Jahrhundertwende im Eilzugtempo

Von Mathias Greffrath · 29.06.2011
Mit der Energiewende beginnt, so sagt es Umweltminister Röttgen, ein "gesellschaftliches Pionierprojekt". Und das ist nicht zu hoch gegriffen: Dieses Land bricht, im Alleingang, in unbekanntes Gelände auf, und wie Pioniere täten wir gut daran, gründlich zu beratschlagen und auf die Karte zu blicken, bevor wir losgehen.
Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, legen Infrastrukturen und Milliardeninvestitionen des Staates und der Haushalte fest, zum Teil auf Jahrzehnte hinaus, und sie werden in unsere Lebensgewohnheiten eingreifen. Hier wird ja nicht einfach Atomstrom ausgeknipst und Erneuerbare Energie eingestöpselt.

Wie Exekutive und Parlament mit dieser "epochalen" Wende umgehen, lässt allerdings fragen, ob die Infrastruktur unserer Demokratie nicht auch Erneuerbare Energien nötig hat. Die "mangelnde Sorgfalt", das parlamentarisch "unordentliche Verfahren", ja die "Zumutung" – wie Bundestagspräsident Lammert die überfallartige Laufkraftverlängerung im letzten Herbst rügte – prägt auch den Einstieg in die neue Epoche.

Das fing an mit dem verfassungsrechtlich bedenklichen Moratoriumsdiktat der Kanzlerin nach dem Unfall von Fukushima, setzte sich mit der autokratischen Einsetzung einer "Ethikkommission" zur Legitimation des Regierungshandelns fort, und gipfelt in der Überhastung, mit der acht große Bundesgesetze und ebenso viele Verordnungen jetzt durchs Parlament gejagt werden.

Die Abgeordneten hatten gerade drei Wochen, um sich durch Tausende Seiten von Referentenentwürfen zu graben, die Verbände sollten ihre Argumente in zwei, drei Tagen vorbringen. "Pfusch am Bau", "unverantwortlich" murrten Spitzenbeamte, die Gesetzentwürfe im Stundentakt auswerfen mussten.

Wozu diese Eile? Schließlich geht es nicht um die siebte Novelle der achten Anpassungsverordnung zur Laufbahneinstufung von Bundesbeamten, sondern, so der FDP-Generalsekretär Lindner, um ein Projekt von der Größenordnung Mondflug.

Gut, mit Hunderten von technischen Details muss sich das Parlament sicher nicht befassen, aber Pioniere sollten wenigstens einen Kompass dabei haben, um die grobe Richtung zu bestimmen: Soll die Energiearchitektur, aufs Ganze gesehen, zentral oder dezentral sein? Großtechnisch, mit Windparks in den Meeren und Höchstspannungsleitungen über Tausende von Kilometern – oder soll sie auf einem beschleunigten Ausbau der dezentralen Anlagen und Umbauten ruhen, der im letzten Jahrzehnt Deutschland an die Spitze des postfossilen Fortschritts katapultierte? Es ist eine Alternative, die auch darüber entscheidet, wer die Gewinner und wer die Verlierer der Wende sind.

Die Einstiegsgesetze müssten schnell beschlossen werden, sagt der Umweltminister, damit die Lobbys keine Chance haben. Das ist nun eine deutliche Feststellung über den Zustand der repräsentativen Demokratie. Die Abgeordneten, sagt Parlamentspräsident Lammert, verfügen nur in "mikroskopischen Größenordnungen" über die personellen und organisatorischen Mittel, um ein Gegengewicht zum Druck der Lobbys zu bilden. Aber ebenso sind sie den überfallartigen Vorgaben der Exekutive ausgeliefert, die ihrerseits notorisch anfällig ist für Interessendruck.

Beispiele gefällig? Gesundheitsreform, Riesterrente, Abgasverordnungen, Steuergeschenke für Hoteliers, ganz zu schweigen von den in die Hunderte Milliarden gehenden Verpflichtungen der Banken- und Staatenrettung, die die Regierung freihändig eingeht – auch hier musste der zweite Mann im Staat gerade die Alarmglocke läuten, um die Rechte der Abgeordneten einzufordern.

Getrieben von einer Regierung, die ein leidiges Thema vom Tisch haben will, berät das Parlament nun in höchster Beschleunigung das größte Infrastrukturvorhaben der letzten 50 Jahre. Not täte demnächst eine Sitzungswoche, in der unsere Abgeordneten gründlich über nichts anderes beraten als über die neue Prozeduren, die der Komplexität der Wissensgesellschaft, dem gewachsenen Tempo und der Souveränität der Volksvertreter gleichermaßen gerecht werden. Über den beschleunigten Einstieg in eine Erneuerung der demokratischen Energien.

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für "Die Zeit", die "taz" und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen: "Montaigne – Leben in Zwischenzeiten" und das Theaterstück "Windows – oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen?". Mathias Greffrath lebt in Berlin.
Mathias Greffrath
Mathias Greffrath© Klaus Kallabis
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