Jakub Małecki: "Saturnin"

Wenn der Krieg nicht aufhört

06:05 Minuten
Das Cover des Buchs "Saturnin" von Jakub Małecki.
© Secession

Jakub Małecki

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall

SaturninSecession, Berlin 2022

268 Seiten

25,00 Euro

Von Irene Binal |
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Als der Großvater plötzlich vor seinen Erinnerungen in den Wald flieht, holt ein längst vergangener Krieg die Gegenwart ein. Jakub Małecki erzählt von verdrängten Gräultaten, von vererbten Traumata und der jüngeren polnischen Geschichte.
Es gibt Bücher, die lang nachwirken und die eigene Sicht auf die Welt verändern können. Solch ein rares Kleinod ist „Saturnin“ des polnischen Autors Jakub Małecki - ebenso Familiengeschichte wie Kriegsdrama und angesichts des Ukrainekrieges bedrückend aktuell.
Saturnin ist ein alleinstehender Handelsvertreter. Er hadert mit seinem, wie er meint, „idiotischen Vornamen“, mit den Sommersprossen, die seinen ganzen Körper bedecken, mit seinem Übergewicht (geschuldet seiner Liebe zu Süßigkeiten) und mit der Einsamkeit.

Geister der Vergangenheit

Dann erhält er einen Anruf seiner Mutter, die ihm mitteilt, dass ihr 96-jähriger Vater Tadeusz, Saturnins Großvater, mitsamt ihrem Auto verschwunden ist. Saturnin reist in das Dorf seiner Kindheit, um seiner Mutter bei der Suche zu helfen.
Tatsächlich finden sie den Vermissten am Ufer des Flusses Bzura, im Schlamm liegend, aber lebendig. Was ist hier passiert? Wovor ist Tadeusz plötzlich geflohen? Warum hat er seine geliebte Trompete im Wald vergraben und wer ist Irka, von der er immer wieder spricht?

Kriegstraumatisierter Großvater

Die Antworten auf all diese Fragen liegen in der Vergangenheit. Als Tadeusz endlich zu erzählen beginnt, entspinnt sich ein Drama um Gewalt und Rache, das 1939 mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen beginnt und bis in die Gegenwart nachwirkt.
All das schildert Małecki in einer eindringlichen Prosa und aus unterschiedlichen Blickwinkeln, in denen er die Geschichte der Familie detailliert nachzeichnet. Nicht nur Tadeusz‘ Kriegserinnerungen schildert er so, sondern auch die unglückliche Ehe von Saturnins Mutter Hania mit dem attraktiven, aber depressiven Witold und Saturnins Jugend, in der er seine quälenden Selbstzweifel mit exzessivem Gewichtheben zu bekämpfen sucht und vergeblich auf die Anerkennung seines Vaters hofft.

Jüngere polnische Geschichte

Es ist ein Roman, in dem die jüngere polnische Geschichte ganz nah erscheint; ein Roman um einen einfachen Mann, laut Eigendefinition „der schlechteste Soldat der Welt“, den die Gräuel des Krieges zum Rächer machen, um Kriegstraumata, die noch zwei Generationen später ihre bittere Wirkung entfalten.
Mit viel Empathie, großem psychologischem Feingefühl und klarem Blick skizziert Małecki seine Figuren, haucht ihnen Leben ein, spinnt seine Fäden durch mehrere Jahrzehnte und bleibt dabei ganz unprätentiös: Er benötigt keine ausschweifende Prosa, keine kunstvollen Sprachspielereien und gerade mal 268 Seiten, um ein Panorama zu entwerfen – bewegend, schlicht, gleichzeitig vielschichtig und  konzentriert. „Saturnin“ vermittelt die beklemmend aktuelle Botschaft, dass ein Krieg, auch wenn er zu Ende geht, noch lange nicht vorbei ist.

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