Jaime Begazo: "Die Zeugen"

Im Labyrinth der Literatur

Buchcover zu Jaime Begazo: "Die Zeugen"
Minikrimi mit Anleihen bei Jorge Luis Borges: "Die Zeugen" von Jaime Begazo. © Kupido/Deutschlandradio
Von Thomas Wörtche |
Auf den Spuren von Emma Zunz: Der peruanische Literaturwissenschaftler Jaime Begazo hat mit "Die Zeugen" einen raffinierten Kriminalroman zweiter Ordnung geschrieben, der auf einer Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges basiert.
"Die Zeugen", ein eher schmaler Kurzroman des peruanischen Literaturwissenschaftlers und Borges-Spezialisten Jaime Begazo, ist ein vergnüglicher, kleiner Beleg für die oft vergessene Tatsache, dass Literatur immer auch aus und gegen Literatur entsteht.
In diesem Fall trifft ein echter, aber fiktiver Jaime Begazo den echten, aber fiktiven Jorge Luis Borges 1986 (also kurz vor dessen Tod) in einem reichlich düsteren Genf, um mit ihm über "Emma Zunz" zu reden, eine der finstersten Geschichten aus Borges’ Zyklus "Das Aleph". In dieser Story fällt einmal, anscheinend an marginaler Stelle, der Name Milton Sills. Bis auf diese eine Stelle war von Milton Sills nie die Rede, und er wird auch nie wieder erwähnt werden. Auch im Gesamtwerk von Borges gibt es ansonsten keinen Milton Sills.
So gesehen ist "Milton Sills" recht eigentlich ein "unnützes Detail" im Sinne von Roland Barthes, durch das einerseits die übrigen, funktionalen Elemente einer Erzählung zusammengehalten werden und durch die zudem der "rätselhafte Charakter jeder Beschreibung" hervortritt.

Borges spricht in Rätseln

Die Figur Emma Zunz in Borges Geschichte rächte sich grausam an dem Mann, der ihren Vater in den Tod getrieben hatte. Sie entwirft einen minutiösen Plan, um mit dem Mord ungestraft davonzukommen und sichert sich, sozusagen, ethisch-moralisch ab – mit einem für sie extremen "Opfer", das – ganz im Einklang mit dem Kosmos von Borges – eher bizarr anmutet. Irritiert über die beiden Wörter "Milton" und "Sills" und eine literaturhistorische Sensation erhoffend, versucht der Begazo des Romans eine ganz neue Geschichte über Emma und eben jenem unbekannten Mann aus dem vorgeblich zögerlichen Roman-Borges beinahe inquisitorisch herauszufragen.
Borges weicht aus, spricht in Rätseln, wie man es von ihm erwarten kann, bevor er peu à peu die Emma-Zunz-Geschichte als von ihm persönlich erlebte Episode in Buenos Aires erzählt, die er, zusammen mit seinem Bekannten Milton Sills, der ein glühender, wenn auch schüchterner Verehrer von Emma ist, beobachtet hat.

Kriminalroman zweiter Ordnung

Borges als Realist? Der Großmeister der fiktionalen Labyrinthe erzählt eine schmutzige, naturalistische Geschichte aus dem Hafen- und Arbeitermilieu am Rio de la Plata? Und lässt dann nur noch als Beglaubigungszertifikat den Namen "Milton Sills" übrig? Hat Borges den aufdringlichen und ehrgeizigen Exegeten Begazo, der einen Coup in der weltweiten Borges-Auslege-Industrie landen will, an der Nase herumgeführt?
Wie schön also, dass auch in diesem Fall "Eindeutigkeit" und "Borges" nicht zusammen gehen, egal, wie man’s dreht und wendet. Insofern ist "Die Zeugen" eine Art Kriminalroman zweiter Ordnung. Und so etwas macht einfach Spaß, wenn es so gut gemacht ist wie hier.

Jaime Begazo: "Die Zeugen"
Aus dem peruanischen Spanisch von Frank Henseleit
Kupido Literaturverlag, Köln 2020
122 Seiten, 18,80 Euro

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