Jamaica Kincaid: "Mister Potter"

Mein Vater, der lebenslang Abwesende       

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Cover zu Jamaica Kincaid: "Mister Potter"
Literatur als selbstbewusste Revanche: "Mister Potter" von Jamaica Kincaid. © Deutschlandradio / Kampa Verlag
Von Marko Martin |
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Jamaica Kincaid erzählt eine Familiengeschichte  von der Karibikinsel Antigua, die auch durch die Nachwirkungen der Sklaverei  geprägt ist: Suggestive Prosa statt wohlfeiler Trost. Höchste Zeit, diese Autorin auch in Deutschland zu entdecken.
Weshalb beginnt ein Roman auf durchaus irritierende Weise mit einem "und"? "Und an jenem Tag stand die Sonne dort, wo sie auch sonst stand, hoch oben und mitten am Himmel, doch Mr. Potter bemerkte es nicht, so sehr war er daran gewöhnt, die Sonne dort zu sehen, wo sie auch sonst stand, hoch oben und mitten am Himmel."

Schwerenöter ohne menschliche Eigenschaft

Routine von Natur und menschlicher Existenz, in die sich die Ich-Erzählerin quasi hinein schlängelt – ihr "und" beschreibt Kontinuität und gleichzeitig das, was sie selbst dem Gängigen noch unbedingt hinzufügen muss. Jener wie bewusstlos durchs Leben tappende Chauffeur Mister Potter ist nämlich ihr Vater, geboren 1922 auf der Karibikinsel Antigua und dortselbst siebzig Jahre später gestorben. Jamaica Kincaids autobiographischer Roman besteht jedoch nicht aus konventionellen Erinnerungen, sondern wagt ungleich mehr: einen ihr beinahe völlig Unbekannten, ja Unsympathischen zu Literatur formen in einem Akt des Aufbegehrens.
Denn jener Mr. Potter, analphabetischer Sohn eines an Hunger und Armut zugrunde gegangenen Fischers und einer Mutter, die das Kind weggab, ehe sie selbst "ins Meer ging", war ein Schwerenöter ohne jegliche Leidenschaft. Dutzende Kinder, allesamt Mädchen, hat er von verschiedenen Frauen, und allein die Tatsache, dass sie alle die gleiche fleischige Nase von ihm geerbt haben, verschafft ihm so etwas wie die Illusion, wirklich zu existieren und nicht nur ein Schemen zu sein.

Eingesperrt in einen Kokon

Die Ich-Erzählerin ist erst sieben Monate alt und befindet sich noch im Bauch ihrer Mutter, als diese beschließt, jenen seelisch abgestumpften Mr. Potter zu verlassen. Das Kind bekommt den Namen Elaine (nach der kurzzeitig bewunderten Tochter von Mister Potters Arbeitgeber, einem eingewanderten syrischen Kleinunternehmer), doch auf der Geburtsurkunde gibt es statt dem Namen des Vaters nur einen waagerechten Strich. Dass dieser jedoch gleichsam durch Elaines ganzes Leben hindurch geht, beginnt sie erst später zu begreifen. Da hat freilich die 1949 auf Antigua Geborene längst ihre Mutter und auch die kleine Insel verlassen, hat sich unter dem Namen Jamaica Kincaid quasi neu erfunden und in den Vereinigten Staaten eine Familie gegründet, lehrt in Harvard und ist inzwischen seit Jahrzehnten eine renommierte Schriftstellerin.
Und beschreibt im Roman "Mister Potter" – kompakt, suggestiv und mitunter beinahe schon in biblischer Diktion – die Abfolge der Geschlechter als hoffnungslose Mechanik, der erst sie, die zu lesen und zu schreiben gelernt hatte, zu entkommen vermochte – freilich unter einem hohen Preis. War doch die einzige Begegnung mit ihrem Erzeuger, aus der Distanz von Jahrzehnten dem Vergessen entrissen, ein schmerzhaftes Einander-Verfehlen gewesen: "Ich habe nur eine schwache Erinnerung an ihn, wie er mich ignorierte, als ich auf der Straße an ihm vorbeiging, wie er mir die Tür vor der Nase zuschlug, als ich geschickt wurde, um ihn um Geld für Schreibpapier zu bitten." Anstatt jedoch in Anklage zu verharren, evoziert sie imaginäre, doch höchst plausible Bilder: Mister Potter als Kind und als Erwachsener, eingesperrt in einen Kokon, den er auch deshalb nie hinterfragt, weil ihm schlicht die Worte dafür fehlen.

Auf jegliche Rhetorik verzichtende Prosa

Die Vorfahren jenes Mister Potter und ihrer Mutter waren einst als afrikanische Sklaven auf die Karibikinsel verschleppt worden, aus allen familiären Bindungen herausgerissen und zu Objekten gemacht, über Generationen hinweg. Wie dieses Erbe noch Jahrhunderte später Menschen paralysiert, beschreibt Jamaica Kincaid in einer dringlichen, dabei auf jegliche Rhetorik verzichtenden Prosa, deren häufig verwendetes "und" Chronik und Widerstand zugleich ist.
Denn, so fragt die unversöhnte Tochter, hätte nicht womöglich auch jener Mister Potter wie so viele andere die Energie finden können, dem Muster des Repetitiven zu entkommen? "Und es sind meine eigenen Worte", insistiert Jamaica Kincaid in ihrem unverwechselbaren Duktus, "und auf diese Weise erzeuge ich Mr. Potter und auf diese Weise beseitige ich ihn auch, und abgesehen davon, dass er jetzt tot ist, kann er das Bild, das ich hier von ihm wiedergebe, nicht beeinflussen." Literatur als selbstbewusste Revanche anstatt als wohlfeiles Trostpflaster: Was für ein Buch!

Jamaica Kincaid: "Mister Potter"
Aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube
Kampa, Zürich 2021
220 Seiten, 22 Euro

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