Pragmatische Zukunftsgestaltung
Die Babyboomer des Jahrgangs 1964 werden 50. Die Generation zeichnet sich durch ihre Nüchternheit und ihren Pragmatismus aus, sagt der Soziologe Tilman Allert - und sie verabschiede sich vom Zynismus.
André Hatting: 1,3 Millionen Deutsche sind davon betroffen, aus allen Schichten und Kreisen. Sportler wie Jürgen Klinsmann, Entertainer wie Hape Kerkeling, Schriftsteller wie Thomas Brussig. Frauen sind ebenfalls in sehr großer Zahl darunter, Ilse Aigner zum Beispiel. Sie alle werden in diesem Jahr 50. Na und, sagen Sie jetzt vielleicht, ich hab's doch auch überlebt. Ja, mag sein, aber der 64er-Jahrgang ist trotzdem ein besonderer – es ist bis heute der geburtenstärkste in Deutschland. Ein Rekordjahr, die Generation Babyboomer. Die hat einiges erlebt: Menschen auf dem Mond, zwei Fußballweltmeisterschaften in Deutschland, die erste sogar mit Titelgewinn. Tschernobyl, Mauerfall, 9/11 und so weiter und so weiter. Viel Stoff für viele interessante Fragen, haben wir uns gedacht, und deshalb werden wir im Deutschlandradio Kultur der 64er-Generation diese Woche widmen, im Radiofeuilleton, im Feature und natürlich hier in der Ortszeit. Wir gehen das zunächst einmal behutsam an, mit Tilman Allert; er ist Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Guten Morgen, Herr Allert!
Tilman Allert: Ich grüße Sie!
Hatting: Herr Allert, Sie untersuchen seit 30 Jahren wissenschaftlich die Deutschen und ihre Befindlichkeit. Wie geht es denn dem Jahrgang ´64 gerade so?
Freigesetzt von Zukunftsängsten
Allert: Ja, gerade so – das ist natürlich ganz schwer zu beantworten. Dieser Jahrgang ist möglicherweise der erste Jahrgang, der freigesetzt ist von den Belastungen, mit denen frühere Generationen beschäftigt waren in ihrem Selbstgefühl und in ihren Erwartungen an die Zukunft. Freigesetzt von der Beschäftigung mit den Erfahrungen der Elterngeneration in politischen Diktaturen. Das ist vielleicht das Charakteristische dieser sogenannten Babyboomer – dieser Babyboomer-Einheit.
Hatting: Warum gerade erst dieser Jahrgang, und nicht einer davor?
Allert: Man muss sich fragen, was haben die für Eltern. Bei Generationen müssen wir ja immer schauen, was haben die Eltern dieser Generation für Erfahrungen gemacht. Und dann kommt man darauf, dass die Eltern mehr oder weniger noch betroffen waren von der Kriegszeit und dann in der Nachkriegszeit in einer Art aufstiegsoptimistische Kultur sich entwickeln. Und als Bestandteil dieses Aufstiegsoptimismus – oder: Das deutlichste Zeichen dieses Aufstiegsoptimismus ist natürlich der Optimismus im Hinblick auf Familiengründungen, sodass das eigentlich ganz konsistent ist oder stimmig ist, wenn man mit diesen Erfahrungen in die Familiengründung einsteigt, ja, dann bedeutet das auch Zuversicht im Hinblick auf die eigenen Kinder und die Entwicklung dieser Kinder.
Hatting: Ist das auch der Grund, warum ausgerechnet der 64er bis heute der geburtenstärkste Jahrgang ist?
Allert: Da muss man aufpassen. Diese sogenannte Baby-Boomer-Generation, das beginnt ja früher, das ist so Mitte der 50er-Jahre und geht so bis Ende der 60er-Jahre. Das ist ja eine Kohorte, wie man das in der Soziologie nennt, eine Alterskohorte. Und dass nun die 64er nun gerade genau die Spitze abbilden, das ist eher ein statistisches Phänomen, da kann man keine besonderen Deutungen dran hängen. Also, das wäre übertrieben.
Moderator: Aber dieses statistische Phänomen hat dann in der Praxis dafür gesorgt, dass die Schulklassen voll waren, dass die Universitäten voll waren, dass also möglicherweise auch ein enormer Konkurrenzdruck geherrscht hat später dann bei diesen Vertretern der Generation. Macht das diese Menschen zu einem ganz besonderen Jahrgang?
"Ausgesprochen nüchtern oder pragmatisch"
Allert: Das würde ich überhaupt nicht sagen, weil dieser Konkurrenzdruck oder die Zumutung, sich in beruflicher Hinsicht auch zu artikulieren und vor allen Dingen erfolgreich zu artikulieren, das ist eigentlich ein Bestandteil der modernen Gesellschaft. Das jetzt dieser Generation irgendwie zuzuschreiben, dass sie in einer besonderen Weise konkurrent miteinander umgeht, da bin ich außerordentlich skeptisch. Was man sagen kann, gegenüber früheren Generationen – vor allen Dingen dieser 68er mit ihren Kulturbewegungsideen – ist, dass wir es zu tun haben mit einer Generation, die ausgesprochen nüchtern oder sagen wir pragmatisch oder jedenfalls nicht heroisch ihre eigene Zukunft gestaltet, wohingegen die frühere Generation – also, da gab es ja auch in den 20er-Jahren in Deutschland noch andere gleichermaßen heroische und auch sozialkritische Generationen. Verglichen damit ist diese Generation ausgesprochen nüchtern. Andererseits entwickelt diese Generation auch eine Bereitschaft, ökologische Themen zum ersten Mal überhaupt in die Debatte zu bringen.
Hatting: Was bedeutet das für das Erreichen der Hälfte des Lebens, also dem 50. Geburtstag? Gehen die damit irgendwie anders um? Nüchtern vielleicht?
Allert: Ja. Die Nüchternheit durchzieht das Leben dieser Generation, und man könnte auch sagen, sie verabschiedet sich auch von zynischen Wahrnehmungen der Welt. Das ist eine Begleiterscheinung, die häufig eintritt, wenn der Heroismus übertrieben wird, dann ist der Zynismus häufig auch eine Antwort darauf. Da sind die also ausgesprochen pragmatisch und akzeptieren die Lebensführung und ihre Zumutungen so, wie sie sich ihnen stellen. Also, das die jetzt irgendwie einen besonderen Grund zu feiern hätten, weil sie 64er sind oder diese Babyboomer-Generation, dafür gibt es eigentlich überhaupt keine Anzeichen. Ich meine, die sprechen sich ja auch nicht als Mitglieder dieser Generation an. Das war in früheren Generationen auch anders. Ich selber zähle zu dieser 68er-Generation, und da erlebte man es immer wieder: Das darfst du doch nicht sagen, oder wie kommst du dazu, das ist doch vollkommen unmöglich, wenn ein 68er so etwas sagt. Also, vergleichbare Gespräche kann man sich überhaupt nicht vorstellen unter diesen sogenannten Babyboomern. Das gehört vielleicht auch zu ihrer pragmatisch-nüchternen Einstellung zur Welt.
Hatting: Tilman Allert, Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, vielen Dank für das Gespräch.
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