Keine Hoffnung auf Erlösung
Statt in Kitsch und Pathos zu verfallen, zieht Andrea Breth mit ihrer neuen Inszenierung die Zuschauer der Stuttgarter Oper in einen Sog der Brutalität. Die auf Georg Büchners Novelle basierende Kammeroper "Jakob Lenz" fasziniert in jeglicher Hinsicht.
Manchmal braucht es keine großen Worte. Dieser Stuttgarter Opernabend ist einfach perfekt. Brillant dirigiert und gesungen, intensiv inszeniert und vom Publikum derart frenetisch bejubelt, als ob selbiges gerade eine Silvestervorstellung der "Fledermaus" erlebt hätte. Das Thema von "Jakob Lenz" ist freilich ausschließlich trist und tragisch. Michael Fröhling schuf aus Georg Büchners Novelle, Gedichten und Briefen sowie den Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin ein mit Rihms Musik ideal harmonierendes Libretto. Der damals noch junge Komponist verknüpfte schroffe Schläge mit geisterhaften Chorälen, zitterndem Cembalo-Glitzern, markerschütterndem Schmerzgesang und rhythmisch unruhigen Orchesterreflexionen.
Ein halbnacktes Bündel Mensch fällt vom Himmel
Georg Nigl ist für die Titelpartie eine Idealbesetzung, er spielt und singt noch jede feinste, zuckende und züngelnde Verästelung mit größter Emphase. Auch Henry Waddingtons Oberlin macht seine Sache gut, wobei die Stimme vielleicht etwas zu rau klingt, was allerdings zu Andrea Breths Sicht des Pfarrers als recht kühlem Zeitgenossen passt. John Graham-Hall überzeugt als Kaufmann – Kaufmann ist eigentlich Freund und Ratgeber des Verzweifelten, bei Breth wird er zum eher distanzierten Arzt. Am Pult des elfköpfigen Stuttgarter Staatsorchesters sorgt Franck Ollu für ein genaues Klangbild.
In Martin Zehetgrubers unheimlich dunklen Bühnenkasten stürzt anfangs ein halbnacktes Bündel Mensch vom Himmel herab: Lenz. Er wird von einem Schauspieler gedoubelt, auch bei einigen nur angedeuteten Quälszenen erscheint Lenz Nummer zwei. Was die Erzählperspektive betrifft, so ändert diese Verdopplung wenig, entscheidender ist Breths Umgang mit den sechs Vokalsolisten, die meist als Lenz' innere Stimmen auftauchen. Breth zeigt sie mal als Selbstmordkandidaten, mal als Passanten, mal als Studenten. Oft bleiben diese Randfiguren wirklich am Rand und singen meist reglos, wie erstarrt.
Auch die Partitur überzeugt
Die Spielräume sind dabei weit gefasst und verändern sich rasch. Lenz wimmert zum Beispiel in einem großen Regal kauernd, plötzlich findet er sich in einer Art Kafka-Büro wieder, dann in einer merkwürdigen Schule, später im Hospital. Immer neu drapierte, schwarze Findlinge, ständig irgendwo hin fließendes Wasser sowie kleine brutale Momente oder Lenzens vergeblicher Versuch, ein kleines totes Mädchen wieder aufzuwecken, lassen einen Sog entstehen, der uns schlicht den Boden unter den Füßen wegzieht. Andrea Breths Hang zu Düsterniskitsch und übertriebenem Pathos fehlt hier erfreulicherweise fast gänzlich.
36 Jahre nach der Uraufführung überzeugt übrigens auch die Partitur des "Jakob Lenz" ohne Einschränkung. Blickt man auf Wolfgang Rihms heutiges Schaffen, seine in immer schnellerem Tempo hingeschriebenen Werke mit ihren oft leerlaufenden Klangströmen, so möchte man dem Allpräsenten raten, sich mal wieder genauer mit seinem Frühwerk zu befassen, es könnte sich lohnen – für ihn und für uns.