Jahrmarkt der Eitelkeiten

Von Reinhard Mohr |
Früher war das so: Der Kritiker ging in die Theaterpremiere, ins Kino oder in die neue Ausstellung, schaute sich die Sache an, ging nach Hause und schrieb seine Rezension für die Zeitung. Die erschien am darauf folgenden Tag, und so erfuhren die Leser rasch, was von dem neuen Stück oder dem neuen Film zu halten war. Jedenfalls aus Sicht des Kritikers.
Diese Zeiten sind vorbei. Heute haben die Leser, Radiohörer und Fernsehzuschauer das Gefühl, den Film oder das Stück schon auswendig zu kennen, bevor überhaupt die Premiere stattgefunden hat. Wenn die gute alte Kritik erscheint, wirkt sie wie ein beckmesserischer Nachzügler, wie ein anachronistisches Anhängsel des gigantischen Werbe- und PR-Feldzuges, in dem längst schon alles und nichts gesagt worden ist. Wer will da noch ein ästhetisches Urteil hören?

Das gilt vor allem fürs Kino. Gerade haben wir die Uschi-Obermaier-Festspiele erlebt, so als ob 40 Jahre später die "Kommune 1" wiederauferstanden wäre, samt ausgehängten Klotüren und Dieter Kunzelmanns Orgasmusschwierigkeiten. Davor galt es, die "Adolf-Hitler- und Helge-Schneider"-Wochen zu überstehen und endlos darüber zu diskutieren, ob man über den "Führer" lachen dürfe oder nicht.

Im vergangenen September, kurz vor dem Megahype von "Deutschland ein Sommermärchen", wurden wir pausenlos mit schwer aufdringlichen Parfümwolken bombardiert. Praktisch niemand konnte sich vor der Allgegenwart der fünfzig Millionen Euro schweren Eichinger-Produktion retten, und wie in Trance strömten die Menschen schließlich in "Das Parfüm".

Der originellste PR-Gag blieb allerdings Günter Grass vorbehalten. Die Enthüllung seiner SS-Mitgliedschaft beim Häuten der Zwiebel war der finale Donnerhall eines monatelangen Reklame-Getrommels "im Vorfeld", wie es hier einmal militärisch korrekt heißen darf.

Fest steht: Der multimediale Overkill ist zum Normalfall geworden. Um für das jeweilige Kulturprodukt die größtmögliche Aufmerksamkeit zu erzielen, beginnen die Marketing-Strategen, PR-Manager und Presseoffiziere schon Monate vorher damit, aus dem neuen Film ein "Event" zu machen, das die Nation bewegt.

Schon zu den Dreharbeiten werden ausgewählte Journalisten eingeladen. Erste Vorab-Berichte vom "Set" sorgen für ein frühzeitiges Gemurmel auf den bunten Seiten. Lange vor dem Kinostart beginnt ein fein abgestimmter Interviewmarathon in Zeitungen und Zeitschriften mit Regisseur, Produzent und Hauptdarstellern, orchestriert von aufbereiteten Anekdoten und Histörchen, Rück- und Ausblicken, Promi-Umfragen und tollem Merchandising sowie dem parallel erscheinenden Buch zum Film samt Soundtrack auf CD, MP3 und DVD.

Taktisch präzise eingefädelte Talkshowauftritte bei "3 nach 9", "Kerner, Beckmann" und "Christiansen" bilden den letzten Zangenangriff aufs Publikum, das davon überzeugt werden muss, dass es derzeit absolut nichts Wichtigeres gibt auf der Welt als die letzten Tage im Führerbunker vor über 60 Jahren und die Frage, warum Uschi Obermaier mit 60 immer noch besser aussieht als kettenrauchende 35-jährige Webdesigner der Generation Golf.

So ist es kein Wunder, dass ein Redakteur der ZDF-Kultursendung "aspekte" eine Woche vor dem Start des Obermaier-Films "Das wilde Leben" im Kollegengespräch sagte: "Wir machen da nichts mehr. Die Uschi ist durch."

Und so heißt es immer häufiger: Die Uschi, der Führer, das Parfüm, die sind durch - obwohl es noch gar nicht richtig angefangen hat.

Die schrillen Stalinorgeln der PR arbeiten gründlich. Wer da zu spät kommt mit seinen kritischen Anmerkungen, der ist selber schuld. Beim Schuh des Manitu: Die "Box Office", die die Zahl der Kinozuschauer misst, hat das letzte Wort. Und alle machen mit, auch der Kritiker der Kritiker.

Unlängst erzählte der führende Filmkritiker einer führenden deutschen Zeitung vom Tagesbefehl seines Vorgesetzten, der natürlich mit dem führenden deutschen Filmproduzenten befreundet ist: Er möchte, bitte sehr, keine "negative Kritik" zum neuen Film des führenden deutschen Filmproduzenten im Blatt haben - schon gar nicht im hochempfindlichen "Vorfeld".

Und so kam es, dass der Kritiker, wie alle anderen Kollegen, zähneknirschend das Feld den bunten PR-Zerstäubern mit der besonderen Duftnote überließ. Der Rest ist Service am Publikum.

Jüngst beschwerte sich der Filmproduzent Günter Rohrbach, zugleich Präsident der Deutschen Filmakademie und Aufsichtsrat bei Eichingers "Neuer Constantin", über die deutsche Filmkritik. Sie versage schändlich an der großen Aufgabe, dem anständigen deutschen Film Zuschauer "zuzuführen".

Wenn das neuerdings die vornehmste Pflicht der Filmkritik sein soll: Keine Angst, Herr Rohrbach, das wird schon. Wir sind auf dem besten Wege.


Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für Spiegel Online. Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "SPIEGEL". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Letzte Buchveröffentlichungen: "Das Deutschlandgefühl" und "Generation Z". Mohr lebt in Berlin-Mitte.