es eben eine Generation ist, die, ja, in der Tat, sozial veranlagt ist, sehe ich das eigentlich ganz positiv. Solange es die Babyboomer noch gibt, wird das schon alles irgendwie funktionieren, und die werden sich irgendwie auch im Alter als Rentner selber organisieren. Wir sind viele, irgendwie kriegen wir das in den Griff. Irgendwie funktioniert das schon."